Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Oesterreichisches Central-Organ für Glaubensfreiheit, Kultur, Geschichte und Literatur der Juden, 24.03.1848, S. 77f & 89f

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Die Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin;

und uns ist keine Hilfe gekommen.

Jeremias VIII. 20.

 

Uns ist keine Hilfe gekommen! Die Sonne der Freiheit ist für das Vaterland aufgegangen, für uns nur als blutiges Nordlicht; die Lerchen der Erlösung schmettern in freier Luft; für uns sind es nur kreischende Möven des Sturmes. Schamröthe und bebender Zorn überwältigen uns, denken wir an das Fürchterliche, an das Haarsträubende, was uns die letzten Wochen angethan! Weil knechtische Horden und krämerische Häringsseelen den Geist der Freiheit nicht verstanden und verstehen, müssen wir es büßen. Da sei Gott dafür, daß wir unser Haupt für jeden Keulschlag bereit halten, daß unser Auge vor jedem Blitze unserer großen und kleinen Tyrannen erzittere! Dahin ist es gekommen, daß in der Stunde, die uns die Freiheit ins Land gebracht, kein anderer Wunsch in uns ist, als: dieser – Freiheit aus dem Wege zu gehen!

Sie wollen es nicht anders und so sei es! Nicht das erste Mal ist es, daß wir ihrem Willen nachgeben. Seit Jahrhunderten ist unsere Geschichte nichts Anderes, als ein stummes Bejahen auf jede uns aufgelegte Qual, auf jede Folter und Beschränkung! Aber immer bejahen, immer den Kopf neigen? Den Nacken krumm behalten und die Hände wie zum Gebete gefaltet? Wir wollen einmal mit Erlaubnis des »souveränen Volkes« die Geduld verlieren, wir wollen einmal verneinen – und dann aus dem Wege gehen!

Nach Amerika nämlich! Erkennet, die ihr das Wesen der Geschichte nicht verstehet, darin ihren Fingerzeig, daß vor vier Jahrhunderten eben als man die Juden am heftigsten verfolgte, ein Ge- nuese in seinem heißen Gehirne den Schöpfergedanken einer neuen Welt aushecken mußte, daß es ihm nicht Ruhe gönnte, bis eine spanische Königin, deren Gemal die finstere Gestalt eines Torquemada und seiner mit dem Blute tausender unserer Brüder befleckten Dominikaner heraufbeschworen, bis, sagen wir, Isabella von Spanien ihrem Admiral erlaubte, Amerika zu entdecken. Nach demselben Amerika geht nun unsere Sehnsucht, dahin sollet ihr ziehen! »Auf, nach Amerika!«

Wir kennen alle eure Einwände, alle eure Erwiederungen! Aber nur der Kleingläubige und Schwachmüthige werden sie thun, der Muthige, der Gefaßte nicht! Und keinen anderen Rath könnt ihr uns geben, fragen jene, als den Wanderstab zu ergreifen und mit Weib und Kind das ferne, fremde Land aufsuchen? Die Scholle, die uns geboren, genährt, darin wir unsere Todten begraben, sollen wir verlassen? Mich dünkt, schon etwas von den Fleischtöpfen Ägyptens zu hören, von den Goldbrühen und Saftbraten den Brodem einzuathmen – aber ich sehe auch die Leute, die das Feuer schüren, und aus den Flammen des Hasses, des Vorurtheils und der Beschränktheit sein tägliches Gericht holen, bei Gott, wem darnach der Gaumen steht, der bleibe und füttere sich!« –

Zwei Sätze sind es, die in dieser Zeit uns als Ausgangspuncte dienen können. Den einen sagt Moses: »Stehet fest und still;« den andern Jeremias: »Die Ernte ist vergangen und der Sommer ist dahin und für uns ist keine Hilfe gekommen.« Welchem Satz gebt ihr dem Vorzug? Stillstehen und harren, geduldig harren, bis alle uns widerstehenden Interessen versöhnt und gesühnt, bis der Geist der Humanität Sieger geworden? oder, da »uns keine Hilfe gekommen« sie uns aufsuchen – und nach Amerika ziehen?

Mich dünkt, die beiden Sätze lassen sich gar wohl vereinigen! Mögen diejenigen in unserem Vaterlande, die »fest, still stehen« wollen, diesen Standpunct in den Sand der Zukunft gründen! Wir wollen sie daran nicht hindern, wir wollen ihnen selbst Bausteine dazu liefern. Aber den Andern, den Bedrückten und Bedrängten, den Verjagten und Verarmten und Geplünderten in den bekannten Gemeinden, allen, denen die »Freiheit« Unheil gebracht, allen, denen das Herz sagt: noch lange nicht werden wir Ruhe genießen im Vaterlande, wir können uns sobald nicht ändern, sie auch nicht, Jahrzehende sind nothwendig, um die ersten Vorbereitungen des Friedens zu treffen, allen diesen sagen wir: für uns ist keine Hilfe gekommen. Suchet sie im fernen Amerika auf!

Der Gedanke ist nicht neu. Wir wissen es; aber er ist dafür praktisch. Schon vor längerer Zeit hat man Rothschild die Ehre erweisen wollen, als Gevatter diesem Gedanken zu stehen. Er hat die Ehre nicht angenommen – aber wozu Rothschild? Warum nicht auswandern ohne Rothschild? Dem Bedürfnis auszuwandern, der Nothwendigkeit fortzuziehen, kann Rothschild keinen Vorschub thun; er kann unterstützen, forthelfen, Mittel sein. Aber den Zweck, den müßt ihr ohne Rothschild suchen. Ihr werdet unterstützt werden, die ihr bedürftig seid – aber dies ist Mittel und nicht Zweck. Die Auswanderung, die Gründung eines neuen Vaterlandes, die augenblickliche Er- ringung der Freiheit ist Zweck!

Was ihr in Amerika thun werdet, das gehört nicht in die Zeilen dieses Aufrufs. Es soll nur ein Nothsignal, eine Lärmkanone oder wenn ihr wollt ein Musikton in dieser wildgestörten Zeit sein. Werdet Ackerbauer, Handelsleute oder Handwerker, Hausierer oder Mitglieder des Waschingtoner Kongresses, Wechselagenten oder Vicepräsidenten des nordamerikanischen Freistaates, werdet Baumwollpflanzer oder Zuckerraffineurs, das geht Euch, aber nicht uns an. Auch in dem Euch zugewiesenen Vaterlande wird Euch Niemand darum befragen; denn dort gilt der Mensch was er ist, und er ist, was er vorstellt. Vor Allem aber werdet frei und geht nach Amerika!

Tausende haben diesen Schritt vor Euch gethan und thun ihn noch! Verhältnismäßig haben ihn noch Wenige bereut. Über Euch wird der Gott Eurer Väter wachen. Er wird Euch sicher über die Fluten des Meeres, über die ersten Drangsale eines neuen Lebens geleiten! Mir ist nicht bange um Euch! Gerade ihr besitzet die Eigenschaften und Tugenden: Umsicht, Nüchternheit, Sparsamkeit, Zucht und Anhänglichkeit, die dort Euer Gedeihen und Euren Wohlstand aufbauen werden. Andere sind dort verfallen und verkommen, aber ihr werdet blühen und wachsen; mit Euch wird der Gott der Freiheit sein!

Im Geiste grüße ich schon Eure Kinder, die Kinder der Freigewordenen. Salem Alechem!

Aber helle Glut durchströmt mich, denke ich an die frei gebornen Kinder, denke ich an die Mütter, die sie Euch darbieten.

Darum, mitten durch die Gräuel der letzten Wochen, durch die Reihen der Euch Auflauernden, Verjagenden und Bedrängenden der »Freiheit eine Gasse« und auf, nach Amerika! *)

L. Kompert.

*) Eben während dieser Aufsatz zur Presse kömmt, lesen wir aus Pesth: Es hat sich in Folge der neuesten Zeitwirren ein Verein zur Auswanderung nach den vereinigten Staaten Nordamerikas gebildet, welcher zwar größtentheils Bekenner des mosaischen Glaubens, aber auch sehr viele christliche Professionisten und Techniker als Mitglieder zählt.

Auf, nach Amerika.

II.

Im Drange des Augenblickes, wohl auch unter dem Einfluss der von allen Seiten wie Keulschläge aufeinander schmetternden Ereignisse haben wir unsern Aufruf, das Land der Unfreiheit und der Sorge zu verlassen und die transatlantische Heimat aufzusuchen, an alle Verjagten und Bekümmerten in Israel erlassen. Es war vielleicht, indem wir dieses thaten, nur ein instinktmäßiges Antwortgeben auf die Fragen so mancher gedrückten Seele, in der das: »Fort, fort!« wie ein unge- duldiger Gläubiger pocht. War die Antwort aber eine richtige? Zeugt es überhaupt von einem rich- tigen Erkennen der Zeit, wenn wir zur Auswanderung rathen? Die Bewegungen und Stürme dieses Jahres gehen so ins Maaß- und Endlose, daß selbst die weit sehende Berechnung eines trefflichen Verstandes verwirrt und unklar wird. Für nichts läßt sich einstehen; selbst der Haß, selbst das Vorurtheil und die Beschränktheit können es sich nicht verbürgen, ob nicht die Judenfrage trotz ihrer Opposition heute oder morgen eine unerwartet günstige Wendung nimmt. Ja wir, die den Aufruf: »Nach Amerika!« gethan, wir leben der sichersten Überzeugung, daß die kürzeste Zeit über unsere Emanzipation den entscheidend höchsten Wurf gethan haben wird!

Dennoch stehen wir keinen Augenblick an, den Ruf: »Auf, nach Amerika!« dringender als je zu wiederholen. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eben die Lösung der Judenfrage eine so ungewisse ist. Zehn tausend Menschen, die durch ihren Auszug nach Amerika alsogleich sich die Freiheit erringen, sind für uns ein größerer Gewinn, als wenn Hunderttausende noch Jahre lang ohnmächtig oder zähneknirschend sich in Sehnsucht und Drang verzehren. In Büchern, in Romanzen und Legenden nimmt sich das gar schön aus, wenn Einer dem Andern zu Gefallen seine Freiheit ausschlägt, sich, ihm zu Gefallen, einsperren und abhungern läßt, mit ihm seufzet und klagt. In der Wirklichkeit erscheint so etwas als krankhafte Empfindelei, wenn nicht als Verbrechen. Ein Mensch, der frei werden kann, begeht das größte Unrecht, wenn er es nicht wird; ein frei gewordener Mensch ist ein Gewinn, der sich auf hundert, ja auf tausend Menschen vertheilt; die Ausrede, mit leiden zu wollen, wo andere leiden, hat keine Geltung und verräth Feigheit. Wer die Initiative der Freiheit ergreift, nützt mehr, ist zugleich Fahnenträger für tausend Andere! Und von diesem Gesichtspunkte aus wiederholten wir, nach reiflicher Überlegung, unsern Ruf: »Auf, nach Amerika!«

Das ist aber nur die eine, und gewiß nicht. die bedeutungsloseste Seite der Auswanderung Die nämlich: Den Muth der Zurückbleibenden zu stärken, ihnen mit dem Beispiele voranzugehen nicht etwa ebenfalls auszuwandern, aber die Freiheit zu erringen. So furchtbar haben sich unsere Verhältnisse gestaltet, so wenig hat sich noch die Lage geändert, daß wir die Verlierenden und Verlusttragenden, selbst da, wo wir Tausende unserer Brüder in ungewisse Weiten, zum Kampfe mit den Entbehrungen und Drangsalen eines neuen Lebens müssen ziehen lassen, daß wir selbst da auf Gewinn hoffen – den Gewinn unserer Freiheit. Oder ist dem nicht so?

Diese Seite der Auswanderungsfrage schrumpft aber beinahe zu einer unwesentlichen zusammen, im Hinblicke auf die wirklich Freiwerdenden. Ohne alles Zuthun, bloß durch die Gewalt des selbsteigenen Willens erhält hier unsere Emancipationssache eine Lösung, wie sie unter den gegenwärtigen Zuständen sie nicht zu hoffen hat. Mit einem Male frei werden, ohne alles Hinhalten, ohne parlamentarisches Für und Wider, ohne Sympathien und Antipathien, gleich und auf der Stelle, sobald das Schiff seine Anker wirft und der Ocean seine Scheidungsmauer abgrenzt. Sagt das doch diesen Leuten, sagt das alle den Verkümmerten und Trauernden, daß sie mit Vertretung des transatlantischen Bodens alsogleich freie Menschen, Bürger eines freien Staates sind, erhebt ihre Seelen mit diesem Klang, erwärmt damit namentlich unsere armen, unmenschlich geplagten armen Juden, bietet, denen die Sache heiliger Ernst ist, alle Schätze eurer Rede, alle Pfeile eurer Überredungskunst auf, um sie zu versichern, zu bestärken und hinzulenken auf den Ruf, den ihr ihnen wiederholen sollt: »Auf, nach Amerika!«

Kann man von der Freiheit leben? werden sie euch fragen. Antwortet ihnen: ja, ja, man kann leben. Bisher habt ihr in der Unfreiheit mehr vegetirt, als gelebt und selbst diesen Zustand, entwürdigend, aufreibend und gräßlich wie er war, schwankend zwischen Demuth und Beschränkung, zwischen Sonnenblicken und Finsterniß hat man euch vergällt und verbittert. In diesem Vegetiren seid ihr ihnen noch zu viel gediehen. Erst in der Freiheit werdet ihr leben. Ja, man kann von der Freiheit leben, besonders der Jude kann es. Wie werdet ihr gedeihen, wachsen und blühen! Ob man von der Freiheit leben kann? Nur von ihr – sie ist das eigentliche Lebenselement!

Wir haben es schon in einem frühern Aufsatze nachgewiesen, wie der Organismus des Judenthums, dem wir krankhafte Auswüchse und Gebreste keineswegs absprechen wollen, zu seiner Heilung und Förderung der nach allen Seiten unbeschränkten Thätigkeit, mit der vollsten Freiheit bedürfe. Sagt das allen, an die ihr euch wendet, daß sie diese in Amerika finden in einem Maße, das seit beinahe einem Jahrhundert der Sehnsuchtausdruck aller Europäer ist. Aus Deutschland z. B. ziehen jährlich tausende von Bauern über den Ocean fort nach der neuen Welt; Bauern, die Haus, Hof, Acker besitzen; die sie veräußern und verwerthen; ganze Dörfer entleeren sich oft. Diese beschränkten Naturen in ihrem überseeischen Drange waren sich ihres Strebens gar wohl bewußt, bewußter wohl, als manche auf allen Instrumenten der Zeitideen es versuchenden Freiheitshelden. Sie wollten frei sein, und tausende von ihnen, hätten sie ihren »Herrschaften« und Beamten, ihren Frohnvögten und Steuereintreibern nicht den Rücken gewandt, stünden jetzt in Waffen gegen sie und der Struve-Hecker’sche Anschlag hätte wahrscheinlich einen Ausgang genommen, der den Entwurf des Reichsgrundgesetzes, wie ihn der Siebzehnerausschuß in Frankfurt jetzt vorgelegt, wesentlich verändert hätte.

Führt doch unseren Leuten das Beispiel dieser deutschen Bauern vor! Unterrichtet sie doch in dem, was Freiheit ist. Sagt ihnen, daß keine Thätigkeit, vorausgesetzt, sie sei eine ehrenhafte, in Amerika eine Grenze findet, sagt ihnen, daß jüdische Betriebsamkeit, Vorsicht, Nüchternheit und Sparsamkeit in Amerika kein blutgieriges, plünderlustiges Auflauern hervorruft, sagt ihnen, daß Amerika groß genug ist, um nach keinem Glaubensbekenntnisse, keiner Zunft, keiner bestimmten und abgegrenzten Thätigkeit zu fragen; erklärt dem »gemeinen Manne« daß er die Religion seiner Väter mit hinübernehmen kann, wo er Tausende findet, mit denen er sie ausübt, daß das Juden- thum dort nicht wurzellos und entzweigt dasteht und endlich, daß doch früher der Mensch kommt, dann Religion, Staat u.s.w.

L. Kompert.

 

 

Indem wir die hochwichtige Angelegenheit, welche diese Zeilen besprechen, Allen empfehlen, die ein warmes Herz für die trostarme Lage der Juden haben und die Auswanderung, im Großen oder in kleinern Gruppen mit uns als das wünschenswertheste nachhaltigste Mittel anerkennen unseren bedrängten, verfolgten, erwerbslosen Brüdern beizustehen und eine besser Zukunft vorzubereiten, indem wir sie Allen ans Herz legen, welche selbst auf die Auswanderung, als ihren Erlöser harren, und nur jetzt noch durch Verhältnisse an das Land gefesselt sind – das sie ausstoßt und ihnen jedes Recht des Bürgers versagt, Allen endlich, welche diese Sache mit Rath, mit Wort und That unterstützen können und wollen, sprechen wir die Bitte aus: Es möge jeder dafür Stimmende sich mit den in einigen größern Gemeinden bildenden Comités für Auswanderung in Verbindung setzen, und selben ihre Spende, die gewiß die reichsten Früchte tragen wird, recht bald zukommen lassen. Auch das Comptoir dieses Blattes ist zur Annahme solcher Beiträge bereit, wird selbe ungesäumt dem sich hier bildenden Comité zustellen und durch einige der verbreitetsten Journale zur allgemeinen Kenntniß bringen.

Die Redaktion.

 

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Leopold Kompert: Die beiden Schwerter. In: Ders.: Geschichten einer Gasse [1865], zit. nach: Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Stefan Hock. Leipzig: M. Hesses Verlag 1906, Bd. 5., S. 281-332

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Vier Wochen nach diesem Besuche Josefs des Zweiten auf dem Pfarrhofe in Kojetein langte an den Dechanten eine aus dem kaiserlichen Kabinette herrührende beträchtliche Geldsumme mit der Weisung an, diesen Betrag dem jungen „Samuel“ Fingerhut für die „vorzuhabende Reise“ einzuhändigen.

Mitten unter den Zurüstungen zum bevorstehenden Türkenkriege, mitten im Sorgendrange über die von Tag zu Tag schlimmer lautenden Nachrichten aus den Provinzen, Entwürfe hegend und vernichtend, halb an sich irre geworden, und dann wieder mit einem Hoffnungslächeln selbst einen geringen Erfolg seiner Regierungsmaßregeln begrüßend, hatte der Kaiser den Sohn des jüdischen Handelsmannes und das böhmische Städtchen nicht vergessen.

Samuel Fingerhut kam getreulich dem Willen des Kaisers nach. Mit blutendem Herzen fügten sich Vater und Mutter in das Unabänderliche und segneten Josef den Einzigen, nachdem sie durch den Pfarrer belehrt worden waren, wie sich für den Kaiser kein anderer Ausweg gezeigt, ihnen den einzigen Son zu erhalten – als indem er ihn ihnen nahm.

Samuel Fingerhut nahm seinen Weg zuerst nach Holland, der alten Heimatstätte der Glaubensfreiheit. Er hielt sich aber daselbst aus uns unbekannten Gründen nur kurze Zeit auf, dann ging er nach Antwerpen. Dort in der Scheldemündung lag ein Schiff, das in den nächsten Tagen die Fahrt nach dem fernen Amerika antreten wollte. Samuel Fingerhut besann sich nicht lange und nahm einen Platz auf dem Kauffahrer, der eigentümlicherweise den Namen „Josef der Zweite“ trug. Glücklich und wohlbehalten kam er in dem damals schon aufblühenden Neuyork an.

In der fernen neuen Heimat gelang es ihm bald, es zu Wohlstand und Ansehen zu bringen. Sein Haus erwuchs allmählich zu einem geachteten und weithin genannten. Hochbetagt, von einem Kreise blühender Kinder und Enkel umgeben, beschloß er vor wenigen Jahren sein Leben. In seinem Testamente fand man ein beträchtliches Legat verzeichnet, das zu gleichen Teilen an die Armen christlicher und jüdischer Konfession seiner Vaterstadt Kojetein, und zwar unmittelbar durch einen seiner Enkel, der zu diesem Zwecke die Reise nach Böhmen anzutreten hatte, verteilt werden sollte.

In einer dem Testamente beiliegenden Aufzeichnung erzählte Samuel Fingerhut seinen Kindern und Enkelkindern, unter welchen wunderbaren Umständen er den Weg nach Amerika gefunden, welchen Gefahren er entgangen und wie Kaiser Josef der Unvergeßliche in sein Leben eingegriffen habe, – er erzählte ihnen die Geschichte von den „beiden Schwertern“.

 

➥ Zur Biographie: A. Kapralik

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 3 vom 20.01.1888, S. 27f / Ausgabe 4 vom 27.01.1888, S. 37ff / Ausgabe 5 vom 03.02.1888, S. 47ff

 

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Ausgabe 3 vom 20.01.1888, S. 27f

I.

Es war an einem der letzten Novemberabende des Jahres 1869 Frühzeitig war der Winter ins Land gezogen und hatte Feld und Au in eine dichte Schneedecke gehüllt und krächzende Raben schwebten in der bleischweren Luft und schmetterten weithin in die Ferne ihre unheimlichen Töne hinaus. – Hie und da ragte da kahle, dürre Geäste einer Linde und eines Ahorns über den Schnee hervor, von den Meilensteinen hingegen, die die Straße umsäumen, war nichts zu sehen. Auf dieser aber, die sich zwischen Feld und Haide schnurgerade dahinzog, bewegte sich äußerst schwerfällig ein mit drei kräftigen Braunen bespanntes Fuhrwerk, dessen Insassen nebst dem Wagenlenker aus zwei bejahrten Männern bestanden. Der Eine von ihnen, eine durchaus ehrwürdige Gestalt mit edlen Zügen im schöngeformten, blassen Gesichte und langem, weißen Barte, mochte etwa sechzig Jahre zählen, indessen sein Reisegefährte, ein starker, behäbiger Mann mit rothem, aufgedunsenem Gesichte, von einem röthlichgrauem Barte umrahmt, nur um wenige Jahre jünger schien. – Lange waren sie schweigend nebeneinander gesessen, bald hinaus blickend in die schneebeleuchtete Nacht, bald wieder das geblendete Auge schließend und den dichten Bärenpelz, der auf ihren Knieen lag, straffer anziehend, als der Letztgenannte sich an seinen Gefährten wandte und ihn fragte: „Glaubt ihr nicht, Rabbi, daß es besser wäre, die Nacht im Grenzorte S. zu verbringen und erst morgen die österreichische Grenze zu passiren? Wir müßten sonst die ganze Nacht fahren; die Pferde sind sehr ermüdet und fühlt ihr nicht auch den starken Frost, der sich über die Nacht lagert?“ – Der Angeredete zögerte eine Weile mit der Antwort; er mochte wohl einsehen, daß sein Begleiter – oder wie dieser seinem officiellen Amte Gemäß hieß: sein „Gabbe“ – Recht hatte; er entschloß sich jedoch im Stillen auf dessen Vorschlag nicht einzugehen. Der Grund war folgender: Der Rabbi, wie wir ihn nennen gehört haben, machte wohl die merkwürdigste Reise, die je Einer seinesgleichen unternommen; er befand sich auf der Flucht, auf der Flucht von einem Orte, von welchem ihn niemand vertrieben; von einem Orte an dem er hochgeehrt, geliebt, ja vergöttert wurde, von der Gemeinde sowohl als auch von einer zahllosen Anhängerschaar aus den fernsten Gauen des weiten Russenreiches; und doch verließ er diesen Ort, um ihn nie wiederzusehen! – Viele Jahre hatte er, der in talmudisch-rabbinischem Wissen hochgelehrte Sohn des berühmten Rabbi Israel – oder Reb Srulze – von Sadagora den Wunderthron in einem kleinen Städtchen Rumäniens innegehabt und von dort aus sein magisches Szepter über Tausende und aber Tausende von rumänischen und russischen Cassidim geschwungen. Vor Ostern und Neujahr pflegten die Getreuen in hellen Haufen heranzuziehen, wie einst ihre Vorfahren aus allen Gegenden des gelobten Landes gegen Bion, kostbare und seltene Geschenke für denjenigen mitbringend, den sie als ihr geistliches Oberhaupt auf Erden, als den Mittler zwischen sich und dem allerhöchsten Wesen betrachteten und verehrten. – In Glanz und Pracht hatte der Rabbi in jenem Städtchen gelebt; denn unermeßlich waren die Reichthümer, zu denen die unter dem Namen „Pidion“ (etwa Lösegeld) ihm dargereichten Geschenke angewachsen waren. Eines Tages hatte ihn ein vornehmer Fremder besucht, sich mehrere Stunden lang mit ihm abgeschlossen, war dann fortgegangen und nie wieder gekommen.

Von dem Tage an war der Rabbi wie umgewandelt. Er schloß sich ganze Tage ab, wollte niemand mehr empfangen, ja er wurde sogar für seine eigenen Familienmitglieder unzugänglich! Man stellte allerlei Vermuthungen an; indessen brach sich jene von mehreren Hundert armen Juden, die jahraus – jahrein am „Hofe“ des Rabbi lebten und von seinem Tische gespeist wurden, ausgehende Ansicht allmälig Bahn, daß der Rabbi im Verborgenen mit abgeschiedenen Geistern des Jenseits, so mit Elia Hanowi, mit Rabbi Simon ben Jochai und seinem erleuchteten Schüler Chaim Vital gemeinsam den Sohar und andere Geheimlehren studiere. In Wahrheit jedoch verhielt sich die Sache ganz anders. Der Fremde, der einen so wichtigen Wendepunkt im Leben des Rabbi Ber bedeutete, war einer jener hochgelehrten Juden, die ihr Wissen und ihre Dialektik in den Dienst der englischen Missionsgesellschaft stellen und als Proselytenmacher besonders unter den entweder nur einseitig gebildeten oder ganz unwissenden Juden des Ostens herumziehen. Er war auch zu Rabbi Ber gekommen und hatte es versucht, ihm die Wahrheit und Richtigkeit der Lehre des Nazareners zu beweisen. Er hatte dies mit einem solchen Aufgebot seiner gewaltigen Beredsamkeit, seines profunden allseitigen Wissens gethan, daß, wenn er den Rabbi auch nicht ganz gewann, er doch seinem bisherigen Glaubengebäude, seiner messianischen Ueberzeugung einen bedenklichen Stoß versetzte – Rabbi war nämlich ein ruhig erwägender, gründlicher Geist. „Auf Trau und Glauben“ – hatte er den Missionär zugerufen – „folge ich euch nicht; ich will mich allein überzeugen, ob ihr Recht habt!“ – „Und wie wollt ihr das, Rabbbi?“ fiel jener ein; „ich will lernen, lernen solange, bis ich Alles weiß, was ihr wißt; dann werde ich wohl wissen, wie ich daran bin.“ – Und der Rabbi hat seinen Entschluß ausgeführt.

Nicht den Sohar studierte er, nicht ben Jochai war sein Lehrer, sondern ein jüdischer Arzt der Stadt, der durch einen geheimen Gang täglich zu ihm gelangte und stundenlang ihn zuerst in den Elementen der deutschen Sprache, dann in Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie unterwies. – Zwei Jahre hatte Rabbi Ber überaus eifrigem Studium gewidmet, und nach Verlauf dieser Zeit war sein Entschluß gereift. Nicht abschwören wollte er den Glauben seiner Väter, nicht entsagen dem alten Bunde, um sich dem neuen zuzuwenden, fand er doch trotz allen profanen Wissens in der reinen erhabenen Lehre Mosis und der Propheten eine noch genug mächtige Stütze für sein der Religion bedürftiges Gemüth. Aber die Bildung, die er sich mittlerweile angeeignet, die auf exacter Forschung beruhenden Lehren der Wahrheit, die er mit Gier eingesogen, hatten eine Läuterung seines Herzes, eine Umbildung seiner ganzen Denkweise zur Folge, was – vereint mit der Aufklärung seines Geistes – einen neuen Menschen aus ihm gemacht hatte. Mit Einemmale ward ihm die erbärmliche Rolle klar, die er, die seine Ahnen und viele, ah gar viele Männer dieser Art gespielt; er erröthete und empfand bittere Reue über den unwürdigen Schacher, der mit den edelsten Gefühlen der Menschenseele, mit dem Glauben an Einen Gott, getrieben wird. Er war fest entschlossen vom Wunder-Rabbi-Unwesen für immer zu lassen, sich in eine Einöde zurückzuziehen und da abgeschlossen von der verderbten Welt, die solange ihn und die auch er betrogen, seiner neuen geläuterten Weltanschauung zu leben. Er machte von diesem seinem Plane nur seinem Lehrer, dem Arzte, Mittheilung. Dieser aber erschrak, als er das hörte und hatte wohl auch Grund dazu.

Neben dem Rabbi und dem Gabbe, der von jedem Fremden gewissermaßen eine mitunter sehr beträchtliche Eintrittsgebühr erhob, machte der Arzt die besten Geschäfte im Orte. Er heuchelte eine Frömmigkeit, die er nicht besaß, um sich beim Rabbi und seinen Chassidim einzuschmeicheln, er pflegte, wenn er Samstags oder an einem Feiertag zu einem Kranken gerufen wurde, stets sich selbst in die Apotheke zu begeben und mündlich die Arznei zu ordiniren, um den Festtag nicht durch Schreiben zu entweihen, er war ein nie fehlender Gast beim Tische des Rabbi, wenn dieser beim Ausgang des Sabbath im Kreise einer großen Zahl der vornehmsten Frommen seine an den laufenden Wochenabschnitt der Bibel sich knüpfende Draschah hielt. – Und so pro- pagirte der Rabbi selbst des Arztes Heilkünste und Wunderthaten bei den zahlreichen Fremden, die eine beträchtliche Einnahmequelle für den originellen Aeskulapsohn wurden. Als nun dieser des Rabbis Entschluß vernahm, da ward ihm recht bange für seine eigene Zukunft. Ist der Rabbi fort, liegt ja das Städtchen verödet da, und die reiche Quelle würde für immer versiegen. – Er zog daher Reb Schmerl, den Gabbe, ins Mittel und veranlaßt diesen, seinen Einfluß, der allerdings ziemlich groß war, geltend zu machen und den Rabbi zum Bleiben zu bewegen. – Doch vergebens. – Der Rabbi erklärte mit Entschiedenheit bei seinem Entschlusse zu verharren, gebot Reb Schmerlen strengste Verschwiegeneheit, ließ eines Morgens einspannen, steckte eine ziemlich bedeutende Summe Baargeld in österreichischen und russischen Banknoten zu sich und bestieg mit dem Gabbe den Wagen, um, wie er sagte, nach Sadagora zum Grabe seines Vaters zu wallfahren. – Reb Schmerl sollte ihn thatsächlich dorthin begleiten, dann aber sich wenden, wohin es ihm beliebe, er, der Rabbi wollte vom Grabe seines Vaters und von seinem älteren in Sadagora thronenden Bruder Reb Abraham Jankes Abschied nehmen. – Einen ganzen Tag waren die beiden unter unsäglichen winterlichen Beschwerden gefahren, hatten unterwegs bloß einmal ein karges Mahl zu sich genommen, und als sie sich am Abend einem Grenzdorfe näherten und Reb Schmerl den Vorschlag machte, daselbst zu übernachten, wollte Rabbi Ber darauf nicht eingehen; denn er traute seinem Gabbe nicht recht. – Er glaubte, dieser hätte seinen Plan der Gemeinde verrathen, und fürchtete, er könnte zu jeder Stunde von Nacheilenden eingeholt und vielleicht gar mit Gewalt zur Rückkehr gezwungen werden. Deshalb wollte er so rasch als möglich den österreichischen Boden der Bukowina betreten, wo er auf jeden Fall gesichert wäre. – Sie fuhren also weiter, setzten über die Grenze, gelangten aber bald in eine kleine Stadt und verbrachten die Nacht auf österreichischem Gebiete. – Mit Anbruch des folgenden Morgens setzten sie ihre Reise fort und kamen nach einer weniger beschwerlichen Fahrt als am Vortage des Abends in Sadagora an.

Ausgabe vom 27.01.1888, S. 37ff

I. (Fortsetzung.)

Etwa eine Stunde von der anmuthig gelegenen, hübschen Landeshauptstadt Czernowitz liegt der kleine aber lebhafte Marktflecken Sadagóra. – Haus an Haus gedrängt, eines garstiger als das andere, alle schmutzig und verwahrlost, ewiger Mist und Unrath in den kurzen unregelmäßigen Gassen, und dazu eine vollkommen entsprechende Bewohnerschaft – zumeist verkommene, un- reinliche Gestalten, sowohl arischen als semitischen Stammes und beiderlei Geschlechtes – das ist das wahre Bild eines Ortes, der im europäischen Osten dieselbe Berühmtheit genießt, wie das gepriesene Mekka bei den Söhnen Muhammed’s. – Nur zwei Bauten heben sich vortheilhaft ab von den übrigen, zu denen sie in einem sonderbaren Contraste stehen. Das in einem großen, waldähnlichen, schön gepflegten Parke befindliche einstöckige Schloß des Gutsbesitzers Baron M. und das ebenerdige, äußerlich einfache, im Innern jedoch fürstlich geschmückte Wohnhaus sammt dem dazugehörigen geschmacklosen, aber mit wahrhafter Verschwendung erbauten, reichlich verzierten Tempel des Rabbi. – Wohnhaus und Nebengebäude umgibt ein geräumiger Hof, in welchem es den ganzen Tag und bis in die späte Nacht hinein von Menschen wimmelt. – Da sind vor allem etwa etliche hundert Männer aller Altersstufen, mit abgehärmten Gesichtern, verwilderten Bärten und unglaublich langen Gesichtslocken, im langen schmutzigen, zerrissenen und vielfach geflickten Kaftan, Männer, die ihre Familien daheim – oft weit von Sadagora – ihrem Schicksale und dem Willen Gottes überlassen haben und da als „Joschwim“ den Hofstaat des Rabbi ausmachen. Sie beten des Morgens bis gegen 11 Uhr, werden dann an deinem gemeinsamen Tische abgefüttert, begeben sich hierauf in das Bet ha-Midrasch und lernen einzeln oder in kleinen Gruppen ihren Schiur, während andere sich mit dem näselnden mechanischen Herunter- leiern von Psalmen die Zeit vertreiben, und wenn sie’s satt bekommen, spazieren sie, die kleine Pfeife im Munde, im Hofe auf und ab und erzählen sich von des Rabbi Wunderthaten. – Da kommt ein schwerbepackter Wagen gefahren, dem ein wohlgenährter, reich aussehender Jude aus der Ukraine entsteigt. Die Aerzte schicken ihn eines Magenübels wegen in ein böhmisches Bad; aber der Rabbi muß ihm den Segen dazu geben; denn was würden ihm sonst die Thermen von Karlsbad nützen? Der Gabbe, der zugleich Thürsteher ist, erkennt ihn schon von fern und ruft ihm laut ein „Scholaum aleichem“ zu, das dieser mit der landläufigen Inversion der beiden Worte und einer Rubelnote erwidert. Unverzüglich wird er vorgelassen. – Dort kommt eine jammernde Mutter geeilt, ihr jüngstes Kind liegt im Sterben, es ist von den Aerzten aufgegeben, nur der Rabbi kann helfen; hier ein betrübter Vater, dessen Tochter auf keinen Fall den Mann will, den Eltern und Schadchen ihr bestimmen, die gelobt nur der Neigung ihres Herzens zu folgen und dem jungen hübschen Nachbarssohn die Hand zu reichen, dem Abtrünnigen, von dem man weiß, daß er im Geheimen deutsche Bücher lese.

Der Vater ist überzeugt, daß seine Tochter besessen sei, er wendet sich an den heiligen Mann, daß er aus ihr den „Dibik“ heraustreibe. – Der Krämer, der schlechte Geschäfte macht, der Pächter, der fürchtet, man könne ihm zum nahe bevorstehenden Termine die Pachtung „ausdingen“, – – alle, alle kommen, vom Rabbi Hilfe zu erflehen. Alle werden vorgelassen, zuerst die Reichsten und so nach Maßgabe ihres Besitzes und der Höhe des dem Gabbe zugesteckten Obolus der Reihe nach die Uebrigen. – In einem kleinen, bescheiden eingerichteten Gemache sitzt der göttliche Mann im langen, schwarzseidenen Kaftan an einem Tische, das Auge unverwandt auf ein aufgeschlagenes Buch geheftet; der Eintretende legt einen Zettel, der die schriftliche Bitte enthält und eine Geldsumme auf den Tisch, der Rabbi durchfliegt dies Bittgesuch, nickt mit dem Kopfe und versichert, Gott wird helfen, womit der so Getröstete freudig sich entfernt! – So kommen und gehen sie, die armen Geschöpfe, diese bedauernswerthen Kinder eines traurigen, finsteren Landes! Wie? Sind denn ihnen jene Schätze verschlossen, die wir anderen mit vollen Händen aus dem Reiche des Wissens heben? Ist ihr Geist anders geschaffen, daß ihm das unfaßbar wäre, was jetzt Gemeingut Aller ist? Nein! Sie sind Menschen wie alle übrigen, mit denselben geistigen Anlagen, denselben seelischen Gefühlen, denselben Regungen des Gemüths! Aber sie schmachten in einem Jahrhunderte alten Banne, in Jahrhunderte alten Fesseln, welche der Aberglaube ihren Ahnen geschmiedet, und traditionelle Pietät gefestigt, ach! so stark gefestigt hat, daß ein bloßer Versuch, sie abzustreifen, als eine Erbsünde, als ein Vergehen gegen das Allerheiligste, betrachtet wird. Was sind ihnen die Errungenschaften des Wissens, die den Geist aufklären, was die Schöpfungen der Kunst, die Herz und Sinn veredeln? Hervorbringungen des Satans und Teufelsspuk, Verirrungen einer entfesselten Phantasie und Verleugnung des Schöpfers und seiner Heiligen! Und wie wird jede freie Regung eines begabten Geistes im Keime erstickt! Man dürfe nicht denken, gilt ihnen als oberster Grundsatz; man dürfe es auch nicht einmal versuchen, so zahlreiche Widersprüche, die zwischen traditioneller Lehre und individueller Anschauung entstehen, kritisch zu beleuchten. Blind gehorchen müsse man dem todten Buch- staben der Ueberlieferung, es nicht um ein Haar geringer nehmen, als es die Väter gethan; Fortschritt und Zeitgeist sind unbekannte, oder wenn gekannt, verdammte Begriffe! – – – Mit Spott und Hohn werden die Aufgeklärten überschüttet, die Frevler, ein Chassid betet und fastet und führt ein elendes Leben, wird doch bald, ja vielleicht schon morgen der gesalbte Sohn Davids erscheinen und ihn und seine näheren Glaubensgenossen ins gelobte Land führen. – – – –

Ist dieser Glaube übrigens, diese Hoffnung, diese Zuversicht nicht beseligend? Was vermöchte der Seele mehr Trost und Ruhe zu verleihen, als eine so feste, als eine solche religiöse Ueberzeugung? Wir bedauern jene Geschöpfe, sie zahlen es uns mit barer Münze; sie bedauern uns.

Mitten in das dichteste Gewühl, das den Hof des Sadagoraer Patriarchen erfüllte, fuhr der Wagen, der Rabbi Ber und seinen Gabbe, Reb Schmerl brachte. Es war fast Abend geworden, und dennoch vermehrte sich immer noch das Gedränge, man erwartete den Rabbi, der in seinem eigenen, reichlich ausgestatteten Gemache, einem Nebenraume des Tempels, das Mincha- und Maariwgebet verrichtete. – Rabbi Ber hatte schon unterwegs gebetet und begab sich daher in das Empfangszimmer seines Bruders, wo er ungeduldig dessen Rückkehr abwartete. – Nachdem er den Reisepelz abgelegt hatte, ließ er sich erschöpft auf das kleine Sofa nieder und brütete still vor sich hin. Da zog noch einmal seine ganze Vergangenheit an seinem geistigen Auge vorüber. Die verklärte Gestalt seines Vaters trat erzürnt vor ihn und drohte ihm mit dem Finger. – – Doch mit nie gekanntem Muthe verscheuchte er dieses Bild und erhob sich, um mit kräftigen Schritten das Zimmer zu durchmessen, damit er dadurch gleichsam die Worte übertöne, dir er aus dem Munde eines Gespenstes zu vernehmen wähnte. Da ging die Thüre auf, und Reb Abraham Jankes trat ins Zimmer. – „Boruch habo“ und „Scholaum“ ertönt es gegenseitig, ein Händedruck, eine Umarmung, und der von Sadagora zieht seinen liebwerthen Gast zum Sofa hin, auf das sich beide niederlassen. Der Herr des Hauses will vor Freude über den unerwarteten Besuch, den er ungestört zu genießen gedenkt, seinem Gabbe den Befehl ertheilen, heute Niemanden mehr vorzulassen; doch Rabbi Ber ersucht ihn, trotz seiner, die Geschäfte des Tages unverkürzt zu erledigen, er wolle ihm Gesellschaft leisten, er wolle noch einmal jene armseligen Geschöpfe sehen, die in ihrer Noth sich an den Sachwalter der Allmacht auf Erden wenden. Reb Abraham Jankes mißverstand seinen Bruder. Er faßte das so auf, wie wenn Rabbi Ber, dessen krankhafte Blässe ihm sofort aufgefallen war, von der Ahnung eines nahe bevorstehenden Todes ergriffen, vielleicht nur zu dem Zwecke nach Sadagora gekommen wäre, um neben seinem Vater bestattet zu werden. Auch den Ausdruck „armselige Geschöpfe“ bezog er lediglich auf die körperlich oder seelisch Leidenden und Hilfesuchenden, verstand ihn also ganz anders, als Rabbi Ber ihn gedacht. Er ließ sich also bestimmen, die Harrenden eintreten zu lassen und fertigte sie wie gewöhnlich kurz ab, indessen sein Bruder diese mit mitleidigem Blicke maß und in der Betrachtung dieser – wie es bei ihm bereits feststand – unmoralischen Handlungsweise nur noch mehr Festigung fand, für seinen so edel, so selbstlos und deshalb vereinzelt dastehenden Entschluß. „Bruder“, rief er und seine Stimme zitterte, nachdem hinter dem Letzten sich die Thüre geschlossen hatte, „Bruder“, ich komme Abschied von Dir zu nehmen, von Dir, dem Rabbi, der selbst in einem verderblichen Wahne, in einem gräßlichen Irrthume, in der Ueberzeugung seines göttlichen Berufes lebt und so viele Tausende mit geistiger Blindheit geschlagene Menschen in denselben Wahn, dieselbe Verirrung zieht! „Bruder Abraham“, rief er noch kräftiger und blickte dem erstaunten Rabbi fest ins Auge, „wir sind alle Betrüger, wir vergehen uns sehr hart gegen den einzigen allmächtigen Gott, wir lassen uns dafür bezahlen, daß wir für andere zu ihm beten und diese thun es in der festen Ueberzeugung, daß wir vom Ruach Hakoudesch inspirirt, viel bei der Gottheit vermögen! Wir begehen eine doppelte Sünde.

Erstens eignen wir uns Güter an, die uns nicht zukommen, denn wir können doch nichts bewirken, wir können ja das nicht thun, was die Leute von uns voraussetzen, zweitens erhalten wir diese in einem unheilvollen Aberglauben und verwirren ihre ohnehin unklaren Begriffe von der Gottheit noch mehr! Ich mache meinem bisherigen Treiben, das mir der liebe Gott verzeihen möge, – denn ich wußte nicht, was ich that, ein Ende, ich gebe das Rabonot, auf und ziehe mich in einen verborgenen und verlassenen Winkel Erde zurück, wo ich mir selbst eine Buße auferlegen will für meine so schweren Sünden! Du aber fahre fort, o Bruder“, sprach er mit Bitterkeit weiter, „das Erbe unseres Vaters in Ehre zu halten. Du kannst mich nicht verstehen, du wirst auch meinen Schritt nicht billigen, aber meinen Entschluß kannst du nicht ändern. Leb’ wohl!“ Wie vom Blitzstrahl getroffen stand Reb Arbraham Jankes da. „Was redest du, Ber,“ sprach er an allen Gliedern bebend, „was spricht aus dir, ich verstehe dich nicht; du bist krank, du fieberst, wo ist jemals so was gehört worden; denk’ an unseren Vater, sein Andenken sei uns zum Segen, an un- sern Urgroßvater Abraham, genannt „der Engel“, an unsern Ahn, dessen Namen du trägst an je- nen Reb Ber, der der vornehmste Schüler und ausgesprochene Liebling des heiligen Baal-Schem- Tow war: Sind wir nicht vom Stamme David, sind wir nicht die Auserwähltesten unter den Auserwählten, und wird nicht in unserer Familie der Gesalbte geboren werden, der uns ins heilige Land führen und uns die Weltherrschaft überantworten wird? Ber“ fuhr er mit weinerlicher, fast flehender Stimme fort, „erinnere dich jenes Tages, an welchem du Bar-Mizwah wurdest und unser heiliger Vater dich segnete und sprach, du werdest ein Meor godaul sein, du werdest ein großes Licht über Israel verbreiten, warst Du ja immer der gelehrteste und scharfsinnigste unter deinen Brüdern! Und was willst du beginnen, was wird unser Vater im Himmel dazu sagen? Was soll aus den vielen, vielen Kindern Israels werden, wenn sie eine so mächtige Stütze verlieren?“ Rabbi Ber stand ruhig da mit auf den Boden gerichtetem Blicke, er dachte wohl selber an die prophetischen Worte seines Vaters, daß er berufen sei, Israel zu erleuchten, aber in welchem Sinne?! Dem Bru- der antworten wollte und konnte er nicht. Wozu denn auch? Ueberzeugen konnte er ihn doch nicht. „Wozu bin ich denn überhaupt hergekommen, fragte er sich. warum bin ich nicht gleich dorthin geeilt, wo mich keine lebende Seele je fände? Doch nein! Am Grabe meines Vaters will ich noch einmal beten, will dem todten Steine, der seinen Hügel bedeckt, mein Fühlen und Denken sagen! – – –

(Schluß folgt.)

Ausgabe 5 vom 03.02.1888, S.47f

I. (Schluß.)

Bitter lächelnd schüttelt er das greise Haupt, streckte seinem Bruder die Rechte entgegen und wollte gehen. Doch dieser ließ ihn nicht fort. „Ber“, sagte er bittend, „bleibe bei mir, schlafe hier, in demselben Hause, das noch der Geist unseres abgeschiedenen Vaters verklärt, Friede soll wieder einkehren in deinem Sinn und deine verirrte Seele von den Klauen Satans befreien! Bleibe hier“, wiederholte er und eine Thräne stahl sich von der Wimper und rieselte die bleiche Wange herab, um sich im langen, grauen Barte zu verlieren. Rabbi Ber, gerührt vom sichtbaren Schmerze seines von im heißbeliebten Bruders, ließ sich erweichen und blieb über Nacht, jedoch nicht ohne ihm zu betheuern, daß sein Entschluß ein fester, ein unerschütterlicher sei.

Mittlerweile hatte Reb Schmerl, der Gabbe, zunächst seinen Sadagoraer Amtcollegen, Reb Pinches und Reb Kalmen, dann jedem, den er nur kannte und antraf, die Absicht seines Gebieters verrathen. Von Mund zu Mund ging die schauerliche Mähr und war gar bald in ganze Sadagora verbreitet. Reb Schmerl dachte durch eine Masseneinwirkung von Seiten so Vieler auf seinen Herrn, diesen bewegen zu können, daß er seinen Plan denn doch aufgebe. Er hatte kurz vor der Abreise aus Rumänien seinem Sohne und dem Arzte aufgetragen, sofort die Geschichte zu verbreiten und die Rebezen, die Frau Rabbi Ber’s, zu veranlassen, augenblicklich nach Sadagora nachzukommen. Am Tage, der jener Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern folgte, kam in der That die Rebezen, begleitet von einer zahllosen Schaar Chassidim, in Sadagora an. Da sah man viele verstörte Gesichter, aufgeregte Männer hin- und herlaufen, hastig mit einander discutiren; denn allen war der Schrecken in die Glieder gefahren, sie verloren fast die Besinnung. Rabbi Ber war am frühen Morgen auf den alten „guten Ort“ geeilt, hatte das von einem prächtigen Mausoläum überwölbte Grab Reb Srulze’s, seines Vaters, aufgesucht und mit bewegter Stimme die Worte gesprochen: „Vater, verzeih mir meinen Schritt, ich verlasse den Rabbinerstuhl, denn es widerspricht meiner innersten Ueberzeugung, noch ferner ein Amt zu verwalten, daß der liebe Gott unmöglich billigen kann! Nur Verblendung, Wahn, Trug sind die Stützen Deines und meines Thrones gewesen, und das Licht der Aufklärung, das über mich gekommen, hat jene Schatten verscheucht, und siehe da, mein Thron stürzte unter mir zusammen. Ich kann, ich mag ihn nicht wieder aufrichten, meine Seelenruhe will ich lieber bewahren und ein neues Leben, wenn anders dies noch lange dauern soll, beginnen. Verzeihung! Vergebung!“ Dann war er davongeeilt.

Die Bewegung im Hofe und in der Umgebung des Rabbi von Sadagora war Rabbi Ber nicht entgangen, zudem war der Verdacht gegen Reb Schmerl immer größer, er ahnte, man werde von seiner Heimat ihm bald nachfolgen, und da er allem Stürmen und Drängen ausweichen wollte, ja vielmehr, da er bei einer hochgradigen Erregung der Gemüter einen Gewaltact befürchtete, bestieg er, in seinen dichten Pelz gehüllt, am Marktplatze ein unscheinbares Fahrzeug und ließ sich unverzüglich nach Czernowitz führen. Hier war er gesonnen, sich zunächst nach einem Rechtsbeistand umzusehen, war ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß eine in Scene gesetzte Agitation die Einmengung der Gerichte zur Folge haben könnte, wenn, wie sein scharfer Verstand ihn ahnen ließ, er von den Chassidim für irrsinnig erklärt werden würde. Der Zufall führte ihn zu einem angesehenen jüdischen Advocaten, dem er sein Begehren kurz auseinandersetzte. Dieser, anfangs erstaunt, erkannte jedoch bald, daß er einen geistvollen, gebildeten, seiner Vernunft und Sinne durchaus mächtigen Menschen vor sich habe, erklärte sich bereit, ihm beizustehen und erbot sich, ihn sogar in Wohnung und gänzliche Verpflegung zu nehmen. Freudig nahm Rabbi Ber, der von nun an „Herr Friedmann“ (das war auch sein Familienname) genannt sein wollte, diesen Vorschlag an, richtete es sich im Hause des Advocaten recht behaglich ein, speiste an seinem Tische von den keineswegs rituell zubereiteten Speisen, was ihm auch ganz gut bekannt war, unterhielt sich mit den hübschen Töchtern des Doctors, ließ sich von ihnen vorspielen und vorsingen und beobachtete keinen einzigen Brauch, den fromme Juden üben.

In Czernowitz und in Sadagora und viele Meilen weit in der Runde war all das bekannt geworden. Die Chassadim geberdeten sich wie besessen; Die Einen bejammerten ihn, den Wahnsinnigen, den Satan überrumpelt, die Anderen fluchten ihm, daß es ein Graus war zuzuhören; einige Spitzköpfe wieder fanden sich, die lächelnd behaupteten, das sei gar nicht Rabbi Ber, sondern der Satan habe dessen Gestalt angenommen, indessen er selbst irgendwo im Geheimen mit Elia Hanowi lerne! Alle Versuche von Seiten des Sadagoraer „Hofes“, auf Rabbi Ber zu wirken, blieben erfolglos. Er wollte absolut keinen Juden im Kaftan empfangen, nur „Deutsche“ durften ihn besuchen und mit ihm sich unterhalten. Wochenlange bot der Platz vor dem Wohnhause des Advocaten, das merkwürdigste, aufregendste Schauspiel dar. Da standen Kopf an Kopf gedrängt Chassidim und Neugierige aus allen Gegenden der Windrose, laut redend und mit einander streitend, und wenn der Rabbi an der Seite des Advocaten eine Spazierfahrt im offenen Schlitten unternahm, folgten Hunderte fluchend dem Fahrzeug.

Rabbi Ber mochte nun mit der Zeit eingesehen haben, daß er denn doch ein wenig zu weit gegangen sei! Die erste Aufwallung seines Blutes hatte sich gelegt und allmählich einer kühleren Ueberlegung Platz gemacht; er wollte nun doch so viele errege Gemüther beruhigen und ließ in Sadagora verkünden, er wolle nunmehr hinkommen, dortselbst in großer Abgeschiedenheit leben, jedoch alle Vorschriften der jüdischen Religion, ja alle Sitten und Gebräuche aufs pünktlichste befolgen, sowie es einem Rabbi zieme, nur wolle er keiner mehr sein. Man möge ihn nicht mit Bitten und Klagen belästigten, man möge sich damit an seinen Bruder wenden, er werde Niemanden empfangen. Und so war es auch. Er zog nach Sadagora. Der Sturm hatte sich gelegt, Viele waren versöhnt, nur die strengen Fanatiker nicht; sie hörten zwar auf zu fluchen; doch wollten sie von ihm überhaupt nicht mehr wissen.

Er aber lebte in stiller Zurückgezogenheit, jedermann unsichtbar, las und lernte was ihm gefiel, bis an sein Lebensende, das wenige Jahre darauf erfolgte. Er ruht neben seinem Vater und sei- nem älteren Bruder, der ihn um mehr als zehn Jahre überlebt hat. –

Auf dem Throne in Sadagora aber sitzt gegenwärtig Reb Abraham Jankes’s Sohn, und ein zweiter Sohn desselben herrscht in einem anderen Marktflecken der Bukowina, zu Bojan; und noch immer ziehen Tausende und aber Tausende dorthin – – – – das „tempora mutantur“ kann sich dort keine Geltung verschaffen! Ob aber einmal doch? und wann? – – –

 

Zur Biographie: Moritz Jókai

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 24. Jahrgang, Ausgabe 19 vom 09.05.1884, S. 183f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Soll ich’s leugnen? Auch ich war als Kind Antisemit; so wie es jeder unentwickelte Mensch ist. Die Mägde hatten mir den Kopf vollgemacht damit, daß die Juden an ihrem Osterfest das Blut christlicher Kinder benützen und zwischen unserem Hause und der Schule lag die Baranyay’sche Kurie, in der Juden wohnen durften. Auch der Schächte hauste dort. Jeden Tag sah ich, wie die Gänse mit den durchschnittenen Hälsen zum Thore hinaus gehängt wurden und meine Phantasie ergänzte das Uebrige. Was für schreckliche Dinge mußten dort vor sich gehen! . . .

Was ich dann in der Schule aus einem dicken Buche, das Hübner hieß, lernte, war auch nicht geeignet, Vorliebe für die Juden in mir zu wecken. Warum läßt man auch die Juden frei herumgehen, die meinen Heiland gekreuzigt haben?

Als ich dann größer wurde, schickte man mich nach Preßburg, um Deutsch zu lernen. Dort erfuhr ich, daß es am Ende der Stadt eine verwunschene Stätte gebe, die Schloßberg heiße und blos von Juden bewohnt sei. Das wäre die Brut- und Lagerstätte aller Sünden gegen Gott und Menschen und wenn man von einem Studenten erführe, daß er auf dem Schloßberg gewesen, würde man ihn sofort aus der Schule stoßen.

In diesem Glauben erstarkt, kehrte ich wieder nach Komorn zurück, wo es damals noch ein berühmtes Gymnasium gab mit drei Classen Philosophie und Poesie.

Bis dahin hatte ich einen jüdischen Studiosus weder im Lyceum noch im Gymnasium getroffen. Wozu hätte ein Jude auch Lateinisch lernen sollen? Er durfte kein Amt bekleiden, er durfte weder Advokat, noch Ingenieur werden.

Blos eine wissenschaftliche Laufbahn stand dem Juden offen, die ärztliche, oder wie man sie damals nannte, die Doktoren-Laufbahn. (Damals durften nur die Aerzte Vesikatoren und Schöpfköpfe anwenden, den „Prokatoren“ war dies nicht gestattet; deshalb nannte man auch nur die ersteren Doktoren; die anderen hießen Fiskale). Als ich nun die „Poesie“ besuchte, ereignete sich das Wunderbare, daß sich ein jüdischer Studiosus in unserer Classe einschreiben ließ. Er hieß Koritschóner. Er war nicht jung mehr; schon über die Vierzig. Bis dahin war er Magister der Kalligraphie gewesen; er unterrichtete Schönschreiben, er kopirte Gratulations-Schreiben mit einer Schrift, die wie gestochen aussah. Das war freilich ein mageres Brod. Trotz seines vorgeschritte- nen Alters hatte er den ehrgeizigen Plan, Arzt zu werden, gefaßt; zu diesem Behufe mußte er vorher Humaniora absolviren. Grammatik und Syntax lernte er zu Hause als Autodidakt, was ihm nur bei einem riesigen Fleiße möglich war, denn er war nicht von besonders rascher Auffassung. Uns 14-15jährigen Burschen machte dieser vierzigjährige Kamerad viel Spaß mit seiner kuriosen, ausgewachsenen Gestalt, mit seinem rasirten Gesicht, mit seiner mauschelnden Aussprache und seiner unwillkürlichen Komik. Eines Tages war er von der Schule ausgeblieben und als ihn der Professor deshalb zur Rede stellte, sagte der gute Koritschóner zu seiner Rechtfertigung: „Ich konnte nicht kommen, weil mich meine Frau eben gestern mit einem Söhnchen beschenkt hat.“ Man kann sich denken, welche heitere Stimmung sich auf diese ungewohnte Entschuldigung der ganzen Classe bemächtigte. Nur der Professor, der alles ernst nahm, lachte nicht, er wünschte seinem Schüler Glück zu dessen Neugeborenem und entließ ihn für diesen Tag, damit er bei seiner Frau wachen könne. Auch der gute Koritschóner nahm die Geschichte, wie Alles im Leben, sehr ernst. Mit der Kalligraphie verträgt sich eben kein Spaß. Einmal hatten wir, der alte Koritschóner und ich, vor der Schulstunde einen Disput.

Die Kontroverse bestand darin, ob in der ungarischen Metrik das ein Konsonant sei oder nicht. Ich sagte Ja, er Nein. Schließlich warf ich hin: „Was weißt Du davon, Du bist ja nur ein Jud“, worauf er rispostirte: „Du aber bist nur ein Kind.“ Eine schreckliche Beleidigung das, einem vierzehnjährigen Manne zu sagen, daß er ein Kind sei! Heutzutage würde man den Beleidiger hiefür zum Duell fordern. Damals machte man mit ihm kürzeren Prozeß. Ich war 14, er 41 Jahre alt, aber ich war ein Magyar und er blos ein Jude; Grund und Rechtstitel genug, ihn am Kragen zu packen und seinen Rücken mit der Faust zu bearbeiten. Als ich den Konsonanten-Charakter des auf diese Weise auf dem Rücken des jüdischen Kameraden bewies, trat der Professor ein. Er war ein strenger und gerechter Mann, er bestrafte mich, trotzdem ich sein Schwager war, für dieses Vergehen und ich mußte bis zum Abend in der Schule bleiben, was eine große Schande war. Daheim nahm mich meine Mutter vor. Meine in Gott ruhende Mutter hatte ein gutes, gesegnetes Herz; dabei aber war sie eine soldatisch strenge Natur. Sie fragte mich, wo ich geblieben wäre. Ich erzählte ihr, aufs tiefste entrüstet, von dem Unrecht, das mir widerfahren; wie ich mit Bestimmtheit wisse, daß der Buchstabe „h“ ein Konsonant sei, ich könne für meine Behauptung Börösmarty zitiren; „Cserhalom“, das sei ein Daktylus; wäre „h“ kein Konsonant, so wäre obiges Wort ein Tribrachys: und da hätte Einer gewagt, mir zu widersprechen und dafür hätte ich ihm etliche Püffe versetzt, der Lehrer aber mich in der Schule behalten. Ja, mußtest Du deshalb gleich Jemanden schlagen? fragte die Mutter. – Es war ja nur ein Jude! – Was? rief meine Mutter aus. Du sagst, es wäre nur ein Jude geweseu? Ist der Jude in Deinen Au- gen nicht ebenso ein Mensch wie jeder Andere? Du verachtest Jemanden um seines Glaubens willen? Vergissest Du, daß man „unsere“ Glaubensgenossen vor fünfzig Jahren ebenso verfolgt hat in dieser Stadt, wie Du jetzt den Juden verfolgst? Nun trollst Du Dich auf der Stelle fort und suchst mir den jüdischen Studenten auf, den Du geschlagen, und bittest ihn um Verzeihung. Und schriftlich mußt Du mir es von ihm bringen, daß er Dir verziehen hat. Ich war entsetzt ob der dra- konischen Strenge dieses Urtheils. – Wie, ich soll mich erniedrigen vor jenem Juden? – Du erniedrigst Dich vor Gott, der den Juden wie Dich nach seinem Ebenbilde geschaffen. – Und wie finde ich ihn jetzt in dieser Stadt?

– Das ist deine Sache. Du weißt, in welcher Gasse die Juden wohnen. Gehe dort von Haus zu Haus, bis Du ihn findest: Thue auf Deinen Munde und halte Nachfrage; Komorn ist ja kein Urwald. Mir aber wirst Du ohne jene Schrift nicht vor die Augen kommen. Das war das Ultimatum. Ein böser Fall fürwahr. Das Mittagessen hatte ich schon versäumt, nun sollte ich auch das Abendbrot verlieren. Indessen es gab keine Appellation und auch im Reichstage konnte ich diesfalls keine Interpellation einbringen. Was war zu thun? Ich mußte mich ergeben. So biß ich in den in den sau- ren Apfel und machte mich daran, den Koritschóner am jenseitigen Ende der Stadt, wo er wohnte, aufzusuchen. Da, als ich das Hausthor öffnen will, drückt Jemand zur selben Zeit dasselbe von außen herein; das Thor geht auf und vor mir steht mein kleiner Koritschóner. Die beiden Schultern schlaff gesenkt, das Haupt traurig zur Seite geneigt, fragt er mich, an der Schwelle stehend, mit milder zitternder Stimme: – Irasceris mihi? („Grollst Du mir?) Ob ich ihm grolle? Und, demüthig den Hut vom Kopfe nehmend, fuhr er fort: – Ich kam zu Dir, Dich um Verzeihung zu bitten.

Er, der Geprügelte, kommt um Verzeihung bitten Denjenigen, der ihn insultirt! Und ihn hat Niemand dazu gezwungen. Er hat keine Mutter, die ihn durch strengen Rechtspruch und mächtiges Gebot zu mir schickte! Und dennoch kommt er hieher zu mir. Mir strömten die Thränen aus den Augen: ich fiel ihm um den Hals und umarmte ihn. – Nein, nicht Du bittest mich um Verzeihung, nicht Du; ich, ich bitte dich, mir zu vergeben. Und jetzt mußt Du mit hinein zu meiner Mutter und ihr sagen, daß wir uns versöhnt haben und hinfür uns gegenseitig achten wollen. – Darum bin ich ja just zu Euch gekommen. – Hierauf ging er mit mir zur Mutter hinein und sprach: Ich komme um Ihre Vergebung zu bitten, gnädige Frau, für die Beleidigung, die ich Ihnen zugefügt. Ich bin der Schuldige, ich gestehe es ein. Denn worüber wir disputirt, darin hat er Recht gehabt, der Moriz. Der Buchstabe „h“ ist in der That ein Konsonant; nur aus poetischer Licenz wird er zuweilen als „spiritus lenis“ betrachtet. Der Herr Professor hat mir dies klar und deutlich erklärt. Darum verzeihen Sie es mir, das ich dem Moriz Veranlassung gab, mich zu schlagen. Seine Schläge haben mich nicht geschmerzt; denn der Moriz hat Recht und auch eine tüchtige Faust hat er. Und mit dieser Faust wird er den Juden vertheidigen, wann der Jude Recht haben wird. In diesem Augenblick bin ich Philosemit geworden. Und der Philosemitismus war mir nie eine ideale Phrase: sie gieng bei mir in Fleisch und Blut über. Wo immer ich von da ab in die Schule gieng, überall war ich bestrebt, zu erwirken, daß meine Schulkameraden mit ihren jüdischen Kommilitonen anständig umgehen. Im Kollegium zu Krecskemét hatte ich mir bereits einen hohen Rang errauft: da war ich der konstitutionell erwählte Vortänzer für den Juristenball, der erste Eminent in meiner Classe und der erste Liebhaber bei den Dilettanten. Dieses hohe Ansehen wußte ich überall zur Geltung zu bringen, um die gebildeten Jünglinge der handeltreibenden Kecskeméter Judenschaft in unseren geselligen Kreisen einheimisch zu machen. Sie waren unsere besten Freunde, mit ihnen konnten wir literarische Angelegenheiten am besten besprechen, sie liehen uns Bücher zum lesen, ja selbst Petösi wurde von ihnen am besten portirt. Einmal geschah es, daß wir ein Concert veranstalteten zum Besten einer zu errichtenden Jugendbibliothek. Musiker, Declamatoren stellte die Schuljugend die Menge bei; doch gab es unter uns keinen geschulten Sänger, der Opernarien vorzutragen verstand. Ein junger Jude, Philipp Gallia (später ward er Buchhändler), ein graduirter Mann von überaus vielseitiger Bildung, der dabei einen herrlichen Tenor und eine ganz vorzügliche Schule hatte, sagte auf mein Ersuchen seine Mitwirkung zu. Er hatte aus „Belisar“ die Arie „Trema Bisanzia, sterminatrice!“ zu singen. Den Text hatte ich ihm in’s Ungarische übersetzt. Einige Tage vor dem Concert hieß es, unter dem Publikum bereite sich irgend eine Demonstration gegen den jüdischen Dilettanten vor. Wir ließen uns dadurch nicht einschüchtern. Das Theater füllte sich mit Publikum: die Einnahme lieferte den Grundstein für die Schulbibliothek.

Als die Reihe an Gallia’s Gesang kam, harrte Alles voller Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Mein jüdischer Sänger trat muthig auf die Bühne, vor das Orchester hin, und kaum daß er anhub: „Zittere Byzanzia!“, da erscholl im Auditorium eine Stimme, dröhnend, wie der Ruf eines Ochsentreibers: „Da gibt’s keine Pferdehäute! Was sucht der Jude da!“ Aber dieser eine und einzige Demonstrant wurde durch das p. t. Publikum selbst im Nu mit solcher Raschheit aus dem Zuschauerraum geschleudert, daß der Sänger sich in seiner Arie gar nicht zu unterbrechen brauchte. Und als der letzte Vers verklungen wart „Ein Meer von Blut soll Rache melden – Für jede Thrän’ des edlen Helden“, da erhob sich im Publikum ein brausender Orkan von Applaus und Eljenrufen, der schier kein Ende nehmen wollte. Dieses geschah im Jahre des Heils 1842, vor 42 Jahren in der Stadt Kecskemet. Welch große Fortschritte hat die Welt seither gemacht?

* Wir reproduciren nach Pester Blättern diesen Vortrag, welchen Jókai im Prunksaale der Akademie der Wissenschaften gelegentlich der daselbst am 27. v. abgehaltenen Matinée gehalten hat

Zur Biographie: Adolf Jellinek

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 25. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 09.01.1885, S. 17f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Als hätte der Talmud es geahnt, daß eine Zeit kommen würde, in welcher Eisenmenger und seine Abschreiber ihn verspotten und lächerlich machen würden, schrieb er, daß man die Hagada oder den allegorischen und poetischen Theil desselben nicht plumpen Geistern mittheilen soll, da sie mit ihren rauhen Fäusten den zarten Blüthenstaub, der die edlen Pflanzen der Hagada bedeckt, wegwischen und diese verunstalten würden. Ja, die Hagada gleicht einem lieblichen, duftenden Blumenbeete, in welches man nicht mit täppischer Hand hieneingreifen darf, um sich mit den farbenreichen Blüthen und Blättern zu freuen. Abraham Ibn Esra, einer der geistvollsten Schriftsteller im zwölften Jahrhundert, verglich einen Theil des Talmud, der unter dem Namen Hagada bekannt ist, mit einem feinen, dünnen Seidenstoffe, den man nicht etwa wie Sackleinwand berühren und gebrauchen dürfe. Und in der That, wie roh und rauh wurden die feinsten und schönsten Allegorien von bornirten Spöttern behandelt! Ohne poetischen Sinn und ohne Esprit versahen sie die hagadischen Dichtungen mit einer unbeholfenen Interlinear-Uebersetzung und riefen dann mit der kreischenden Stimme boshafter und zanksüchtiger Weiber aus: Seht, das ist die Weisheit der Juden, das ist der Talmud!

Wohlan denn! Wir wollen Eisenmenger’s „Entdecktes Judenthum“ aufschlagen und dann den italienischen Dichterfürsten citiren, damit er als Anwalt und Vertheidiger der Hagada auftrete und sie nicht blos gegen den Spott ihrer plumpen Gegner in Schutz nehme, sondern ihr ein Blättchen aus jenem Lorbeerkranz schenke, der sein Haupt ruhmvoll schmückt.

Der Talmud erzählt nämlich folgende Geschichte:

R. Elieser, Sohn des Hyrkanos hatte bereits die zwanzig Jahre hinter sich, als er anfing die Elemente der Religionswissenschaft zu studieren. Was ihm an frischer, jugendlicher Empfänglichkeit fehlte, das ersetzte er durch bewundernswerthen Fleiß und unermüdlichen Eifer. Allein er entbehrte sein ganzes Leben der geistigen Zeugungskraft und zeichnetet sich mehr durch starres Festhalten an den überlieferten Lehrsätzen aus, so daß man ihn „eine verkalkte Cisterne“ nannte, „die keinen Tropfen Wasser verliert.“ Einst hatte er, der Mann der starren Tradition, viele Religions- gesetze vorgetragen, die von den Weisen nicht gut geheißen wurden. Um seine Autorität zu be- stärken, nahm er zu Wundern seine Zuflucht. Dieser Baum möge für mich zeugen, rief er aus, und der Baum entfernte sich von seinem Standorte. Als dieser Beweis für seine Aussagen nicht fruchtete, rief er das Wasser an und dieses strömte rückwärts. Auch dieses Wunder blieb wirkungslos und, siehe da, eine Himmelsstimme rief aus: Es werde nach der Ueberlieferung Elieser’s entschieden. Da sprach R. Josua, der Schüler des R. Jochanan ben Sakkai, der ein Jünger Hillels war: Die Thora ist nicht im Himmel; im Judenthum entscheidet die Mehrheit der Weisen und nicht eine übernatürliche Stimme aus den Höhen. Hierauf traf ein Lehrer den Propheten Elias und auf seine Frage: was Gott wohl jetzt mache? antwortete der Prophet: Er lächelt und freut sich und spricht: „Meine Kinder haben mich besiegt!“

Der plumpe Eisenmenger, der in der Uebertragung dieser talmudischen Allegorie sich eines Sprachschnitzers* schuldig macht, der selbst eines Rohling unwürdig ist, begleitet diese Hagada mit der Bemerkung: „Aus dieser talmudischen Raserey sehen wir, daß Gott, wie wohl er des R. Eliesers Meinung durch so große Wunder bestättiget haben soll, dennoch endlich habe gestehen müssen, daß er Unrecht gehabt und von den weisen Rabbinen mit dem Disputiren seye überwun- den worden.“

Natürlich wird diese Expectoration des gottesfürchtigen Eisenmenger von den großen Talmudisten unter den Antisemiten wiederholt, um zu beweisen, welche lächerliche Vorstellungen die talmudischen Juden von Gott sich machen. Was ist das für ein Gott, rufen sie aus. Er läßt sich von den Rabbinen besiegen; so viel Macht bebesitzen diese; sie sind noch mächtiger als Gott in Himmel.

Hören wir jetzt den großen Florentiner, wie er den Talmud in glänzender Weise vertheidigt.

Im dritten Theile seiner „Divina Commedia“, im zwanzigsten Gesange des „Paradiso“ lesen wir folgende Verse:

„Regnum Coelorum violenzia pate
Da caldo amore, e da viva speranza,
Che vince la divina volontate;
Non a guisa che l’uom all’ uomo sovranza, Ma vince lei, perchè vuole esser vinta,

E vinta vince von sua beninanza.

Das Reich der Himmel leidet Ueberwält’gung
Durch brünst’ge Lieb und durch lebend’ge Hoffnung, Von denen Gottes Wille wird besieget.
Nicht, wie der Mensch den Menschen überwältigt, Vielmehr siegt er, weil er sich läßt besiegen,
Und so besiegt, siegt er durch seine Güte.“

Diese herrlichen Verse Dante’s sind der poetische Commentar zu unserer von Eisenmenger verspotteten Allegorie. Gott läßt sich besiegen, nicht etwa, weil er wie ein Mensch überwältigt wird, sondern weil er sich willig besiegen läßt und obwohl besiegt als Sieger aus dem Kampfe hervorgeht. Bei Dante ist es seine eigene Güte, von welcher sein göttlicher Wille sich besiegen läßt; im Talmud – ist es sein Ebenbild oder die, dem Menschen verliehene göttliche Vernunft, welche gegen Wunderzeichen und Himmelsstimmen kraft ihrer Denkgesetze und Schlüsse siegt. Es siegt die Liebe in Gott, wenn sein Wille der brünstigen Liebe und der lebendigen Hoffnung der Menschen nachgiebt; es siegt die Weisheit in Gott, wenn ihre Tochter, die menschliche Vernunft, nicht vor Wundern und übernatürlichen Manifestationen sich beugt, sondern sich selbst und der ihr innewohnenden Gotteskraft vertraut.

Die jüdischen Commentoren haben sich sehr viel Mühe gegeben, unsere talmudische Allegorie zu deuten, besonders die Schlußstelle derselben; der unsterbliche Dichter der „Divina Commedia“ commentirt sie am besten und belebt ihren Schlußsatz mit dem poetischen Hauche seines „Para- dieses.“

Der feindseligste aller modernen Antisemiten, E. Dühring in Berlin, will den Einfluß des jüdischen Schriftthums auf Dante verantwortlich machen für die grausamen Strafen, die er in seiner Hölle über die Verdammten verhängt. Wohl hat er nach dem Urtheile Gioberti’s die Sprache der Bibel auf die wunderbare Diction der Divina Commedia mächtigst eingewirkt;** was aber die Hölle betrifft, so hat deren Schöpfer sich durchaus nicht vom Geiste des Judenthums inspiriren lassen.

Wahrhaft rührend ist es, wenn Dante in dem „limbo“ oder in dem „Vorhof“ der Hölle die edels- ten Griechen und Römer „sonder Hoffnung in Sehnsucht schmachtend“ sehend, weil sie der Taufe entbehren, wehmüthig ausruft:

„Gran duol mi prese al cor quando lo intesi, Perrocchè gente die molto valore
Conobbi che in quel limbo eran sospesi.“

„Als ich dies hört’, ergriff mich tiefer Schmerz,
Weil ich erkannte Leute großer Tugend,
Die in dem Zwischenreich des Vorhofs schwebten.“

Wäre Dante’s großes Werk vom Hauche des Judenthums durchweht, † so hätte der Anblick von Sokrates und Plato in dem „limbo“ das Herz des Dichters nicht mit Schmerz erfüllt; denn die Pforten des Paradieses stünden ihnen offen! Der einzige Ausspruch des göttlichen Plato, daß der Mensch ein Ebenbild Gottes genannt zu werden verdient, verleiht ihm ein Anrecht, neben Ben Asai einen Platz einzunehmen, welcher den Vers, daß alle Menschen im Ebenbilde Gottes geschaffen sind, als ein Grundprincip des Judenthums erklärte. Die jüdische Hölle ist eng, das jüdi- sche Paradies ist sehr weit und hat Raum für die edlen und Guten aller Nationen. Das „Gan Eden“ oder jüdische Paradies ist ein Pantheon, in welchen die Frommen der gesammten Menschheit ohne Unterschied der Race und der Religion weilen und wandeln und auf dessen Eingang der Psalmvers zu lesen ist:

„Diese Pforte führt zu Gott:
Alle Frommen ziehen durch sie ein.“

* Das Wort chajech, er lachte, übersetzt dieser Professor: Ich schwöre dir bei deinem Leben, als hieße es: Chajecha!

** Il padre della nostra poesia e della nostra prosa fù squisitamente biblico, non solo nella Divina Commedia, ma nel Con- vivio e nelle altre sue opere e sarebbe utile e curioso lavoro il raccogliere gli orietanlismi di questo genere che sono spar- si per le tre Cantiche. Del Primato morale e civile degli Italiani pag. 396.

† Dieser Punkt wird noch in einem anderen Zusammenhange, in der III. Serie der „Sprichwörter“ nämlich, von uns erörtert werden.

➥ Zur Biographie: Karl Goldmann

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 26. Jahrgang, Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f / Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

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Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f

 

I.

Wohl in der ganzen Literaturgeschichte dürfte es nicht zwei Repräsentanten eines und desselben Stammtypus geben, welche in so diametraler Richtung einander gegenüberstehen, wie Nathan und Shylok. Wird der Jude schon im gewöhnlichen Leben als Hauptvertreter der materialisti- schen, nur auf das rein Praktische gerichteten Lebensweise anerkannt, um wie viel ungerechtfertigter, – so die Ansicht sehr Vieler, – demselben in der Poesie einen Platz geben zu wollen. Wir selbst aber, die in der Bühne keineswegs ein Institut momentanen Zeitvertreibes durch geist- und sinnlose Wiedergabe alltäglicher menschlicher Vorfälle erblicken, sondern auch den hohen ethischen Werth derselben eifrigst anerkennen, begreifen nur zu sehr, welche treibende sittliche Kraft einen Lessing und Shakspeare bewogen haben mochte, Gestalten, wie einen Nathan und Shylok auf die Bühne zu bringen. Der Erstere nannte in richtiger Erkenntniß die Bühne eine Kanzel, vor der aus er seine Ideen, aber nicht blos in theatralisch-reformatorischer Beziehung, sondern in einer den Fortschritt des menschlichen Geistes scharf kennzeichnenden Richtung in die Menge zu streuen wußte; Letzterer, der ebenfalls die Bühne als Spiegel und Schule des menschlichen Lebens betrachtete, um uns durch seine mächtige Darstellungsweise menschlicher Leidenschaften alle gefahrbringenden Irrthümer zu zeigen und uns von denselben zu befreien. Wenn wir von den jüdischen Episodengestalten moderner Vorstadtdramen absehen, die nur dazu dienen, durch eine mauschelnde Darstellungsweise das Lachbedürfniß roher ungebildeter Hausknechte zu befriedigen, so müssen wir zugestehen, daß Nathan und Shylok die einzigen jüdischen Typen sind, die in der Weltliteratur ihren bleibenden Platz einnehmen werden. Zu zeigen, in wie weit dieselben Bezug auf das Judenthum nehmen, sei der Zweck vorliegender Skizze. Beide Ansichten, sowohl die, daß im Nathan ausschließlich die Verherrlichung des Judenthums gefeiert wird, gegen die das Christenthum in gänzlich ungerechtfertigter Weise zurückstehe, wie die der erbittertsten Feinde des Judenthums, daß in der Gestalt des Shylok allein das gesammte Judenthum seine richtige Charakterzeichnung erhalten habe, wollen wir hier einer näheren Prüfung unterziehen und zeigen, wie nötig es sei, sich nicht bloß dem ersten Eindrucke hinzugeben, den die beiden Dramen auf uns ausüben, sondern alle weiter liegenden Umstände prüfend zu betrachten, um zur richtigen Erkenntniß zu gelangen, ob und warum die beiden Gestalten des Nathan und Shylok Repräsentanten des Judenthums in seiner Totalität darstellen. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern nur durch eine concrete Darstellung zum Ausdruck gebrachte Träger eines allgemeinen Principes. Lessing wollte durch seinen Nathan den Gedanken zur sinnlichen Anschauung bringen, daß das rein Menschliche alle Fesseln durchbreche und die Ausschließung der Bekenner einer positiven Religion von denen einer anderen endlich aufheben müsse. Es ist dies ein großes Princip, das auch nur in einer großen, keineswegs particularistisch auf das Einzelne gerichteten Seele Platz greifen konnte; die Auflehnung eines geistig freien Mannes gegen allen übertriebenen Religionshochmuth, gegen eine kleinliche Unduldsamkeit.

Nur wer sich ein recht klares Bild von der damaligen Zeit machen kann, von der Stellung, die Lessing seinen theologisch-fanatschen Gegnern gegenüber einnahm, die Wunden kennt, die er durch den christlichen Hochmuth erlitten, kann begreifen, welche tiefinnere Ueberzeugung von der Wahrheit seines Principes, welches Bewußtsein seiner Fähigkeit Lessing beherrscht haben mußte, um an die dramatische Verkörperung einer solchen, den Humanismus in seine vollen Rechte einsetzenden Idee schreiten zu können. Lessing wollte den confessionellen Hochmuth demüthigen, indem er dem Juden-, Christen- und Heidenthum gleichen Werth zuerkannte, um so seine, bis jetzt allerdings noch nicht ganz erreichte Idee, von der Gleichberechtigung aller Menschen, zum Ausdrucke zu bringen. Die Frage, warum dieser Humanitätsgedanke gerade in einem Juden seine Verkörperung erhalten, darf nicht auf die gebräuchliche Weise beantwortet werden. Die Ansicht, daß das so verachtete Judenthum über seine Hasser und Verächter triumphiren wollte, indem sich gerade in ihm das rein Menschliche so herrlich entfaltet zeigt, löst deshalb die Frage nicht, weil sie nur auf der Basis rein polemischer Beziehungen steht; ebenso oberflächlich wäre das Urtheil, daß Lessing nur deßhalb einen Juden gewählt habe, um ausschließlich seinen Spinozismus oder seinen Freund Moses Mendelssohn, der allerdings das beste Modell ist, poetisch verherrlichen zu wollen. Der Grund muß, obwohl diese beiden Ansichten ihre größte Bedeutung für die Lösung der Frage nicht verlieren, hauptsächlich in der specifischen Eigenschaft des Judenthums selbst gesucht werden. Das Judenthum, das auserwählte Volk Gottes, ist in seinen religiösen Principien vollständig aufgegangen. Lessing konnte nicht anders, als gerade einen Juden zum Vertreter des universellen, rein menschlichen Principes machen, weil in ihm dieses Princip seinen vollständigsten Sieg errungen, weil es die gewaltigsten Hindernisse überwunden.

Nur der Jude, dessen ganzes Wesen am meisten religiösen Satzungen unterworfen ist und dennoch den Gedanken eines universellen, von aller positiven Religionssatzung unabhängigen Menschenthumes, in sich aufgenommen, darf es wagen, Dasjenige, was er selbst nach langem Kampfe sowohl gegen alle äußern als innern Hindernisse erworben, auch den Anderen zu predigen und von ihnen zu verlangen. Deshalb ist der Jude der Vertreter jenes Principes, daß jedem übertriebenen unduldsamen Religionshochmuth den Krieg erklärt und das wahrhaft Menschliche Allen an die Spitze setzt, und keine Unterordnung desselben dulden will. Der Jude hat sich durch alle finsteren Engen durchwinden, alle Qualen der Unterdrückung des Hasses und der Verachtung vergessen müssen, ehe er den Gedanken des freien reinen Menschenthumes in sich aufnehmen konnte. Und deshalb ist er allein dazu berufen, die Idee der Gleichberechtigung aller Religionen, die Idee der wahren Humanität zu verkörpern. Man hatte den „Nathan“ für eine Auflehnung gegen die bisherige Ordnung, die dem Judenthum und dem Mohammedanismus die inforiorste Stellung zuwies, gehalten, für eine satyrische Verunglimpfung des Christenthums. Das Erste hatte seinen Grund in der bekannten Parabel von den drei Ringen, das Letzte wegen der negativen Charakterzeichnung der christlichen Gestalten in dem Stücke. Gegen letzteren Vorwurf vertheidigt sich Lessing mit folgenden Gründen: „Wenn man sagen wird, daß ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt und jenerlei Leute unter Juden und Muselmännern gefunden, so werde ich zu bedenken geben, daß Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren, daß der Nachtheil des Religionshasses zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solcher Mann habe sich nun eben in einem Sultan gefunden.“ – In den Gesta Romanorum wird nebstdem zur Beruhigung christlicher Gemüther, in der Nutzanwendung der Erzählung von den drei Ringen der echte Ring in der Art auf das Christenthum bezogen, daß auch die beiden anderen durchaus nicht falsch und eitel wären. Nathan, dieses herrliche Zeugniß der Emanation des freien Volksgeistes, wurzelt allerdings in den Verhältnissen seiner Zeit und verdankt sein Entstehen hauptsächlich den Kämpfen, welche die letzten Lebensabschnitte Lessing’s ausfüllten. Die Zeit jedoch, da der tiefe poetische Kern, der in diesem Stücke so wunderbar zum Ausdruck gekommen, seine Blüthen treiben wird, ist noch nicht hereingebrochen. Die Wogen des Religionshasses rauschen noch so wild wie früher und scheinen sinnlos ohne Gegenwehr, die zarten Blüthen, die ein Nathan gezeugt, wieder vernichten zu wollen. Wer will sich heute noch an die Fabel von den drei Ringen erinnern, die alle drei die einzig wahre Religion, das wahre Menschenthum, die brüderliche Liebe Aller gegen Alle enthalten? Möchte doch durch diese Erzählung von den drei Ringen die Menschheit ewig daran erinnert werden, daß das göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl den Nationen heilig und werth bleiben müsse, daß das wahrhaft Menschliche nicht nach dem Glaubensbekenntnisse, sondern wieder nur nach dem Menschlichen fragen darf.

(Schluß folgt).

 

Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

II.

Wenn in dem so erbitterten Kampfe, wie er jetzt geführt wird, wir auf Lessings „Nathan den Weisen,“ an die in demselben zum Ausdruck gelangte Idee von der Gleichberechtigung aller Religionen hinweisen und die finsteren Agitatoren, die mit Allgewalt nebst dem so wild erregten Kampf der Nationen auch noch den der Religionen in unser Jahrhundert aufzunehmen sich bemühen, an die Auffassung des Judenthums in seiner Stellung zu den anderen Bekenntnissen erinnern wollen, dann hören wir sofort mit höhnischer Geringschätzung aus dem Munde unserer Gegner, daß wir ja gar nicht berechtigt, die Tendenz Nathans als Argument für uns zu betrachten. Nicht Nathan, nein Shylok, dieses herzlose Scheusal, das ganz im Banne der eckelsten aller Leidenschaften, des sinnlosesten Geizes, die allerheiligsten Bande des Menschenthums, die Pietät des engsten heiligsten Verwandtschaftverhältnisses, das des Vaters zu seinem Kinde, achtlos zerreißt und sich im Staube windet vor seinem Götzen Mammon, dieser Shylok allein sei der wahre Repräsentant des Judenthums. So wie er, so Alle vom jüdischen Stamme! Nun, wir stehen nicht an, wenn wir zu Begründung unsere Ansicht, daß das Judenthum den anderen Religionen zum mindesten ebenbürtig, Lessings „Nathan“ erwähnen, auch den Shylok in das Auge zu fassen. Freilich fällt es unseren Gegnern leicht, bei dem so scharf ausgesprochenen Geschäftssinn der Juden, Shylok als den richtigen Grundtypus des Judenthums aufzufassen. Ist es aber denn nur überhaupt denkbar, daß wenn alle Juden wären wie Shylok, die Welt noch überhaupt Bestand hätte, und die Menschen nicht schon längst sich hätten gegenseitig zu Grunde richten müssen. Und wo haben wir denn die wahren historischen Beweise, daß es einen Juden Shylok, ja überhaupt einen Menschen von einer solchen, allen Gefühlsgesetzen hohnsprechenden Grausamkeit, die nach Baco’s Worten jedem Guten ohnehin als eine fabelhafte, tragische Fiction erscheinen muß, gegeben habe. Gibt man sich dem Eindrucke, dem Shylok in psychologischer Beziehung ausübt, so ohne jede weitere logische Nachforschung hin, dann allerdings wirkt die scharfe Charakterzeichnung des Juden derartig nach, daß man nur zu sehr geneigt ist, ihn als Grundtypus des ganzen Judenthums aufzufassen. Beschäftigt man sich aber mit dem Stücke etwas eingehender, dann wird man bald zu dem Resultate gelangen, daß man an die Stelle des Juden Shylok ebensogut den Christen Shylok setzen kann. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern bringen nur eine gewisse Idee in concreter Gestaltung zu einer allgemeinen Darstellung.

Wie Nathan uns im Gewande der Poesie, der herrlichsten Rhetorik, zeigen will, daß es auch unter den Juden edle Menschen gäbe, daß keine Religion das Recht habe, ihren Ring als den einzig echten und werthvollen zu bezeichnen, und somit das edle Gesetz der Toleranz zu seinem Inhalte macht, so will auch Sheakespeare durch seinen Kaufmann von Venedig nichts Anderes, als den Grundsatz des Summum jus, summa iniuria, den Schein des abstrakten Rechtes, durch eine dramatische Verkörperung zum Ausdrucke bringen. Die Ursachen, weshalb ein Jude zum Vertreter jenes Scheusals, das sich auf sein Recht des Pfund Menschenfleisches als Pfandobjekt stützt, genommen wurde, sind leicht zu ergründende. Es ist eines der ersten dramatischen Gesetze, daß die Handlung des ernsten Dramas eine wahrscheinliche sein müsse. Erfüllt nun der „Kaufmann von Venedig,“ dieses psychologisch allerdings wunderbar ergreifende Gemälde, diese Forderung? Ist es denn nicht ein Widerspruch der gesunden Vernunft, anzunehmen, daß unter Menschen, wie sie Sheakespeare in seinem Stücke schildert, ein solches Schuldverhältniß habe bestehen können, das dem Gläubiger das Recht gibt, bei Nichteinlösung der Schuld sich als Aequivalent dafür aus dem Leibe seines Schuldners ein Pfund Fleisch schneiden zu dürfen? Wenn wir diesen, ästhetisch ganz unberechtigten Kernpunkt des Stückes nicht begreifen können, dann müssen wir uns an die eigenthümliche Art und Weise, wie Sheakespeare ganz lose, unzusammenhängende Fabeln benutzte, um daraus seine herrlichsten Dramen zu machen, vor Augen halten. Die Fabel des Kaufmanns von Venedig, die wie der berühmte Forscher Max Müller nachgewiesen, bereits in der indischen Götterlehre, anläßlich eines Streites zwischen Indra und Ugni vorkommt, ist aus zwei ursprünglich getrennten Erzählungen, von dem Rechtshandel um das Pfund Fleisch und von den drei Kästchen zusammengeschmolzen. Beide finden sich in der bekannten Sammlung der Gesta Romanorum. Vielleicht ist der Stoff des Stückes schon vor Sheakspeare in einem älteren Stücke bearbeitet worden; Gosson spricht in seiner „Schule des Mißbrauches“ von einem Stücke „Der Jude“, dessen Inhalt die Habsucht weltlicher Freier und die Blutgier der Wucherer darstellt. Wenn Sheakespeare den Shylok zu einem Juden macht, dann müssen wir uns nur an die Zeit erinnern, in der er lebte. Unterschied sich doch dieselbe, was das Verhältniß des Christenthums zum Judenthume anbelangt, auch nicht durch das Allergeringste von den heutigen, wurzelte doch auch sie in dem tiefsten Hasse gegen Alles, was jüdisch war. Wo hätte Sheakespeare einen bes- seren Repräsentanten für die Symbolisirung des herzlosesten Geizes finden können, als in dem er Einen aus jenem verachteten und weniger als das Thier geschätzten Volke, dem Judenthume, nahm, das von jedem Sonnenstrahl der freien Selbstentwickelung mit der Hetzpeitsche zurückge- trieben, erkannt hatte, daß es nur durch die Macht des Geldes sich aus seiner geknechteten Parialage befreien könne. Wie hätte Sheakespeare es wagen dürfen in seiner Zeit, in der des strengsten Puritanismus, einen Christen so zu zeichnen, wie er es mit dem verachteten und gebrandmarkten Judenthum durfte.

Wollte aber Sheakespeare durch seinen Shylok absichtlich das Judenthum brandmarken, oder war nicht vielmehr er, der in allen seinen Werken die Beziehungen der Religionen vermeidet, nur durch die Verhältnisse seiner Zeit gezwungen, einen inferioren Juden als ein unbeanständetes Vorbild für seinen Shylok, dieses von der Leidenschaft des Goldes dämonisch durchwühlte Unding, zu nehmen? Was wußte Sheakespeare von der Emancipation der Juden? Und trotz Alledem können wir ganz unbefangen die Behauptung aufstellen, daß durchaus keine antisemitischen Motive, kein wüthender Haß Sheakespeares gegen die Juden ihn dazu veranlaßten, Shylok zu einem Juden zu machen, den der Schauspieler Bourbadge zu Sheakespeares Zeiten auch in eckelhafter äußerer Gestalt, mit langer gebogener Nase und brennend rothem Haare gab. Und wenn in diesem Stücke der Jude Shylok von glühendem unerbittlichen Hasse gegen den Christen Antonio erfüllt ist, wer darf deshalb behaupten, daß das ganze Judenthum von demselben Hasse gegen das Christenthum erfüllt sein müsse. Shylok sieht sich in seinen allerheiligsten Interessen, in denen des Gelderwerbes von dem Christen Antonio getäuscht; und nur deshalb haßt er ihn, nicht weil er ein Christ ist, sondern weil er durch ihn beschimpft, verhöhnt wird und materielle Einbuße erleidet. Nicht gegen den Christen Antonio wüthet sein Haß, nur gegen den unpraktischen Kaufmann, der schon in der Nutzbarmachung des Capitals durch Zinsen den ärgsten Wucher erblickt, und von falschen Principien geleitet, den Werth des Geldes herabzudrücken versuchte. Also nicht auf dem Boden religiöser Gesinnung wurzelt der Haß zwischen dem Juden Shylok und dem Christen Antonio, sondern auf dem ihrer gemeinsamen Kaufmannsinteressen. Noch zwei gewichtige Factoren sind es, die uns zur Ueberzeugung führen müssen, daß Sheakespeare durchaus nicht von Judenhaß erfüllt war, und daß zwischen Shylok und dem wahren Judenthume ein greller unlösbarer Widerspruch besteht.

Wenn es Sheakespeare darum zu thun gewesen wäre, durch seinen Shylok das ganze Judenthum als unmenschlich und grausam darzustellen, wie hätte er dann Jessika, dem Judenmädchen einen so innigen herrlichen Charakter verleihen können. Was den zweiten Widerspruch anbelangt, so ist derselbe von solcher Kräftigkeit, daß selbst die erbittertsten Feinde des Judenthums es anerkennen müßten, daß Shylok und das Judenthum die disparatesten Dinge sind. Wenn der durch Jahrtausende eingewurzelt und fast unauslöschbare Haß den Juden auch alle möglichen Laster und Fehler vindicirt, an dem innigen Verwandtschaftsverhältniß, an der unendlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern bei den Juden, und umgekehrt, hat noch Niemand gerüttelt. Wissen es doch Alle, daß der Jude keine, auch noch so schwere Last scheut, wenn es gilt, seinen Kindern Gutes zu erweisen, und er hungernd und frierend, verhöhnt und gemartert, in seinem heiligsten Gefühle, das er seit seiner Jugend gleichsam als Ideal in sich getragen, in seiner Religion verletzt und geschmäht, doch Alles geduldig erträgt und sich freudig die bittersten Opfer auferlegt, nur um seine Kinder froh und zufrieden zu sehen. Und Shylok, der freudig aufjauchzen möchte, wenn er seine Tochter selbst todt zu seinen Füßen sehen würde, aber nur mit den kostbaren Juwelen im Ohre und den ihm genommenen Dukaten, Shylok, der lieber den Tod seines einzigen Kindes, als den Verlust einiger Goldstücke herbeiwünscht, könnte ein Jude sein! Freilich, wer in jedem Juden gleich a priori schon einen Shylok erblickt, dem dürfte diese Beweisführung nicht besonders kräftig erscheinen, für den ist allerdings nicht Nathan, sondern Shylok getroffenes Portrait des Judenthums und seiner Eigenschaften. Und trotzdem wollen wir hoffen, daß einst die Zeit kommen wird, wo von allen insgesammt die Idee Nathan’s aufgenommen und ins wirkliche reale Leben übertragen werden wird.

 

➥ Zur Biographie: Ada Fischmann

In: Selbstwehr, 20. Jahrgang, Ausgabe 13-14 vom 29.03.1926 im Beiblatt „Blätter für die jüdische Frau“, S. 4

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Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Das Referat soll die Frage von allen Seiten umfassen. Von der Tribüne dieser Tagung, die auch die Wiege der Arbeiterinnenbewegung war, müssen diese Worte gehört werden. Ich muß vor allem die Vorwürfe, die im Saale herumschwirren, beseitigen. Man glaubt, daß die Frage eine konventionelle ist und man sie von der Tagesordnung absetzen müsse. Diese Vorwürfe erregen Sorge. Es scheint, daß die Uebereinstimmung, die im Herzen von allen äußeren Anstalten bis zu unseren Anstalten zu schlagen begonnen hat, Zeichen der Erstarrung zu bringen scheinen, und dies ist gefährlich. Es gab eine Zeit, da wir forderten und an Reformen und Aenderungen der Weltordnung glaubten. Und jetzt stimmen wir allem zu. Drei Dinge müssen unsere Grundeinstellung sein

  1. Daß das Stärkerwerden der Alijah, ihre Erweiterung und ihre Aufnahme abhängig ist von der Erweiterung der Arbeitszweige für die Arbeiterinnen.
  2. Daß durch den eigenen Standpunkt der Chawerah in allen Gestalten der Ansiedlung, in Dorf und Stadt, unsere Existenz ermöglicht wird.
  3. Daß aus der nationalen und sozialen Erkenntnis heraus, die die Arbeiten der Frau begleitet, wir es ermöglichen, das nationale und soziale Gebäude aufzurichten. Ein arbeitendes Erez Israel ist unmöglich, wenn nicht die Chawerah selbst sich für einen unmittelbaren Faktor des Aufbaues hält.

Die Zahl der Chaweroth im Lande beträgt etwas 6000. Wenn wir diese Zahl nach den Arbeiten, mit denen sich die Chaweroth befassen, zergliedern, wird es augenscheinlich, daß die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiterinnen sehr klein ist. In der Kunizah schlägt man sich mit der Frage herum, wenn es auch nicht zu leugnen ist, daß es Kwuzoth gibt, wo es nötig ist, daß diese Frage nach der Lage der Chawerah und ihrer Haltung gestellt werden müsse. Aber in der Stadt schaut die Masse auf die Arbeit der Arbeiterinnen wie auf eine vorübergehende Arbeit und man will sie irgendwie hiervon ausschließen. Wenn wir wirklich alle die landwirtschaftliche Arbeit für die Grundlage unseres Lebens halten, kann ich nicht umhin zu sagen, daß man auf keinen Fall die Frage der Erweiterung der Arbeiterinnen-Alijah durch die Landwirtschaft lösen kann, und es ist notwendig, daß sich dort Tausende von Arbeiterinnen befinden, für die wir einen Stützpunkt finden müssen. Man behauptet, daß die Arbeit der Arbeiterinnen eine vorübergehende sei, bis die Krise zu Ende ist. Diese Meinung ist nicht zu billigen, denn sie raubt die Möglichkeit, die Notwendigkeit der Eroberung der Arbeitszweige für die Arbeiterin zu erkennen In unser Land kommen Chaluzoth im Alter von 18 bis 19 Jahren: sie können, bis sie zum Familienleben gelangen, noch etwa 6 Jahre produktive Arbeit leisten. Mit dem vorübergehenden Zustande der Chawerah braucht man sich nicht zu beschäftigen. Man sieht ruhig, daß es nicht viele Arbeitszweige gibt, die für die Chawerah passen; denn viele Beschäftigungen ziehen körperliche Schädigung nach sich. Aber warum bringt man nicht in Rechnung, daß Dienen in Privathäusern eine geistige Schädigung nach sich zieht? Man klagt, daß es den Arbeiterinnen bei der Bauarbeit schwer ist, die heißen Sonnenstrahlen zu ertragen, aber auch im Garten brennt die Sonne. Man klagt auch, wie die Chawerah bei der Glaserei arbeitet. Wenn das Fenster sich im Zeiten oder dritten Stock befindet und man will nichts davon wissen, daß es möglich ist, das Gerüst des Fensters bis zum ersten Stock herunterzulassen. Und beim Bau der Wände, wo gerade der Chawer es ist, der stärker ist, muß er bei der Wand stehen und die Chawerah die Ziegel anreichen und nicht umgekehrt? Wenn das gegenseitige Verständnis da wäre, begriff die Chawerah diese Arbeit und es würde sich auch das Arbeitsverhältnis der Arbeitgeber hierzu ändern. Einmal herrschte große Furcht für jedes Haus, das durch die jüdischen Arbeiter gebaut wurde. Wir haben die Häuser gebaut und sie stehen. Es besteht schon ein festgelegtes Verhältnis und man denkt nicht an eine Möglichkeit der Aenderung. Es gibt Arbeitszweige, die man monopolisieren kann: Färberei, Glaserei u. dgl. Und wir müssen sie in den Rahmen der Arbeit für die Arbeiterinnen aufnehmen. Dies ist keine Frage des Organisationswillens allein. Wir fordern das Recht auf Arbeit. Es ist unmöglich, die Arbeiterinnen im Zustande einer ewigen Arbeitslosigkeit zu lassen, weniger Mitleid und etwas mehr Verständnis! Ich verlange eine gerechte Einteilung und es wäre wirklich nötig, Tausende von Chaweroth zur Demonstration aufzurufen, um die gerechte Forderung zu stellen. Es ist unmöglich, daß Arbeit, die für Arbeiterinnen paßt, nicht in unserer Hand ist. Es ist möglich, viele Chaweroth in die Kolonie aufzunehmen; dies ist sehr wichtig. Dies wird den sozialen und kulturellen Zustand der Chaweroth heben und dieses fehlt völlig in der Stadt. Dort ist die soziale und kulturelle Lage ganz und gar schlecht. Sie nimmt keinen Anteil am Leben der Allgemeinheit und wir dürfen nicht vergessen, daß sie die Erzieherinnen des kommenden Geschlechtes sein sollen.

Wir wollen Arbeiterinnen-Kwuzoth gründen. Man hat diese immer wie Klöster angesehen, aber jetzt haben wir uns schon daran gewöhnt. Durch die Kwuzoth hatten wir das Ziel, die Chaweroth der Histadruth und der Allgemeinheit zu nähern. Denn so lange sie von der Allgemeinheit entfernt ist, fehlt der Chawerah jedes Interesse und Inhalt am Leben und der Arbeit.

Im Berichte der Kolonien betonte man uns gegenüber, daß es einen so und so großen Prozentsatz von Chaweroth gäbe. Warum gibt man nicht den Prozentsatz der Chawerim an? Warum hebt man die Zahl der Chaweroth hervor? Die Hauptsache ist, daß dieser oder ein anderer Prozentsatz der Chaweroth zu eine Defizit führt. Es ist schon geläufig, daß wir allein das Defizit machen und sonst überhaupt kein Defizit vorhanden wäre. Es besteht ein Unterscheid zwischen arbeitslosen Mädchen in der Chawuroh und zwischen arbeitslosen Mädchen in der Chawurah und zwischen der Einzelnen. Die Einfühlung in die Chawuroh ist schwer genug, dort herrscht noch die Beziehung. Es fehlen die wegweisenden Kräfte. Die Chawuroth haben uns wirklich als ein großer Aufnahmebehälter gedient. Und vielleicht findet man auch dort die Lösung für die Arbeiterinnen. Trotzdem empfangen auch sie Hilfe dafür. Wenn man mehr Arbeiterinnen anstellt, fordert man Geld für jede einzelne Chawerah. Warum fordert man dies auch nicht für den Chawer? DIes ist die Triebfeder der sehr schweren Einfühlung. Ich nannte diese Angelegenheit „Mitgift“. Dies beweist nur, daß die Arbeiterinnenfrage in besonderer Art und Weise besteht. Hier ist eine besonders einschneidende Tatsache zu bemerken. Aus dem Einwanderungsheim brachte man eine große Anzahl von Arbeiterinnen heraus und es blieben 25 Chaweroth zurück, für die man keine Einteilung fand und die sich in Hotels herumtreiben . . . Die Fabriken von Goldberg, die Herstellung von Matten und die Tabakarbeit sind noch keine Lösung. Notwendig ist es, Hilfswirtschaften bereit zu stellen. Den Hilfsinstitutionen für Arbeiterinnen muß die Sorge obliegen, Boden zu erwerben, um ihnen eine produktive Arbeit zu ermöglichen.

Die Wirtschaften der Arbeiterinnen sind der einzige Lichtblick für die Chaweroth im Lande und im Auslande. Dies ist der hauptsächlichste und bedeutsamste Ort für die Vorbereitung und Einfügung der Arbeiterinnen. Es gab Zeiten, wo wir auch im Merkas hiefür gekämpft haben. Der Merkas glaubte nicht an sie und nur dank unserer Hartnäckigkeit verwirklichten wir sie. Nicht der Merkas schuf sie, sondern die Chaweroth, die das Joch zogen. Die Wirtschaft der Arbeiterinnen ist nicht für die Vorbereitung allein da und es ist verboten, zu sparen und sie so einzuschränken. Sie ist in meinen Augen auch ein Ort für die Pflege der Gedanken. Ich verneine nicht seinen Wert für die Vorbereitung. Aber von einem anderen Gesichtspunkte aus erzeugte er den starken Wunsch, der unter den Arbeiterinnen für Selbstarbeit entstand, daß sie selbst die Wirtschaft zu leiten und zu ordnen hätten und sie als ein Ort der wirtschaftlichen und kulturellen Vervollkommnung zu dienen hätte. Durch solche Wirtschaften gewinnen wir auch das Vertrauen der Masse der Arbeiter. Die Zahl der Arbeiterinnenwirtschaften im Lande ist weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht befriedigend. Wir haben alle unsere Kräfte hineinversetzt, damit kein Defizit entstünde. Und diese Wirtschaften sind auch nicht dazu da, hunderte, die an ihre Tore klopfen, aufzunehmen. Diese Wirtschaft ist die einzige Lösung für die Frage der Arbeiterinnen. Wir müssen mit großen und energischen Taten beginnen. Selbstverständlich wollen wir heute nicht die städtischen Arbeiten verlassen, aber wir müssen ein großes Werk schaffen, das Hunderte und Tausende von Arbeiterinnen zu beschäftigen imstande ist und dies ist nur bei der Landwirtschaft möglich. Ich habe den Vorschlag gemacht, eine Wirtschaft für Anbau von Gemüse auf bewässerten Nationalfondsland für 200 euch bekannte Arbeiterinnen zu schaffen. Um eine solche Wirtschaft in der Umgebung von Neß-Zionah aufzubauen, liegt schon ein praktischer und inhaltsreicher Vorschlag vor. Aber wir müssen auch solche Wirtschaften auf Böden, die in der Nähe von Städten gelegen sind, anlegen. Der Nationalfonds muß große Flächen hierfür anweisen.

Ich sehe eine Notwendigkeit, an die Errichtung einer Arbeiterinnenwirtschaft für 200 Chaweroth heranzutreten. Auch der Nationalfonds neigt dazu, dieser Frage jetzt zuzustimmen. Die notwendigen Schritte sind schon eingeleitet worden. Diese große Schar soll euch nicht erschrecken. Wie ihr zur Zeit auch nicht an eine Wirtschaft von 25 Chaweroth geglaubt habt, und der Versuch trotzdem geglückt ist, so hoffen wir auch, daß dies jetzt glücken wird. Wir brauchen hierfür eine Summe von 15.000 ägyptischen Pfund, und wenn wir eine große Sache wollen, können wir auch diese große Summe bekommen. Diese Summe muß vollständig gegeben werden. Die große Wirtschaftsform verspricht, den Pessimismus zu verkleinern und die Aktivität der Chawerah zu vergrößern. In dieser Wirtschaft können wir auch Arbeitszweige für Selbstversorgung angliedern, wie Schusterei Klempnerei, Herstellung von Stoffen (aber keine Fabrik für Zigarren). Dieser Zug lehrt die Oeffentlichkeit an die Kraft der Arbeiterinnen glauben und vertrauen. Wegen der Bedeutung dieses Werkes für die Allgemeinheit glaube ich, daß sich eine Kwuzah von Chaweroth, die sich für ihre Verwirklichungen einsetzt, finden läßt. Ich glaube, daß die Allgemeinheit alles, was in ihrer Kraft ist, tun wird und auch hierfür von den Wirtschaften die erprobtesten Chaweroth zur Verfügung stellen wird.

Für die neue Ansiedlung ist wirklich kein Geld da, aber eine Arbeiterinnenwirtschaft ist keine neue Ansiedlung. Es gibt auch andere Quellen, wie die Frauenorganisation, die ihre Gelder, die für unproduktive Werke ausgesetzt sind, hierfür zur Verfügung stellen könne. Ich glaube schon jetzt an die zweite Wirtschaft in Ogedro. In Neß-Ziona werden sie noch in Nissan eintreffen und die Freude der Arbeiterschaft wird nicht geringer sein als die Freude der Arbeiterinnen.

Jetzt noch einige Worte über die Frauen der Chassidim: Groß ist die Sorge um das Los dieser Siedlungen. Ich zweifle daran, ob diese jungen Frauen die Liebe zum Lande hergebracht haben, ob wir den Weg zu ihnen finden; sie müssen sich an unserer Arbeit beteiligen.

Der landwirtschaftlichen Merkas bedarf einer besonderen Abteilung für diese Fragen, um diese Sache bald ins Reine zu bringen und sie zu ordnen. Man muß die bestehenden Wirtschaften vergrößern und vervollkommnen. Sie bedürfen einer wissenschaftlichen Hilfe. Es ist notwendig, eine Aufsichtsbehörde für die Arbeiterinnenwirtschaft einzurichten, denn die Chaweroth, die sie geschaffen haben, gehen zu anderen Arbeiten über und die Wirtschaften kommen in den vollkommenen Besitz der neuen Chaweroth, die an ihre Stelle treten.

Zwölf Jahre sind vergangen, seit die ersten Chaluzoth hergekommen sind. Tausende schlossen sich dem Gedanken der Selbstarbeit und der Schaffung eines neuen eigenen Lebens im Laufe der Jahre an. Wir werden diese Arbeit fortsetzen, bis sie zum Erbteil vieler geworden ist.

➥ Zur Biographie: Lionel L. Cohen

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 24. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 17.10.1884, S. 393f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Von Herrn Lionel L. Cohen, Präsidenten des Board of Guardians for the Relief of Jewish Poor erhalten wir folgende Zuschrift:

„London, 8. October 1884 (19. Tischri 5645).

„Geehrter Herr Redacteur!
Als Präsident der hiesigen jüdischen Armencommission halte ich es für meine Pflicht, vermittelst Ihres weit verbreiteten Organes einen eindringlichen Warnungsruf an unsere Glaubensbrüder in Deutschland, Rußland und Oesterreich ergehen zu lassen, um ihnen von einer Einwanderung nach hier, in der Erwartung, entweder hier einen Lebensunterhalt zu finden, oder von hier aus zur Weiteremigration nach Amerika assistirt zu werden, auf das Allerentschiedenste abzurathen. Ich fühle mich zu diesen Mahnruf gedrungen, da es zu meiner Kenntniß gekommen ist, daß continentale Comités keine Bedenken hegen, viele der nothleidenden Brüder zur Reise nach England zu überreden und ihnen zu diesem Zwecke nur gerade genug Mittel geben, um London zu erreichen. Sämmtliche Zweige der Industrie, des Handels und Gewerbes sind hier zu Lande mehr als überfüllt, tagtäglich wächst die Noth, überall stößt man auf Hunderte von Beschäftigungslosen die gern irgend welche Arbeit verrichten würden, wenn sie solche nur finden könnten. Die russischen Verfolgungen und die religiös-sozialen Reibungen auf dem Continent während der letzten drei Jahre, haben seitdem die Reihen unserer Unterstützungsbedürftigen bedeutend verstärkt, und wenn es Diesen, die, nachdem sie hier schon angesiedelt, und mit unserer Sprache, Sitten und Gebräuchen einigermaßen vertraut sind, schwer fällt, einen Lebensunterhalt zu finden, wie kann es da erst den Neuankommenden ergehen! Früher ward es uns ermöglicht, die durch den Zufluß der fremden Armen entstehenden Schwierigkeiten zu überwinden, indem wir einem Theil derselben zur Weiteremigration nach den vereinigten Staaten behülflich waren: aber dieser Ausweg steht uns nicht mehr offen; die amerikanischen Behörden haben uns eindringlich gewarnt, daß sie nur rüstigen und wirklich arbeitsfähigen Emigranten das Landen gestatten, und daß selbst solche etwas eigene Mittel besitzen müssen. Manche der Emigranten, die diesen Anforderungen nicht entsprechen konnten, sind wieder nach Europa zurückgeschifft worden und abgesehen von dem auf solche Weise unnütz verschwendeten Gelde, sind diese Armen dadurch großer Noth und Entbehrung ausgesetzt gewesen. Wir waren stets gerne bereit, unseren vom Continent kommenden Brüdern, soweit es unsere Mittel erlaubten, hülfeleistende Hand zu reichen, und mit gerechtem Stolze können die Juden Englands auf ihr Bemühungen in dieser Hinsicht deuten, die es tausenden von deutschen und russischen Glaubensbrüdern ermöglichten, sich erfolgreich in Amerika und den Colonien niederlassen oder hier zu Lande einen wenn auch weniger sichern Lebensunterhalt zu finden. Wie die Verhältnisse aber jetzt liegen, außergewöhnliche Leblosigkeit in Handel und Gewerbe hier, außergewöhnliche Beschränkungen für Einwanderer in Amerika – ist es unsere Pflicht unsere Brüder dringend darauf aufmerksam zu machen, daß es, wenn der Zufluß der Einwanderung wie bisher anhält oder gar größere Dimensionen annimmt, es uns absolut unmöglich sein wird, ihnen hier Hilfe zu gewähren, daß sie ohne solche der Noth erliegen oder schließlich wieder in ihre alte Heimat unter schlimmeren Verhältnissen, als sie sie verlassen, zurückkehren müssen.

Mein eindringlicher, wohlgemeinter brüderlicher Mahnruf ergeht daher an als die Institutionen, deren Aufgabe es ist, der Noth unserer leidenden Brüder abzuhelfen, die bisherige Weise, sie einfach nach hier zu schicken, aufzugeben. Mit dem Hierhersenden ist den Armen nicht geholfen, im Gegentheil wird ihr Leiden durch bittere Enttäuschung und zwecklose Hin- und Herfahrt nur unnütz vergrößert.

Ich bitte Sie, geehrter Herr Redacteur, mich in dieser Angelegenheit durch Veröffentlichung dieses Schreibens in ihrem vielgelesenen Blatte zu unterstützen.

Genehmigen Sie etc.

Zur Biographie: Klara Blum

In: Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs, 44. Jahrgang, Ausgabe 75 vom 16.03.1931, S. 5

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Der Kampf der jüdischen Arbeiterin ist ein dreifacher: er richtet sich gleichzeitig gegen die Ausbeutung des Proletariats, gegen die Sonderstellung der jüdischen Massen und gegen die Entwertung der Frau. Er verläuft unter gehäuften Schwierigkeiten und gerade darum unter dem Hochdruck revolutionärer Spannung. Ueber den bisherigen Ablauf dieses Befreiungswerkes berichten zwei Bücher aus dem roten Palästina, beide im Verlag des Arbeiterinnenrates in Tel-Aviv erschienen. Als erstes Ada Fischmanns „Die arbeitende Frau in Palästina“, eine scharf umrissene Entwicklungsgeschichte dieser Arbeiterinnenbewegung, gesehen vom Standpunkt sozialen und wirtschaftlichen Geschehens. Als zweitens, noch unübersetzt, eine Sammlung von Briefen, Gedichten und Tagebuchauszügen. Auch dieses zweite Buch, „Worte der Arbeiterinnen“, wie sein orientalisch feierlicher Titel lautet, ist ein Stück Entwicklungsgeschichte der Palästinaproletarierin. Aber von einer ganz andern, einer viel mehr verworrenen und stimmungsbetonten Seite her gesehen: von der Seite des persönlichen Erlebens und seelischen Erleidens.

Das Buch Ada Fischmanns setzt die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der Palästinabewegung, die Not und das Auswanderungsbedürfnis der verfolgten und verelendeten ostjüdischen Massen, als bekannt voraus. Ebenso die besondere sozialistische Zielsetzung der nach Palästina ziehenden jüdischen Pionierjugend: Umschichtung des haltlosen Handeltreibenden Kleinbürgertums in ein auf festem Boden schaffendes Proletariat, Aufbau neuer Siedlung und Kultur mit neu- en kollektiven Formen der Wirtschaft und des Lebens Umerziehung des weltfremden Gettomenschen, haltlosen Hausierers zum neuen starken klassenbewußten jüdischen Arbeiter.

Diese Art der Pionierbewegung, Vorläuferbewegung, die sich von den bisherigen Palästinawanderungen grundlegend unterscheidet, beginnt um das Jahr 1904. Das erstemal kommen damals auch Mädchen als selbständige Arbeiterinnen ins Land, nicht mehr wie früher als Töchter oder als Bräute der Auswandernden, sondern aus der eigenen Entscheidung heraus und zur eigenen Leistung entschlossen. Ada Fischmann, selbst eine ihrer frühesten und erfolgreichsten Führerinnen, schildert die endlosen Schwierigkeiten, die sich diesen Pionierinnen im Anfang in den Weg stellen. Sie haben nicht nur, wie ihre männlichen Genossen, mit der ungewohnten Schwerarbeit, dem ungewohnten Klima, den unmenschlichen orientalischen Lohnbedingungen zu kämpfen, sondern außerdem noch mit einer Reihe alter, zäher Vorurteile. Sie finden keine anderen Geschlechtsgenossinnen im Lande vor als die versklavte Araberin und die konservative jüdische Kolonistenfrau, welche auf die Pionierin mit Verachtung herabsieht. Man betrachtet sie als „das Mädchen, welches auf schiefe Wege geraten ist“. Ihre Selbständigkeit wird verurteilt, ihr Opfermut verkannt. Sie drängt sich zur Land- und Bauarbeit, glühend in ihrem primitiven revolutionären Willen möchte sie beweisen, daß sie nicht weniger leisten kann als ein Mann. Aber die Unternehmer, meistens orthodoxe Juden weigern sich empört, ihr Arbeit zu geben. Der Kolonist erklärt, er würde nie die Sünde auf sich nehmen, jüdische Mädchen gemeinsam mit Burschen in entlegenen Pflanzungen arbeiten zu lassen, und der Bauunternehmer behauptet abergläubisch, ein Haus, unter der Mitwirkung von Frauenhänden errichtet, müsse unfehlbar einstürzen …

Und das Schmerzlichste von allem: auch in den eigenen Reihen sind die Vorurteile da. Die männlichen Genossen, revolutionär in allem, nur nicht in ihrer Einstellung zur Frau, lassen die Genossin deutlich und unverkennbar den Widerstand gegen ihre gleichberechtigte Mitarbeit, gegen ihre radikale Selbständigkeit fühlen. Auch da, wo die Arbeiter ihre eigenen Siedlungskommunen haben, werden die Mädchen im Anfang nur sehr widerwillig zur Mitarbeit zugelassen; immer wieder gibt man ihnen zu verstehen, daß sie wirtschaftlich eigentlich eine Belastung sind Um diese Legende zu zerstören, tun sich die Mädchen zeitweise in eigenen Siedlungen zusammen, schulen sich, arbeiten mit wütendem Trotz, erzielen glänzende Erfolge. Schritt für Schritt geht ihre Bewegung vorwärts. Konferenzen werden einberufen, der Arbeiterinnenrat gewinnt an Einfluß und Geltung in der gleichzeitig immer mehr sich entwickelnden Arbeitergewerkschaft. Das große Verdienst Ada Fischmanns ist es vor allem, daß sie der Frau den Weg zur Facharbeit gebahnt hat. Tatsächlich hat ein unsinniges Vorurteil, das sich noch dazu auf die Natur berief, der Frau lange Zeit den Weg zur „gelernten Arbeit“ versperrt und sie auf die körperlich viel mehr anstrengende Hilfsarbeit beschränkt. (Ada Fischmann schildert sehr treffend die alte „natürliche“ Arbeitsteilung beim Häuserbau, wo das Mädchen dem Burschen als Handlanger die schweren Steine vom Boden reicht, während er die körperlich leichtere, aber intelligentere Arbeit des Einfügen besorgt.) Mädchenschulen, besonders landwirtschaftliche, bilden heute für das ganze Land fachmännisch geschulte Genossinnen heran.

Wie sich dieser harte und mühsame Entwicklungsweg im innersten Seelenleben der Palästinaproletarierin widerspiegelt, erzählt nun das zweite Buch. Es ist ein verworrenes und dreifach gespanntes Seelenleben, das Seelenleben der von Traditionen ummauerten Gettojüdin, die gewaltsam nach Erneuerung ringt, der oft stark intellektuellen Kleinbürgerin, die bewußt den Weg zur Arbeit und zur proletarischen Einheit sucht, der behüteten Familientochter, die plötzlich heftig die alten, unerträglich gewordenen Lebensformen durchbricht. Ihre äußere Haltung ist heißer Trotz, brennende Tatenlust, ihre innere Haltung vibrierende Unsicherheit, Ueberempfindlichkeit, Zweifel am eigenen Können. Ein kluger und doch kindlich verträumter Brief faßt mißmutig die Eindrücke der ersten Arbeiterinnenkonferenz zusammen: „Wozu sind wir hervorgetreten? Wozu haben wir gesprochen, wenn wir es noch so schlecht konnten? Wir haben uns nur bloßgestellt.“ Und eine andre schildert ihren ersten Arbeitstag: „Man gab mir die leichteste Arbeit. Ich sah, daß die Burschen mich auslachten, und verlangte sofort die schwerere. Die Burschen lachten noch mehr, ich zeigte ihnen aber, daß ich es schaffen konnte. Am Schluß sprach mir der Leiter seine Anerkennung aus ich aber fühlte mich auf einmal so entsetzlich allein.“ Eine dritte schreibt in ihr Tagebuch: „Warum fühlt sich ein Mädchen erniedrigt, wenn ein Bursch sie verläßt? Das muß und muß end- lich aufhören. Ich will nicht, daß mein Selbstbewußtsein von den sexuellen Wünschen des Mannes abhängt. Es ist keine Schande, einen Mißerfolg in der Liebe zu erleiden, aber es ist eine Schande, dadurch sein Selbstbewußtsein zu verlieren.“

Und dann wieder ein Brief. Erster großer Streik, Streik in den Plantagen von Petach-Tikwah. Orangenernte, goldbrennende Früchte an allen Bäumen, Tage der paradiesischen Schönheit und des scheußlichsten Lohndruckes, der in Palästina bis heute jedes Jahr zur Zeit dieser Ernte wiederkehrt. Der Brief berichtet mit sehr einfachen Worten den Verlauf des Streiks, berichtet, wie Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam gekämpft und gemeinsam sich durchgesetzt haben. Das eiserne Gesetz des Klassenkampfes, Tatsache und Erlösung zugleich, hat die Gegnerschaft zwischen den Geschlechtern zum Schweigen gebracht Und das Wissen um diese Entwicklung gibt der Palästinaproletarierein Zuversicht und bringt sie vorwärts.

➥ Zur Biografie: Bialik, Chaim [Hayim] Nachmann

In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 18 vom 01.05.1925, S. 1-4

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Mit Genehmigung des Jüdischen Verlages bringen wir aus der demnächst im Verlage erscheinen Sammlung „Essays“ nachstehenden Aufsatz zum Vorabdruck. Deutschen Lesern wird durch dieses neue Buch zum ersten Mal Gelegenheit geboten, den größten hebräischen Dichter Ch. N. Bialik als geistvollen Essayisten kennen zu lernen. Die in den „Essays“ vereinigten Aufsätze sind von Viktor Kellner zum ersten Male ins Deutsche übertragen.

(Nachdruck verboten. Copyright 1925 by Jüdischer Verlag.)

Die Menschen streuen an jedem Tage, absichtlich und in ihrer Einfalt, eine Fülle von Worten in den Wind mitsamt ihren mannigfachen Verbindungen, und nur wenige von ihnen wissen oder bringen sch zum Bewußtsein, was jene Worte in den Tagen ihrer Macht gewesen sind. Wie viele von den Worten kamen nur nach schweren Geburtswehen, die viele Geschlechter lang währten, zur Welt; wie viele leuchteten jäh wie Blitze auf und erhellten in einem Fluge eine ganze Welt; durch wie viele zogen und wanderten ganze Scharen lebender Seelen; die eine ging, die andere kam, und jede ließ Schatten und Duft hinter sich zurück: wie viele dienten als Gefäße für den feinen und überaus komplizierten Mechanismus tiefer Gedanken und erhabener Gefühle in ihren wunderbarsten Verbindungen und Verknüpfungen. Es gibt Worte, die Gebirge Gottes, und Worte, die ein tiefer Abgrund sind. Mitunter ist in einem kleinen Wörtchen die Quintessenz eines Lebens aufbewahrt, die ganze Unsterblichkeit der Seele eines tiefgründigen philosophischen Systems, die Summe einer ganzen Weltanschauung. Es gibt Worte, die zu ihrer Stunde Völker und Länder auf die Knie geworfen, Könige von ihrem Throne verjagt, die Grundfesten der Erde und des Himmels erbeben gemacht haben. Es kam ein Tag, da diese Worte ihre Größe verloren und auf den Markt geworfen wurden; jetzt sind sie wohlfeil geworden wie Linsen und die Menschen werfen sie in leichtem Plaudern hin und her.

Ist das etwa verwunderlich? Naturbegebenheiten muß man ruhig hinnehmen. So ist’s der Lauf der Welt: Worte steigen zur Größe empor und Worte sinken und werden profan. Wesentlich ist: Du findest in der Sprache kein Wort so gering, daß es nicht im Augenblicke, da es geboren ward, eine mächtige und ehrfurchtgebietende seelische Offenbarung gewesen wäre, ein gewaltiger und erhabener Sieg des Geistes. In dem Augenblicke zum Beispiel, da der erste Mensch stumm und starr blieb ob der Stimme des Donners – „die Stimme Gottes erschallt mit Macht, die Stimme Gottes mit Majestät“ – und da er auf kein Angesicht fiel, Staunen packte ihn und voll Schauder erzitterte er vor Gott, da brach aus seinem Munde von selbst – wie man sagt, in Nachahmung der Stimme der Natur – ein wildes Geräusch hervor, gleichend dem Brüllen eines Tieres, ähnlich dem Laute rr (er findet sich im Namen des Donners in vielen Sprachen): hat nicht dieser wilde Ruf sei- ner erstarrten Seele wahre Erlösung gebracht? Hat in diesem Ruf, dem Widerhall einer Seele, die in allen Tiefen ihrer Abgründe erschüttert worden war, von der Gewalt der Schöpfung, von ihren Schauern, ihrem Siegesjubel sich weniger offenbart als in einem geglückten Worte voll erhabenen Gehaltes, das einem der großen Seher in der Stunde der Entrückung gelang? Ist nicht in jenes geringe Geräusch, den Keim des künftigen Wortes, ein Wundergewebe von Gefühlen des Urbeginns eingebunden, von Gefühlen, stark in ihrer Neuheit und mächtig in ihrer Wildheit, wie Schauder, Furcht, Entsetzen, Demut, Begeisterung, Erwachen des Triebes sich zu behaupten, und andere dieser Art? Wenn dem so ist, war nicht auch der erste Mensch in diesem Augenblicke ein erhabener Maler und Seher, der aus seiner Intuition heraus „die Frucht der Lippen“ schuf, die treueste Wiedergabe der tiefen und wirren Erregungen seiner Seele, zumindest für ihn selbst? Und wieviel tiefe Philosophie, wieviel göttliche Offenbarung war, wie schon ein Gelehrter hervorhob, in dem kleinen Wörtchen „Ich“, das aus dem Munde des ersten Menschen kam? Gleichwohl sehen wir, daß diese Worte und viele andere, die ihnen ähnlich sind, unmerklich in die Sprache aufgenommen werden – wie wenn es nichts wäre. Die Seele wird fast nicht mehr von ihnen berührt, ihr, Kern ist aufgezehrt, ihre seelische Kraft verliert oder verbirgt sich, und nur ihre Schalen, die aus dem Bereiche des Einzelnen in den der Allgemeinheit geworfen wurden, sind in der Sprache noch vorhanden und finden, reflektiert und abgeschwächt, in den engen Grenzen des Denkens und des gesellschaftlichen Verkehrs als äußere Zeichen Verwendung und als Abstraktionen für Dinge und Erscheinungen. Es ist soweit gekommen, daß die menschliche Sprache gleichsam zu zwei Sprachen geworden ist, deren eine aus den Trümmern der andern sich aufgebaut: eine innere Sprache, die Sprache der auf das Eine gerichteten Seele, deren Wesentliches wie in der Musik das „Wie“ an sich ist – im Reiche der Dichtung: und eine äußere Sprache, die Sprache der Abstraktion und der Verallgemeinerung, deren Wesentliches wie in der Mathematik das „Was“ an sich ist, – auf dem Gebiete des Denkens. Und wer weiß, vielleicht ist es gut so für den Menschen, daß er die Schale des Wortes erbe ohne seinen Kern, auf daß er sie immer wieder erfülle oder von seiner Kraft hinzufüge und etwas vom Lichte seiner Seele in ihr erstrahlen lasse. Es will der Mensch das Seine, wenn es auch wenig ist; bliebe dem gesprochenen Worte seine volle Kraft und sein ursprünglicher Glanz, begleitete es immer jenes Gefolge von Gefühlen und Gedanken, die sich ihm in den Tagen seiner Macht verbunden haben, so würde wohl kein sprachbegabtes Wesen jemals zur Offenbarung seiner selbst und des Lichtes seiner Seele gelangen. Schließlich vermag ein leeres Gefäß aufzunehmen, ein volles nicht, und wenn schon ein leeres Wort zum Sklaven macht, wie erst ein erfülltes.

Worüber muß man sich da wundern? Über jenes Gefühl der Zuversicht und jenes Entzücken, das den Menschen während seines Redens begleitet, als ob er wirklich seinen Gedanken oder seine Gefühle, die er zum Ausdrucke bringt, über sanfte Gewässer führte und auf eiserner Brücke; er ahnt gar nicht, wie schwankend jene Brücke aus Worten ist, wie tief und finster der Abgrund, der unter ihm sich auftut, und welch ein Wunder, daß er ungefährdet hinüberschreitet.

Es ist ja klar, daß die Sprache in all ihren Verbindungen uns überhaupt nicht in den inneren Bereich der Dinge, zu ihrem wahren Wesen führt, sondern im Gegenteil, sie selbst richtet eine Scheidewand vor ihnen auf. Jenseits der Scheidewand der Sprache, hinter jenem Vorhange tut der von der Schale des Nordens entblößte Geist des Menschen nichts als staunen und immer wieder staunen. „Keine Rede und keine Worte“, nur ein unendliches Staunen: ein ewiges „Was“ ist auf den Lippen erstarrt. In Wahrheit hat nicht einmal jenes „Was“ dort Raum, da in seiner Bedeutung schon eine Hoffnung auf Antwort liegt. Aber was ist dort? „Nichts – schließe den Mund, daß er nicht rede.“ Wenn trotzdem der Mensch zum Reden gelangt ist und sich beruhigt, so geschieht dies nur, weil er furchtbare Angst davor hat, auch nur einen einzigen Augenblick mit jenem finsteren Chaos allein zu bleiben, mit jenem Nichts von Angesicht zu Angesicht ohne Scheidewand. „Nicht wird ein Mensch mich sehen und am Leben bleiben“ – spricht das Chaos, und jedes Sprechen, jede Regung des Sprechens ist gewissermaßen ein Verhüllen eines Bruchteils jenes Nichts, eine Schale, die in ihrem Innern den dunklen Tropfen einer ewigen Frage einschließt, auf die es keine Antwort gibt. Kein Wort hat in sich die völlige Aufhebung irgendeiner Frage, sondern es hat nur – ihre Verhüllung in sich. Es hat nichts zu besagen, welches jenes Wort ist: man nehme dafür ein anderes, nur daß es im Augenblicke etwas in sich habe, um zu verhüllen und zu scheiden. Zwei feindliche Schwestern, an zwei Enden einander gegenüber, die Musik, die wortlos ist, und die Mathematik, die durch Zeichen spricht, bezeugen in gleicher Weise von dem Worte, daß es genau genommen nicht ist, daß es nur ein bunt gewirktes Nichts ist; aber so wie die Körper dem Auge wahrnehmbar werden und abgeschlossen in ihrer Enge dadurch, daß sie dort, wo sie sind, eine Scheidewand errichten gegen das Licht, so erhält das Wort seine Existenz gerade dadurch, daß es sich gegenüber ein kleines Loch jenes Chaos verstopft und eine Scheidewand auftürmt gegen sein Dunkel, damit es sich nicht ausbreite und gegen das Wort losgehe, um seine Grenzen unkenntlich zu machen. Wer allein in tiefster Finsternis sitzt und zittert, der läßt seine Ohren die eigene Stimme hören, er ruft [unleserlich] oder er bewegt seine Lippen zum Pfeifen; wozu? Es ist ein „Zauber“, um sein Bewußtsein abzulenken und seine Furcht zu verscheuchen. So ist es mit dem gesprochenen Worte oder mit einem ganzen System von Worten: ihre Kraft liegt nicht in ihrem offenkundigen Inhalte (wenn es überhaupt einen solchen gibt), sondern in der Ablenkung des Bewußtseins, die mit ihnen verknüpft ist. Daß man seine Augen vor etwas verhüllt, stellt schließlich die bequemste und leichteste Zuflucht vor der Gefahr dar, auch wenn diese Zuflucht nur in der Einbildung besteht. Dort, wo das Öffnen der Augen selbst die Gefahr ist, hat man keine sichere Zuflucht als das Verhüllen und „gut hat Moses daran getan, daß er sein Angesicht verbarg“. Und wer weiß, vielleicht ist das Wort im Anfang nicht zwischen zweien entsprungen, zwischen Mensch und Mensch, ein Mittel geselligen Verkehres. Wort, da nicht um seiner selbst willen da ist, sondern es ist gerade aus dem Munde des einsamen Menschen gekommen, als Bindeglied zwischen ihm und seinem Selbst, als seelisches Bedürfnis, Wort, nur um seiner selbst willen da, im Sinne des Verses: „In meinem Innern wird mein Geist bestürzt und mit meinem Herzen pflege ich Zwiesprache …“ Der erste Mensch fand seine Ruhe erst, als er seine Ohren sein Selbst vernehmen ließ. Doch jene Stimme des Anbeginns, die die Erkenntnis des Menschen aus dem Abgrunde des Chaos emporhob, sie selbst richtete sich plötzlich wie eine Scheidewand empor zwischen dem Menschen und dem, was jenseits ist, als ob sie sagen wollte: Von nun an, o Mensch, sei dein Antlitz nur dem Diesseitigen zugewendet. Hinter dich darfst du nicht blicken und nach dem Unbegreiflichen nicht Ausschau halten: tust du es, so ist’s umsonst; denn nicht wird der Mensch das Chaos von Angesicht zu Angesicht schauen und am Leben bleiben. Eines Traumes der vergessen wurde, wird nicht wieder gedacht: nach dem Chaos geht dein Verlangen, und das Wort soll dein Herr sein.

Wirklich hat die Vernunft und das Wort einzig über das Diesseitige Macht innerhalb der viermal vier Ellen von Raum und Zeit. Nur als ein Schattenbild geht der Mensch einher und je mehr er sich dem vermeintlichen Lichte vor ihm nähert, desto mehr wächst der Schatten hinter ihm und die Finsternis rings um ihn nimmt nicht ab. Im Diesseitigen kann man vielleicht alles erklären; mit Mühe oder mit Leichtigkeit, doch man kann erklären. Wesentlich ist, daß der Raum der Vernunft des Menschen nicht einen Augenblick leer bleibe, ohne Worte, die dicht aufeinanderfolgen gleich den Schuppen eines Panzers, so daß auch nicht eines Haares Breite Abstand zwischen ihnen ist. Das Licht der Vernunft und des Wortes – Kohle und Flamme – ist ein ewiges Licht, das nicht erlischt. Aber jene Fläche des Diesseitigen, die im Bereiche des vermeintlichen Lichtes liegt, welchen Wert hat sie letzten Endes gegenüber dem grenzenlosen Meere des Weltendunkels, das außerhalb noch bleibt und immer bleiben wird. Gerade jene ewige Dunkelheit, die so viel Schrecken verbreitet, ist es zuletzt allein, die, solange die Welt steht, das Herz des Menschen im geheimen zu sich zieht und in ihm die verborgene Sehnsucht weckt, nur einen kleinen Augenblick in sie hineinzuschauen. Alle haben Angst vor ihr und doch fühlen sich alle zu ihr hingezogen. Mit unserem Munde bauen wir über ihr Wände von Worten und Systeme aller Art, um sie vor unseren Augen zu verbergen, aber sofort wühlen die Nägel in denen Wänden, um in ihnen eine kleine Lücke zu öffnen, irgendeinen Spalt, und durch ihn einen Augenblick in das hineinzuschauen, was jenseits ist. Doch wehe umsonst ist die Plage des Menschen! In dem Augenblicke, da der Spalt sich anscheinend auftut, ist eine neue Scheidewand da in Gestalt eines neuen Wortes oder Systems, die plötzlich an Stelle der früheren steht und das Auge wieder vom Schauen abhält.

Und so geht es fort in alle Ewigkeit. Ein Wort geht, das andere kommt, ein System steigt empor, das andere sinkt hinab; und die alte, die ewige Frage ohne Antwort bleibt unberührt, sie verändert sich nicht und wird nicht geringer. Einen Wechsel auf seine Schuld geben oder sie in seinem Geschäftsbuch vermerken, heißt noch nicht die Schuld bezahlen. Es heißt nur für den Augenblick die Last vom Gedächtnis abwälzen und nicht mehr. Das gleiche gilt bei der Rede, die eine Aussage macht, das heißt, wenn man Erscheinungen und ihren Verbindungen Namen gibt und Ordnung und Grenze für sie festsetzt. Eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen hat von selbst in die Rede schlechthin niemals Aufnahme gefunden. Sogar eine ausdrückliche Antwort ist in Wahrheit nichts als ein anderer Text der Frage selbst. Staunen wandelt sich in Beruhigung, der Stil der Verhüllung tritt an Stelle des Stils der Offenbarung. Wenn wir daran gingen, den wahren, den innersten Kern aller Worte und Systeme bloßlegen, so würden wir ganz zum Schluß nach dem letzten Auspressen zu nichts anderem gelangen, als zu einem Wort, das alles umfaßt, einem Wort von drei Buchstaben. Welches ist es? Wiederum jenes furchtbare „Was“, hinter dem ein noch furchtbareres X steht, das Nichts. Aber der Mensch liebt es, seine Schuld in kleine Brocken zu zerbröckeln in der eitlen Hoffnung, sich damit die Bezahlung zu erleichtern, und da sich die Hoffnung nicht erfüllt, tauscht er ein Wort gegen das andere ein, ein System gegen das andere, das heißt, er gibt einen neuen Wechsel für den alten und verschiebt oder verlängert sich die Frist der Bezahlung; unterdessen kommt es dann überhaupt nicht mehr zur Einhebung der Schuld.

Ein Wort oder ein System steigt also von seinem Throne hinab und macht einem andern Platz. Nicht etwa darum, weil seine Kraft zu offenbaren, zu erhellen, die unlösbare Frage aufzuheben, teilweise oder ganz gebrochen ist, sondern gerade im Gegenteil: weil das Wort oder das System infolge des allzu vielen Zerdrückens, Betastens und Wühlens zerrieben wurde und nicht mehr Kraft genug in sich hat, so recht zu verhüllen und zu verbergen und natürlich auch nicht mehr Kraft genug, um für den Augenblick das Bewußtsein abzulenken. Der Mensch schaut eine Sekunde in dem Spalt hinein, der sich aufgetan hat, und zu seinem großen Entsetzen findet er wiederum jenes furchtbare Chaos vor sich. Er springt auf und verstopft einstweilen den Spalt – mit einem neuen Wort, das heißt, er hält an dem „Zauber“ fest, den er längst an jenem Wort erprobt hat, das diesem voranging; als ob das neue Wort das Bewußtsein für den Augenblick abzulenken vermöchte – und er ist von seinem Entsetzen befreit. Wundere dich nicht! Der „Zauber“ nützt denen, die an ihn glauben; dann der Glaube an und für sich ist nichts als die Ablenkung des Bewußtseins. Bietet uns nicht der Sprechende selbst ein naheliegendes Beispiel dafür? Solange ein Mensch lebt, strebt, sich regt und schafft, füllt er einen leeren Raum aus. Alles ist, wie es scheint, verständlich; alles geht gut vonstatten. Der ganze Strom des Lebens, sein ganzer Inhalt ist nichts als eine unausgesetzte Anstrengung, eine unaufhörliche Bemühung, das Bewußtsein abzulenken. Jeder Augenblick des Jagens nach etwas ist zugleich auch ein Augenblick der Rettung vor etwas, und dies, nur dies, ist sein Lohn. Der Lohn des Nachjagens ist das Entrinnen. Wer nachjagt, findet in jeder Sekunde seine einstweilige Befriedigung nicht darin, daß er etwas erreicht hat, sondern darin, daß er entkommen ist, und das gibt ihm zunächst den Schatten der Beruhigung und des Vertrauens. „Denn wenn einer allen Lebendigen zugesellt wird, da ist noch Vertrauen.“ Doch ist der Mensch gestorben, so ist der Raum leer geworden: es ist nichts da, was das Bewußtsein ablenkte, und die Scheidewand ist verschwunden. Alles wird plötzlich unverständlich, das verborgene X ist mit dem ganzen Schrecken seiner Gestalt wieder vor uns herabgestiegen und wir sitzen einen Augenblick vor ihm als Trauernde in Finsternis auf der Erde, zu Stein erstarrt; aber nur einen Augenblick, da der Fürst des Lebens mit dem Schließen dem Öffnen zuvorkommt; er verschafft uns sofort einen neuen Zauber, mit dem wir das Bewußtsein ablenken und die Furcht vertreiben können; noch hat sich der Sargdeckel über dem Toten nicht geschlossen, und schon finden wir jenen ausgeleerten Raum wiederum von einem der Worte verschlossen, mag es ein Wort der Klage sein oder eines der Tröstung, der Philosophie oder des Glaubens an das Fortleben der Seele oder sonst etwas ähnliches. Der gefährlichste Augenblick in der Rede sowohl wie im Leben ist also nur der zwischen Verhüllen und Verhüllen, wenn der Abgrund zum Vorschein kommt; aber derartige Augenblicke gibt es sowohl im Strome der Sprache als auch im Strome des Lebens sehr wenige; meistens springen die Menschen über sie hinweg, ohne es zu merken. Die Einfältigen schützt Gott.

Aus all dem Gesagten geht der große Unterschied zwischen der Sprache der Prosaschriftsteller und der Sprache der Dichter hervor. Jene, die Menschen des einfachen Wortsinnes, stützen sich auf das Gleiche und Gemeinsame in Erscheinung und Wort, auf das Feststehende, auf den überlieferten Text. und deshalb ziehen sie mit sorgloser Sprache ihres Weges. Wem gleichen sie? Einem, der auf festem Eise, das zu harter Fläche erstarrt ist, den Fluß überschreitet. Ein solcher hat das Recht und ist imstande, sein Bewußtsein zur Gänze von der verhüllten Tiefe abzulenken, die unter seinen Füßen rauscht. Und jenen gegenüber diese, die Menschen der Anspielung, der Auslegung und des Geheimnisses, ihr Leben lang auf der Jagd nach dem, was das [unleserlich] ist in den Dingen, nach jenem einsamen „Was immer“. nach jenem Punkte, in welchem die Erscheinungen und die Wortverknüpfungen, die ihnen zugehören, zu einer köstlichen Einheit in der Welt verschmolzen sind, nach dem vergänglichen Augenblick, der in Ewigkeiten nicht wiederkehrt, nach der einzigartigen Seele und der besonderen Wesenhaftigkeit der Dinge, so wie sie in einem bestimmten Moment ins Innere derer Eingang finden, die sie sehen; daum sind diese genötigt, vor dem Feststehenden und Starren in der Sprache, das ihrem Ziel sich entgegenstellt, zu jenem zu fliehen, das da lebt in ihr und sich regt. Ja, sie selbst sind verpflichtet, in jedem Moment – die Schlüssel sind in ihre Hand gegeben – eine unaufhörliche Bewegung, neue Verschmelzungen und Einungen in sie einzuführen. Die Werte zucken unter ihren Händen, sie erlöschen und entbrennen, gehen unter und leuchten auf gleich der Schrift auf dem hohepriesterlichen Schilde, leeren und füllen sich, tun eine Seele von sich ab und hüllen sich in eine andere. In den sprachlichen Stoff kommt dadurch eine Ablösung der Wachposten und eine Veränderung der Standorte. Die Verzierung eines Buchstabens, ein Häschen am Jod – und das alte Wort flammt in neuem Lichte auf. Das Profane wird heilig und das Heilige profan. Derartige feste Worte lösen sich gleichsam Augenblick für Augenblick aus ihren Einfassungen und wechseln den Ort miteinander. Und unterdessen, zwischen Verhüllen und Verhüllen, regt sich der Abgrund. Das ist das Geheimnis der gewaltigen Wirkung, die die Sprache der Dichtung ausübt. In ihr lebt etwas, was den Trieb des Verantwortlichkeitsgefühls erregt, in ihr die süße Furcht dessen, der in Versuchung ist. Wem gleichen die Dichter? Einem, der auf schwankenden und schwimmenden Eisschollen den Fluß überquert in der Stunde, da laue Lüfte wehen. Wehe ihm, wenn er seinen Fuß länger als einen Augenblick auf der Scholle verweilen läßt, länger als nötig, um von einer Scholle zur andern und von dieser wieder zur nächsten zu springen. In den Spalten regt sich der Abgrund, der Fuß kommt ins Schwanken, die Gefahr ist nahe – – Gleichwohl gibt es auch unter ihnen solche, die in Frieden von dem einen Gestade hinabschreiten und in Frieden wieder hinausgelangen zum andern Gestade. Nicht die Einfältigen allein schützt Gott.

Soweit über die Sprache der Worte. Aber außerdem hat Gott noch Sprachen ohne Worte: das Musizieren, das Weinen und das Lachen. Ihrer aller wurde das sprechende Wesen teilhaftig. Sie beginnen dort, wo die Worte aufhören, und sie kommen nicht, um zu verschließen, sondern um zu öffnen. Sie schwellen an und steigen aus dem Abgrunde hervor; sie sind das Emporsteigen des Abgrundes selbst. Daher schwemmen sie uns mitunter hinweg und reißen uns mit sich mit der tosenden Fülle ihrer Wogen, und keiner vermag ihnen zu widerstehen; daher treiben sie mitunter den Menschen aus seiner Vernunft oder auch aus der Welt; eine geistige Schöpfung, in der nicht ein Widerhall wäre von diesen dreien, hat kein wahres Leben und es wäre besser für sie, wenn sie nicht zur Welt gekommen wäre.