Zur Biographie: Heinrich York-Steiner

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 14.01.1910, S. 1f & Ausgabe 3 vom 21.01.1910, S. 1f

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Tran-skription

Auf den ersten Kongressen da blieben nur Figuren haften – einzelne liebe, neuartige, oft tiefernste, manchmal drollige Menschenkinder. Und ich kehrte reichbeschenkt heim. Beim Erkennen und Auskosten dieser neuen Bilder in meiner Galerie mag ich dann manches vom Kongresse versäumt haben, was ich später eifrig nachlas.

Dieses vom Fieber geschüttelte Judenparlament, das vom 26. bis 30. Dezember 1909 zu Hamburg tagte, habe ich in seinen an Tollheit grenzenden Zuckungen so voll miterlebt, so sehr erlebt und erlauscht, daß ich jede Sitzung neu konstruieren, jeden Tag vollständig skizzieren, jede Wandlung erschöpfend beschreiben, jede Zuckung neu erleben könnte. Ich habe ihn in mich aufgenommen bis zum höchsten Fiebergrade, und lag dann Nacht um Nacht in quälender Hitze, in schlaflosen Krankenstunden und zermarterte mein heißes Hirn, um den Sinn dieser Tagungen zu ergründen, das Bewegende zu erforschen, das Resultierende darzustellen.

Was ist geschehen? War das Geschehene gut oder war es schädlich für uns? Wir wollen gemeinschaftlich untersuchen und das Urteil sparen.

Es kamen etwa 120 Delegierte aus Rußland, fast alle fest entschlossen, die jetzige Leitung zu stürzen. Alle diese Männer kamen aus fernen Gegenden, die nur mit drei bis elf Tagereisen zu bewältigen sind. Die wenigsten hatten sich etwas zu erwarten – ich meine Ehrenstellen – aber sie alle sind unzufrieden, geschlossen, stramm, aufrecht, unzufrieden. Das ist die russische Unzufriedenheit, die jedem Machthaber nicht traut.

Und sie kommen elf oder drei Tagereisen weit her mit dem Schnellzuge, um unserem guten Wolffsohn ihre Meinung zu sagen und um ihn zu stürzen. Dann sind da an dreißig Delegierte aus Galizien, die sind auch unzufrieden, aber nicht so ganz unbedingt. Mit wenigen Ausnahmen, mit Ausnahme jener, die Minister werden könnten, halten sie an Wolffsohns Person. Sie sind nur gegen Köln. Köln ist zu weit vom Judentum, sie wollen Wolffsohn in Berlin.

Dann sind da die Herren aus Westösterreich mit ihren Führern – na, die kenn’ ich doch! Die möchten, wie die Russen, wenn auch nicht aus ganz denselben Gründen, aber die Böhmen wollen mit zwei Ausnahmen unbedingt Wolffsohn. In Mähren gibt es „Stänkerer“, das sind die, die sich nicht als Lämmerherde leiten lassen – und hier, hier beginnt der Bruch, der Bruch in der Phalanx der unbedingten Gegner Wolffsohns. Die Macht des Kongresses beginnt ihr Werk. Man hat seit Monaten Stimmen geworben und Boten gezählt und war sicher, Wolffsohn zur Strecke zu bringen. Aber die Macht des Kongresses, diese dumpfe Kraft, die ohne Absprache aus einem Urgefühl heraus, das erhaltende Element zusammenpaart, die wirkt gegen alle kleinlichen vorgefaßten Meinungen. Und jenseits stehen die Deutschen und die herrliche Elite der Misrachi, die Ungarn und alle kleinen Landsmannschaften unentwegt zu Wolfssohn.

Zu Wolffsohn? Ist dieser breitschultrige, blonde Mann etwa was Besonderes? Wolffsohn! Wer ist Wolffsohn?

Ich kannte ihn noch – ach, du mein Gott! Ein einfacher Holzhändler war er, der zu Herzl kam, gleich mir, damals, als der Judenstaat erschienen war. Zu Herzl, um ihn kennen zu lernen, ein jüdischer Holzhändler, schüchtern, tastend, was denn dieser Wiener Zeitungsschreiber für eine Gattung Jude sein möge. In eigenartigem Deutsch, so Libauer Dialekt etwa, erzählte er, daß es in Rußland schon seit Jahren Juden gäbe, die Geld für Palästina sammeln für palästinensische Kolonien. Und mit ihm kam ich unter die Zahl der Freunde Herzls. Und Herzl hat ihn seinen Kindern zum Vormund bestellt. Seitdem ist er auch gewachsen. So scheint es, wie er jetzt auf die Redekanzel steigt.

Der Mann ist gewachsen. Er nimmt jede Klage gegen sich, je gröber, je wuchtiger, desto lieber, dreht sie nach allen Seiten, wendet und weist sie ringsum, zerfasert sie in ihre Urbestandteile, nimmt sie dann nochmals in seine Faust und schlägt sie seinen Angreifern wie ein umgekehrtes Schießgewehr mit dem Kolben an die Stirn, daß es ein Aufschreien gibt wie von verwundeten Urtieren.

Auch ein russischer Jude. „Auch ich bin ein Litwak,“ ruft er seinen Gegnern zu. Das waren seine engeren ehemaligen Landsleute, die bekamen die derbsten Hiebe.

Recht bitter wird er beim Besprechen der Angriffe in der „Jüdischen Zeitung“, die in der zionistischen Presse ihr Gleichen nicht hatten. Jeder Hieb sitzt, wenn auch nicht jeder quittiert wird. Es gibt Leute bei diesem Kongreß, die ihre persönliche Wut sachlich zu maskieren suchen. Wolffsohn duldet keine Maskeraden, er kämpft mit offenem Visier. Immer höher wächst der Mann, immer mehr überragt er die meisten Persönlichkeiten des Kongresses, immer stärker zwingt er die Massen in seinen Bann, immer häufiger klatschen die Gegner, hingerissen von der Wahrheit seiner Beweisführung, ihm [sic.] rauschenden Beifall, und als er von der Tribüne stieg, hart er den Kongreß bezwungen. Er, Wolffsohn? Was ist Wolffsohn? Nein, die Idee, die alte, reine Idee Herzls, die fortab die Geschichte des Judentums bestimmen wird!

Was wollen die Russen? Was sie immer wollten: Chovew Zion, Arbeit, Kolonien, Praktisches. Schön. Wer will das nicht? Glaubt ein Mensch, daß David Wolffsohn das nicht will? Die Taktik scheidet, Wolffsohn will fürsorgend warten, den Russen brennt’s auf den Nägeln. Ihr Mann ist Warburg – Warburg, der Gegenkandidat. Also Wolffsohn, der derbe Litwak, der mit Holzstämmen jongliert und mit Wagenrädern wirft, ist der Führer der „Westler“ und Warburg der Abgott des Ostens. Warburg, ein Professor der Botanik, aber einer, der die Botanik so engros betreibt, gleich so die Oelwäldchen zu 10.000 Stämmen im heißen Judäa hinhaut, Versuchsfarmen gründet, Kolonialgesellschaften errichtet. Still, fein, vornehm, gediegen, ein Enthusiast der Arbeit, nicht des Wortes.

Ich habe alle seine Freunde im Kongresse gebeten: Stimmt doch gegen dieses patente Menschenkind, daß er kein erster Führer wird. Dort, an der Spitze, wo David Wolffsohn seinen Landsleuten die Bäume an den Kopf schmeißt, ist kein Platz für diesen Botaniker. Das ist ein Pflanzer, ein Bäumezüchter, ein Kolonisator, ein Mann, der um jeden ausgerissenen Baum weinen wird. Manchmal aber ist’s zum Bäumeausreißen, wenn man ein Volk führen will.

Und nun kommt Warburg an die Tribüne und bringt die Entlastung – für Wolffsohn, dem man vorwirft, daß in Palästina zu wenig geschehen sei. Er bringt Ziffern – lebendige Zahlen: Bäume zu dreißigtausenden, Baumschulen und Oelwälder. Zahl an Zahl, Ziffer um Ziffer, und alles lebt und gedeiht.

Das war mir die schönste Stunde am neunten Kongreß. Aber der Saal war fast leer. Denn nicht das, was geschieht, wird gezählt, nein, man rechnet das, was nicht geschieht, trotzdem es nicht geschehen konnte.

*

In der Charakteristik des neunten Kongresses werden es zwei Erscheinungen sein, die dauernd bleiben: Palästina samt seiner Delegation und die Art, wie sich ein Volkswille bildet, wie er unter Schmerzen und Schreien, Zucken und Zittern geboren wird.

Warburg mit seiner stillen Weise ist noch immer am Worte und jedes Wort ist die Beschreibung einer Tatsache. Es vollzieht sich der Kreislauf der Sprache. Erst war das Wort das schöpferische Werden, dann wurde das flüssige Idiom in Palästina zur Wirklichkeit und nun strömt uns die geschehene Tatsache als trockener Bericht ins Haus des jüdischen Volkes.

Aber die palästinensische Delegation ist ebenso unzufrieden wie die russische. Und beide haben recht. Man könnte in Palästina das Hundertfache leisten, wenn es – hundertmal mehr Zionisten gäbe; Raum wäre da und auch die drängende Notwendigkeit. Diese harte Notwendigkeit drängte auch die Russen in die Opposition. Sie sind die Proponenten der zu erlösenden Volksmassen. Dort, wo sie im tiefsten Elend schmachten, und deren Not gegenüber ist jede Arbeit, die wir leisten können, ein Versuch – ein Symbol.

Und selbst die unzufriedenen Delegierten aus Altneuland, die Lehrer, Beamten und Arbeiter oder Kleinbauern, sie geben dem Kongresse ein eigenes Kolorit. Man hat auf den ersten Kongressen hie und da, so wie zur Parade, hebräisch gesprochen. Heute gibt es Dutzende von Delegierten, die geläufig und elegant unser altes Idiom gebrauchen, und es geschieht mitten in einer deutschen Rede, daß ein hebräischer Zwischenruf hebräisch erledigt wird. Palästina macht Schule und es schult nicht nur Pflanzen.

Früher einmal waren jene fast eine Sehenswürdigkeit, die im heiligen Lande gewesen waren, bald aber wird es dem Zionisten übelgenommen werden, der das Land, für das er arbeitet, nicht wenigstens gesehen haben wird. Allerdings, Palästinensismus ist noch lange kein Zionismus, sonst hätten sich die Chovew Zion, die ja auch Geld für Palästina sammelten, nicht an Herzl angeschlossen. Das ganze Leben, die ganze Anschauungsweise muß in der Wurzel jüdisch werden. Das erst macht den Zionisten.

Und da ist es wunderbar, wie der Zionismus Herzls, der Zionismus des alten Baseler Programmes, auf jedem Kongresse neu gestärkt und aus allem Lärm und Widerstreit neu gekräftigt hervorgeht. Und das hat Wolffsohns Erfolg entscheiden, der Präsident wider Willen werden mußte. Die Technik unserer Bewegung, die Mechanik der kleinen Vereine, Distriktskomitee, Zentralkomitee, Lokalkomitee usw., droht den lebendigen und belebenden Begriff des Zionismus zu verknöchern.

Was hat man mir alles, der ich an den ersten praktischen Arbeiten sowie an der Formulierung der Begriffe mitgearbeitet habe, in den letzten Jahren als einzig und allein echten Zionismus auftischen wollen! Wenn ich eine Novelle schreibe, die volle zwei Monate Arbeitszeit erfordert, und sie einer zionistischen Zeitschrift oder eine Almanach schenke, dann zählt das nicht soviel wie die Arbeit eines braven Studenten, der Kuverts für die Wahlen ausschreibt, denn die Kuverts muß man haben, Novellen aber nur eventuell. Wenn ich monatelang herumreise, Zeit und Gesundheit opfere, um Vorträge zu halten, so gilt das nicht soviel wie die Agitation eines stimmbegabten Jünglings an Wahltagen. Und ich bekomme auch keine Mandate – nicht etwa Abgeordnetensitze, nein, jene Mandate, die notwendig sind, um den Zionismus gelegentlich auszuüben.

Die Männer, die den Zionismus als große Weltbewegung erfassen und behandeln, sind im Kleinbetrieb der lokalen Entwicklung ausgeschaltet. Einige Drahtzieher mit ausgebildeten Sitzfähigkeiten beherrschen die Maschinerie und fühlen sich als Herren der Situation und des Zionismus, dem sie offen oder geheim ihre Färbung geben, was zur Folge hat, daß er dann etwas blutleer aussieht.

*

Und so kamen sie auf den Kongreß siegessicher, alles fein gezählt und berechnet. So kamen sie in den Permanenzausschuß, der auch mit der Parteimaschine berechnet war. Und in diesem Ausschusse hatten die Wolffsohngegner, die alle offen oder geheim Herzlgegner sind, auch wenn sie ihn noch so rührend loben, die Mehrzahl. Inzwischen hatte sich der Geist des alten Zionismus, der Geist des starken, aufrechten Judentums, der Geist Herzls geregt, er hatte sich in der Rede Wolffsohns, in den packenden Ausführungen Nordaus manifestiert. Und das lebendige Makkabäerblut erschütterte die Maschinerie. So kam es, daß zum Schlusse Wolffsohn, den man so sicher niederzustrecken wußte und der endlich gerne gegangen wäre, gebeten werden mußte, zu bleiben, damit die Bewegung nur ein, wenn auch provisorisches, Oberhaupt habe. Provisorisch, denn dauernd bleibt Wolffsohn nicht mehr. Das Bäumeausreißen und Keulenschlagen ermüdet. Aber wenn er gehen wird, dann geht er frei. Willig und nicht als gefallenes Opfer der Maschinerie soll man den Nachfolger Theodor Herzls vom Kampfplatze tragen. Das, was ich in der Landsmannschaft am neunten Kongreß beantragte, das wird am zehnten geschehen müssen. Denn das war mein vergeblich erteilter, unwillig angehörter und gar nicht beachteter Vorschlag.

Zählen wir leise und unauffällig die Stimmen gegen Wolffsohn; es dürften 120 unbedingte sein. Er wird mit einer solchen starken Minderheit gegen sich nicht regieren wollen und wir haben kostbare Tage zum Aussuchen der Nachfolge. Aber dulden wir keine Anklagen, kein Tribunal, keine Skandale. Denn wir verzetteln damit die Zeit und stehen in der letzten Stunde ratlos den Geschehnissen gegenüber. Und so kam es.

*

Und dennoch, der neunte Kongreß hat nicht vergeblich getagt. Er brachte den endgültigen Sieg der alten Idee Herzls gegenüber den sogenannten synthetischen Zionismen, den Sieg des Gedankens, des lebendigen Empfindens gegen die Maschine.

Als wir am Tage nach dem Kongresse auseinandergingen, da umarmte ich Ussischkin und bat ihn, nicht zu ermüden in der Arbeit; „denn – so sagte ich – eigentlich machen wir die meiste Arbeit für unsere russischen Brüder, wenn Sie uns im Stiche lassen, dann brechen Sie uns das Rückgrat.“

Aber einen Rat muß ich ihm und seinen kleinen Nachahmern noch auf den Weg geben: Genug der Anklagen, genug der fruchtlosen Kämpfe! Der Zionismus ist keine Machtfrage, sondern eine Frage der Opferfähigkeit.

Wir wollen uns nicht verhimmeln, aber auch nicht verkleinern. Es ist die höchste Zeit zur Umkehr! Wir schufen den Zionismus als einen Bund der Liebe. Es ist genug der Frevels unter uns. Und manches ruft noch ungerochen zum Himmel. Zurück zum alten Zionismus: Arbeit, Stammestreue, Bruderliebe!

Ausgabe 3 vom 21.01.1910, S. 1f

Langsam flutet die Erregung ab – Ebbe im Geplätscher der Worte, die Wässer der Beredsamkeit sickern ein und der Boden der Tatsachen steigt langsam zutage.

Was gab es noch auf diesem Kongresse an Arbeit, an gewonnenem Boden – abgesehen von den moralischen Errungenschaften?

Von dem Referate Warburgs über die Arbeit in Palästina sprach ich schon. Warburg geht sicherlich nicht als Unterlegener aus dem Kampfe hervor, den er nicht gewünscht hat. Sein Prinzip der Arbeit, augenblicklicher Arbeit, steter Arbeit in Palästina ist auch das unsere, d. h. das Programm jener, die mit Wolffsohn sind, und er wird aus unserer Gruppe immer mehr Geld und Hilfsarbeit finden, als bei jenen, die ihn an die Spitze bringen wollten. In seinem Fache ist er unser erster und bleibt es hoffentlich noch viele Jahre.

Aber was ist an neuem geschaffen worden? Gehen wir denn gar so arm von Hamburg weg? Und siehe da, es sind zwei neue Tatsachen, zwei neue Beschlüsse von weitgehendster Bedeutung zu verzeichnen. Die eine hat Julius Moses aus Mannheim durchgesetzt. Sie betrifft unser Finanzmutterinstitut, den Jewish Colonial Trust. Die mit ziemlicher Mehrheit vom Kongreß angenommene Resolution verlangt, daß der Schwerpunkt unserer finanziellen Arbeit nach Palästina verlegt werden soll. Das bedeutet soviel wie eine Liquidmachung der Mittel für Palästina unter Verzicht auf das europäische Geschäft.

Es würde zu weit führen, hier untersuchen zu wollen, ob diese Aktion ganz durchführbar ist und ob sie, durchgeführt, uns besonders großen Nutzen bringen würde. Die Bank in London ist ja eigentlich – und soll es hauptsächlich sein – der Bankier unserer orientalischen Geldinstitute, die einen europäischen Bankier brauchen. Ob freilich die Spesen der Bank nicht viel höher sind, als die Provisionen der Bankiers wären, das lassen wir dahingestellt, während es auch offen bleiben muß, ob man nicht Spesenopfer für das Prestige bringen muß.

Unsere Bank in London – wenn auch ein Torso – ist nun einmal da und sie soll öffentlich möglichst wenig kritisiert werden, wenn man die Bewegung liebt. Jedenfalls wird sie mit viel Liebe redlich verwaltet. Aber die Resolution Moses bedeutet einen neuen Wegweiser, den das Direktorium um so weniger übersehen wird, als es ja auch aus echt in der Wolle gefärbten Zionisten besteht.

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Die zweite wichtige Tatsache ist die Finanzierung von Oppenheimers Genossenschaftsfarm. Das ist einmal neu, ganz neu. So echt jüdisch. Den Juden ist es nämlich angeboren, darüber zu grübeln und zu denken, wie man den wirtschaftlichen Problemen im Interesse der Allgemeinheit, zu Nutz und Frommen des Schwachen und Gedrückten beikommen kann. Und so ziemlich das Meiste, was darin geschaffen wurde, verdankt die Welt den Juden. Von der Bibel angefangen bis auf Marx und Lassalle – und, wenn es gelingt, bis auf Franz Oppenheimer. Die Idee Oppenheimers ist furchtbar einfach. Er löst das Problem der proletarischen Heimatlosigkeit auf folgende Weise: Er setzt eine Anzahl von Arbeitern auf eine Farm, unterweist die Leute in den besten Methoden der Landwirtschaft, wozu er ihnen Material und Geräte gibt. Für die Arbeit bekommt jedes sein Existenzminimum als Lohn. Der Gewinn wird verteilt und zum Kaufe oder richtiger zur Ablösung des Bodens verwendet, jedenfalls aber zur Verzinsung des angelegten Kapitales.

Oppenheimer meint, daß sich die Arbeiter sputen würden, um bald ausgezahlt zu haben oder so zu verzinsen, daß sie bald Herren würden – Genossenschaftsbauern.

Und wir waren alle seiner Meinung und die engsten Freunde Wolffsohns gaben sofort das meiste Geld her.

Ebenso schön wie die freudige Beisteuer zu dem neuartigen sozialpolitischen Versuche auf dem Boden Palästinas war das Auftreten dieses jungen Gelehrten, der sich seit den Jahren seiner zionistischen Arbeit einen hochbedeutenden und vielbeachteten Namen als Nationalökonom erworben hat. Schlank und biegsam von Gestalt, das Auge voll lebendigen Feuers, das frischfarbige Gesicht leuchtend von Geist und Energie, die Stimme kräftig heischend, so stellte er sich hin und verlangte von uns sein Recht. Das heißt, recht hatten ihm viele gegeben, aber kein Geld, und von uns bekam er privat ca. 40.000 Kronen. Nun hat er Nationalfonds das Wort.

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Was doch diese Juden für Sorgen haben, diese Schachergeister! Ich möchte jetzt kein Witzblatt herausgeben. Die Juden liefern zu wenig Material. Wo soll ein ordentliches Witzblatt wie Meggendorfer, seine krummbeinigen und rundnasigen Juden alle hernehmen, mit denen dieses Blatt seine Leser zu beschenken gewohnt ist? In Hamburg, auf dem Kongresse der jüdischesten aller Juden, waren keine zu finden. Die Tagesblätter hoben das hervor und betonten, daß die Mehrzahl aller Delegierten arischen Aussehens war. So sind nun diese Zionisten: Das Herz voll Judentum, den Mund allerdings auch, und dabei sind sie der Mehrzahl nach hochgewachsen, blond oder braunhaarig, die Jugend sehnig und geschmeidig, die Haltung stolz, der Gang aufrecht, so ganz arisch! Das kommt von dem vielen Turnen und Fechten, das man ihnen beim besten Willen nicht verbieten kann.

Ich verstehe, daß dies den Ariern unangenehm sein könnte, aber ich habe nicht gefunden, daß es der Fall sei.

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Unangenehm sind wir Zionisten, ist unsere prächtige Jugend nur den assimilatorischen Juden. Und wir konnten uns auch in Hamburg über zuviel Liebe und Entgegenkommen von seiten der offiziellen Judenschaft nicht beklagen – aber dafür die Nichtoffiziellen, die feinen, gütigen Frauen und lieblichen Mädchen.

Das war mir neu und ich ließ mir’s wohl gefallen, daß zierliche Fräuleins aus besten Häusern uns den Tee reichten und für wenige Pfennige Erfrischungen besorgten. Wer da jung gewesen ist – und einer war’s: der neunte Zionistenkongreß – hat einen Lebensbund geschaffen. Ein wahrhaft zionistisches Ehepaar hat sich da zusammengefunden: der Zufall oder besser die gemeinsame Arbeit im Dienste des Volkes haben eine Ehe gestiftet.

Noch rasch einen Gruß an Hamburgs jüdische Weiblichkeit voll Würde, Heiterkeit und Edelsinn und dann sei verabschiedet, neunter Zionistenkongreß. Ehre deinem Andenken, Segen dein Gefolge.  

 

Zur Biographie: Heinrich York-Steiner

Aus: Menorah 3 (1925), H. 4, S. 84.

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Ich nehme dich in meine Arme, oh Kinor, und singe ein Lied dem See des Saitenspieles, ein Lied, das die Seelen begeistern und die Herzen gewinnen soll.

Wem lobsinge ich vorerst? Dir, o Herr, der du uns gnädig geführt von den Trauerweiden Babels zu den Wässern des Jordan, der du in der Zerstreuung mit starker Hand ein unsichtbar Band um uns gewunden hast, dessen Enden über das „Meer von Kinereth“ führen und in Zion verankert sind.

*

Wer ein Jahrzehnt dem Lande ferne geblieben ist, vermag sein Erstaunen kaum in Worte zu fassen. Die holperigen Straßen von einst, die Wege, auf denen nur eisenachsige und stählerngestützte Wagen fahren durften, liegen glatt in der heißen Sonne und wo die Pferde mühselig im Sande oder über Steine stiegen, schwirren die Automobile von einem Ende des Landes zum anderen.

Die Erinnerung wandert zurück in jene Zeit, da die Fahrt von Haifa nach dem See Kinereth, die heute in wenigen Stunden zurückgelegt wird, zwei Tagreisen verzehrte. Wo man unter Umständlichkeiten einen arabischen Kutscher gewinnen mußte, der dann noch unterwegs einen Führer bestellte, damit er vom Wege nicht abirre. In jener Zeit war es, daß wir von der Höhe Galiläas hinabrollten in die Tiefe des Jordantales, das 208 m tief unterhalb dem Meeresspiegel liegt. Die fruchtbare Ebene leuchtet in der Abendsonne, deren letzte Strahlen den Hügel beglänzen, auf dem die Lehrfarm von Kinereth steht, die uns in der letzten Nacht der palästinensischen Reise Obdach bietet.

Wir wanderten mit hungrigen Augen in der Dämmerung umher, hinunter zum See, der langsam verblaßte und nur noch die Lichter auffing, die durch das seltsam geformte Abendgewölke strahlten. Wir zogen die Straße gegen Tiberias, die unsichtbar bleibende Stadt, die man im Dämmer nur ahnen mag. Das Halbdunkel schlang die Gestade ein, bedeckte den See und legte sich wie ein Schleier über den Weg.

Ein Aufseher erzählte vom Leben und Treiben auf Kinereth. Es ist ein Leben der Arbeit, schwerer Arbeit, deren Härte keiner beklagt, weil sie jeder sucht. Genuß bietet die erfolgreich gepflegte Flur und Anregung der Araber.

Es gab heroische Kämpfe hier herum, Kämpfe auf Tod und Leben, Mann gegen Mann und gemeinsame Abwehr manchen Überfalles arabischer Horden, die rasch über den Jordan kommen. Kinereth ist von einerhohen Mauer umgeben, die nachts festungsgleich abgeschlossen wird. Wachsame Hunde und tapfere Menschen schützen das Gut gegen Diebe und Räuber. Eines Abends kamen deren gegen 50, wohl bewaffnet, fest entschlossen, das Gehöft zu überfallen und zu plündern.

Sie besitzen auf der Farm nur wenig Schießgewehre, die jüdischen Reiter setzten sich auf ihre Pferde und schossen im raschen Ritt so oft und so rasch von den verschiedensten Stellen in das Dunkel, daß die Beduinen an eine große Zahl von Bewaffneten glauben mußten. Am nächsten Morgen fand man nur noch ihre blutigen Spuren.

Unter solchen Gesprächen, bei sinkendem Tageslicht, sucht man gerne die schützenden Mauern. Wir steigen die Höhe hinan, zurück zur Farm. Nahebei, auf halber Höhe finden wir Bausteine und Grundaushebungen; hier entsteht die neue Icakolonie Kinereth.

Einige der künftigen Kolonisten sind schon angelangt, um ihr Land zu bebauen, das sich auf der Lehne terrassenförmig erhebt, geschützt von den Hügeln, die wir herabgekommen sind. Dieser Streifen Landes steht schon in Kultur, die Leute, die ihn bearbeiten, wohnen aber noch in Bretterhütten.

„Bitte, kommen Sie herein zu uns, Sie sollen sehen, wie wir in Palästina leben“, meint eine stattliche ältere Frau. Und wahrlich, ihre Bitterkeit ist nicht ohne Berechtigung. In einer Bude, die gegen Regen nicht schützt und dem Winde wenig Widerstand bietet, steht guter Hausrat, unter anderem ein schönes, hohes Bett mit vollen Federpölstern und reinem Leinenzeug. Querüber liegt ein kleines Mädchen, die Füße auf einem Stuhl, im tiefen Schlafe schwer atmend. „Das Fieber hat sie“, spricht die Mutter, „alle paar Tage muß sie sich eine Stunde legen.“

In diesem Augenblick tritt ein kräftiges, nicht allzu großes Mädchen ein, in der Schürze frischgemähtes Gras, die Sichel unter dem Arm, das Gesicht gerötet, die Augen kühn leuchtend. Wohl sieht man es, daßFieberröte sie oft genug getrübt hat, aber das kleine Weibstück atmet Kraft und Sicherheit.

„Warum führst du die Fremden hier herein“, schmälte sie. „Zeig` ihnen doch lieber unsere Felder, die wir aus dem trockenen Boden aufbauen, unseren Weizen, unsere schönen Äcker, unser Land.“

„Haben wir daheim keine Äcker gehabt?“ warf die Mutter ein. „Schöne Felder, mein Herr, und ein schönes Haus. Kommt sie einmal von Odessa nach Haus und schreit fort, fort von daheim, fort nach Palästina.“

Das Mädel stampfte wild den Boden. „In Rußland ist man nit daheim, hier ist daheim.“ Und sie stieß den Fuß gegen die Erde, als ob sie neuerlich Besitz ergreifen wollte von ihr.

„Mein schenes Haus“, jammerte die Mutter. „Schén, schén“, spottete die Tochter, das halb im Jargon betonte Wort noch karikierend, „und kein Tag sein Leben sicher. Drinnen in Odessa erschlagt man die Brüder und man ist in der Nähe und hört das alle Tag.“

„Nu“, ereiferte sich die Mutter, „hier erschlagt dich der Araber“. „Hier“, gab das Mädel mit einem Lachen zur Antwort, „hier“, und das Lachen klang in ein wildes Triumphgeschrei aus, die Rechte mit der Sichel beschrieb einen Halbkreis, „hier schlagt man sich mit dem Araber. Und wer besser reiten kann und besser schießen, der bleibt der Herr. Hier ist unser Land“, schloß sie die Rede und wandte sich ab, mit dem Angesicht zum See und Fluß.

Uns war wie vor einer Schaubühne, auf der Künstler eine Szene stellen, denn solchen Judenmädchen begegnet man doch sonst nur in Büchern. Der Mutter zuckte es um den Mund. „Unser Land“, „voller Fieber“. Geringschätzig schob die Kleine ihre Schultern hoch. „Fieber, das ist eine Palästinakrankheit, das macht gar nichts, man schluckt Chinin und gut.“

Nun war sie etwas wild geworden, daß die Mutter das Land, ihr Land, vor den Fremden bloßstellte. Aber rasch wurde sie gut, ein Lächeln verschönte das braune Angesicht und es klang wie eine Hymne: „Gott, wie schén ist es doch bei uns.“ Ihre Blicke liebkosten das Land und mit ihr berauschten wir uns an dem Bilde, das sich uns darbot: Immer wieder blitzten die Windungen des Jordan aus der tiefgrünen Fläche des weithin unter uns gebreiteten Tales. Der geheimnisvoll blinkende See sank zwischen seinem hügeligen Bette in tiefes Schweigen, während das Licht über den schweren Bergmassen Galiläas wie ein Heiligenschein verdämmerte. Lange standen wir im Anschauen und in Träumen, bis die Stimme des Mädchens uns weckte:

„Und ein Haus kriegen wir auch bald“, lobsang ihre Stimme. „Ein schénes Haus.“ Sie wies auf die Steine neben dem ausgehobenen Grunde. Die Mutter gab sich in Frieden, ein leiser Stolz stieg in ihr auf und sie blickte bewundernd und lächelnd auf das tapfere Kind.

Sie führte uns zu einer Nachbarin, einer alten Jüdin aus dem Kaukasus, deren lediger Sohn Kolonist werden soll. Als die Erde urbar gemacht war und die Hütte stand, ließ er die Eltern kommen, ohne die er nicht leben mochte. Und nun galt`s einen Seitenhieb auf die ungebärdige Tochter. „Bei den Sephardim sinnen die Kinder ganz anders wie bei uns.“ Der Sohn arbeitet hart den ganzen Tag, „in dem hohen Bett da schlafen die Eltern und er liegt in einem Teppich auf der harten Erd`.“ „Und wissen Sie, wie die Mutter ins Bett geht? Der Sohn legt sich aufs Gesicht, die Mutter tritt auf seinen Rücken und er hebt sich langsam in die Höh`, bis sie ins Bett steigen kann.“ Die sephardische Greisin, deren Sprache uns nicht erreichen konnte, lächelte uns freundlich zu und wir verstanden sie. Sie zeigte uns das Innere der Hütte, deren Hauptmöbelstück das hohe Bett, während gute Teppiche den holperigen Boden bedecken, der sich von dem Acker draußen nicht unterscheidet. Stühle kennen diese Leute nicht, sie kauern auf ihren Teppichen.

So beginnen die Kolonisten ihre Arbeit in Palästina. „Wenn es regnet“, erzählte die russische Mutter, „wir stehen im Wasser!“ „Man vertrinkt nicht“, repliziert die Tochter. „Haben wir das gebraucht“, jammert die arme Frau fast unter Tränen.

Nun trösteten wir. Ich erzählte, daß die Kolonisten in Judäa Ähnliches erduldet hätten und nun als wohlhabende Gutsbesitzer auf ihrem Boden leben, fröhlich und glücklich in blühenden Dörfern sitzen und nur noch mit Stolz von ihren harten Anfangszeiten erzählen, von denen ich einiges zehn Jahre früher selbst erlebt hatte.

Da leuchteten die fieberroten Augen des Mädchens in einem Gefühle höchsten Glückes. „SiehsteMutter, siehste Mutter, du wirst mir`s noch danken, danken wirst du mir, daß ich nicht hab` wollen in Rußlandbleiben.“

Das war im Jahre 1910.

Damals ahnten wir nicht, wie sehr diese Mutter in wenigen Jahren Ursache haben wird, ihrem herrlichen, tapferen, kleinen Mädchen zu danken. Vorläufig dankten wir diesem prachtvollen Kinde und wir lobten das Schicksal, das uns so gnädig geführt, und dankten der Vorsehung, die uns den letzten Abend in Palästina verklärt hatte.

Für den ersten Kongreß gab ich seinerzeit dem Künstler die Idee des Gegensatzes zwischen den Juden an der Klagemauer und den Juden am Pfluge. Wenn sich doch ein jüdischer Künstler fände, den Frauenvereinen ein Bild zu schaffen mit unserer jungen Freundin von Kinereth und als Gegenstück hierzu einige elegante jüdische Damen, schmuckbehangen, sorgfältig entkleidet, wie sie in einem Christkindlbazar Bilder verkaufen für die Ausrüstung einer Heidenmission.

Doch nein, das war nur in einer Anwandlung bitteren Scherzes hingeschrieben. Ich weiß ein besseres Bild. Eine arme Näherin, die bei Lampenschein ihr dürftiges Brot auf der Maschine zusammenklappert als Gegenstück zu einem Mädchen aus Judäa oder Galiläa, das auf dem Felde ackert oder die Sichel führt.

Und wenn mir auch kein Maler mein herbes, braunes Mädel verewigt, ich trage doch sein Bild mit mir und singe ihm ein Lied so trotzig, so herb und doch so schlicht, wie dieses Judenkind.

Und nun kommt Frau Abrahamsohn, die Nährmutter von Kinereth, sie lockt mit dicker Milch, frischen Eiern, mit Butter und Käse neben gebackenen Lachsforellen, die der See freigiebig spendet. Und während der kleine Ofen, der im Freien steht, seine prasselnden Töne zu uns schickt, singen die Arbeiter in ihrer Küche traurige Lieder, Lieder, die zum Weinen reizen. Ich aber will fröhlich sein, weil das Bild dieses tapferen Mädels uns heimbegleitet.

Wir sitzen bald am Tische der Sänger, wir sitzen bescheiden und lauschen und schweigen. Wir schämen uns vor diesen Helden, die sich selbst nicht kennen, die in ihrer Bescheidenheit unsere Herzen verwunden, denn morgen verlassen wir Palästina, sie aber bleiben, arbeiten und dulden. Auch das kleine Mädchen bleibt, arbeitet, arbeitet, windet sich stundenlang im Fieber, schluckt die bittere Rinde des Chinabaumes und lacht und lacht. Wenn sie aber lacht, warum sollen wir trauern? Ein lustig Lied, meine Brüder. Solange es Judensöhne gibt, deren Rücken der Mutter Schemel ist, solange kleine Mädchen Haus und Hof verlassen, um den Boden Palästinas urbar zu machen, so lange soll kein Jude an seinem Volke verzweifeln. Singt, meine Brüder, singt ein trotzig Lied!

„Ein Sturm zieht durch die Lande.“ Jawohl, es stürmt draußen. Ein wilder West ist aufgestanden, er zieht von den Bergen Galiläas brausend nieder, die Tore seufzen, die Pforten stöhnen, in den Giebeln brüllt es und die Hunde heulen jämmerlich ob des ungewohnten Hexensabbaths. Schläfst du, kleines Mädel, in deiner zitternden Bretterhütte auf freiem Felde, die im Sturme bebt, die der pfauchende Wind erfüllt? Hörst du mein Lied? Mein Lied ist ein Hauch und der Sturm ist ein Hauch. Hülle dich warm, huschle dich eng und fürchte nichts.

Unter festem Dache sind wir, zwischen starken Mauern, du ruhest in gemachlosem Brettergefüge, über deinen müden Leib zieht der Wind. Krachend tost er die Dächer hinan, ein dumpfer Schlag – berstend weicht ein Fenster – dann klirrt es scharf auf, die Decke fliegt vom Leibe – – unser Fenster ist der Gewalt des Sturmes gewichen!

Einen Tisch her und ans Fenster gerückt, darauf unsere Koffer, dazwischen ein Brett, nun hält`s wieder dicht. Du aber, kleines Mädel in deiner Hütte, vermagst du zu ruhen?

Wir wachen dem Tage entgegen und harren des Lichtes.

*

Als man uns den Tee brachte und dazu, was die Farm an Gaben wohlgeratener Kühe hervorbringt, waren unsere Freunde von gestern längst bei ihrer Arbeit.

Dann kam der Abschied. Unser Gepäck wurde an den See gebracht, wo ein Boot unserer wartete, ein Fahrzeug, groß genug eine ganze Herde übers Wasser zu bringen. – – – Leiser Wellenschlag, sachtes Gleiten, sanftes Schaukeln, Zug um Zug hinaus in den See.

Sachte und doch viel zu rasch, denn es ist die letzte Stunde in diesem alten-neuen Lande der Heimat. Das Boot gleitet immer weiter nach Osten, bis daß wir den ganzen See überblicken. Einst kränzte eine Girlande lieblicher Orte dieses köstliche Gewässer, an dem jede Stätte durch seltsame Legenden weltenweit seinen Namen bekannt machte. Uns Juden entstand in Tiberias, das vor den Blicken sich von Hügel und Wasser löst, die Mischna, die Kodifizierung der mündlichen Rechtstradition, die Grundlage des Talmud, der die Mischna glossiert. Auch die sogenannte jerusalemitische Version des talmudischen Werkes ist in Tiberias niedergeschrieben worden.

An den Ufern des Sees ruhen Rabbi Akiba, Rabbi Jochanan ben Sakai, um die Größten der Großen zu nennen. Etwa 1000 Jahre später lebten noch hier Heroen der Lehre, des großen Maimonides Vater, zu dessen Gebeinen der Sohn seine sterblichen Reste hieher zur Ruhe bringen ließ. Sie kamen von weither, von Kairo, wo der berühmte jüdische Philosoph, der zugleich einer der ersten Ärzte seiner Zeit war, am Kalifenhofe seine Kunst übte.

Wie ein Traumbild schwebt das alles an uns vorüber, Vergangenheit, Gegenwart und die Zeit dazwischen. Der Geist aber sucht forschend das Geheimnis der Zukunft zu entschleiern. Werden wir neues Leben hieher verpflanzen? Werden wir?

Heiße Wasser quellen aus dem Boden und bieten den Bresthaften Heilung, der See spendet linde Bäder, köstliche Lüfte würzen die Tage, kühlende Winde streifen zur Nacht, der besiedelte Boden würde dem Fieber wehren, das sich noch meldet. Werden wir diese Siedlungen schaffen, hier, wo alles schläft, alles träumt?

Heilige Stille weitum. Nur hie und da schnellen flinke Fische aus dem See und fallen zurück in ihr perlmutterfarbenes Wasserschloß.

Lautes Rufen weckt aus Sehnen und Träumen. Das Boot stößt ans Ufer, wir eilen zur Bahnstation Samach, dem Zug zu, der nach Damaskus fährt. „Der Wind hat die Tore des Himmels geöffnet“, meinte der Bootsmann. Und während der Zug sich in Bewegung setzt, schießt der Regen aus den offenen Wolkenschleusen in Strömen hernieder. Lange stehen wir noch am Fenster und spähen durch die Wasserfäden hinüber nach dem Hügel von Kinereth.

Oh, du kleines Mädel, Symbol des erwachenden Volkes! Peitscht der Regen dein gerötet Gesicht? Ereiltest du die Hütte und ruhst in ihrem aufgeweichten Boden? Unser Wort erreicht dich nicht und doch rufen wir laut hinaus: „Jeworechecho!“

Und nun erklingt meines Liedes letzte Strophe. Wo immer du heute weilen magst, du liebste Schwester, schöne Erinnerung an die Zeit der frühen Pioniere, du hast nicht vergebens gearbeitet und gelitten, denn deinem Beispiel erwuchs wahrlich der Segen Gottes und von Dan bis Berscheba ist das Land voll von deinesgleichen.

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