➥ Zur Biographie: Vojtech Rakous

In: Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur 6/8 (1928), S. 455-462 (tschechisch, autorisierte Übertragung von Anna Aurednicek)

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➥ Zur Biographie: Gerhard Rohlfs

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 20. Jahrgang, Ausgabe 23 vom 04.06.1880, S. 190ff / Ausgabe 24 vom 11.06.1880, S. 197f

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Tran-skription

Die Juden in Marokko.
Von Gerhard Rohlfs.


Die Aufmerksamkeit der civilisirten Völker ist augenblicklich einmal wieder auf ein Land gelenkt das zur Schande Europa’s noch immer vor den Thoren unseres Continents unter der miserabelsten Regierung der Welt seine elende Existenz fristet Wer den Zustand der Bevölkerung und der Regierung vor Marokko aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, glaubt sich dort wie in einem Traume zu befinden. Man traut seinen Augen nicht und meint oft falsch gehört zu haben, und doch ist es bittere Wahrheit!


Nur durch die schmale Meerenge getrennt, entfaltet sich in Gibraltar die Civilisation eines der ersten Culturvölker der Welt während vis-à-vis, in Marokko, ein Zustand herrscht wie zur Zeit Abrahams. Nichts hat sich dort geändert, alles lebt und webt wie zur Zeit Mohammeds, und namentlich Fanatismus und Haß gegen Andersgläubige, beides Grundprinzipien der semitischen Religionen, treiben hier ihre schönsten Blüthen.
Da wird auch kein Einschreiten helfen; Conferenzen und Gesandtschaften bringen auf den inneren Zustand des Landes keine Aenderung hervor. Der entsetzliche religiöse Hochmuth der den Sultan von Marokko und seinen Hof beseelt, macht jeden Fortschritt unmöglich. Ein Hr. v. Conring, welcher im vergangenen Jahr in Marokko war und als einer der neuesten Augenzeugen gelten kann, bestätigt vollauf das eben Gesagte.

Marokko wird deshalb hauptsächlich keine Reformen vornehmen, weil es sich stets von einer Macht geschützt weiß, von Großbritannien. Mögen die Engländer als Volk noch so philanthropisch sein, die englische Regierung selbst hat das größte Interesse daran, die Barbaren so zu erhalten, wie sie sind, den faulen marokkanischen Staat so zu belassen, wie er ist. Großbritannien hat ein politisches Interesse daran Marokko in seinen dermaligen Zustande zu erhalten, weil das Land bei
einem etwaigen Zerfall anderen Mächten in die Hände fallen würde; weil, falls das Gibraltar gegenüberliegende Küstengebiet einer fremden Großmacht zufiele, der Werth der englischen Festung sinken, weil die Verproviantirung derselben sehr erschwer und endlich, weil der englische Säckel eine empfindliche Einbuße erleiden würde, da der marokkanische Markt fast nur von England aus besorgt wird. Dasselbe zärtliche Interesse, welches Großbritannien so lange für den osmanischen Staat bekundet hat – denn wer war von jeher der eifrigste Vertheidiger der Integrität des türkischen Reiches? – hat es heute für Marokko. Sollte aber der Zusammenbruch dieses elenden Staates durch gar nichts mehr abzuwenden sein, dann zweifeln wir keinen Augenblick, daß England sein marokkanisches Cypern finden wird. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß Tanger von 1662 bis 1684 englisch war.
Die marokkanische Regierung verspricht immer alles, aber sie hält nie ihr Wort. Ganz wie das Volk, wie jeder Mohammedaner, glaubt man in den obersten Kreisen von Marokko den Weißen überhaupt sein Wort gar nicht halten zu dürfen, und in der Selbstbelügung werden Regierung und Volk in Marokko von niemandem übertroffen, höchstens von den Türken erreicht. Trotz der vielen Niederlagen glauben die Marokkaner noch heut immer das mächtigste Volk der Erde, der Sultan der mächtigste Monarch unter den Herrschern zu sein; die Arroganz der sogenannten Minister, die Dummheit der Gesandten Marokko’s wird nur noch übertroffen durch stupiden Fanatismus. Die Gesandtschaft Sir Moses Montesiore’s im Jahre 1861 hat deßhalb auch nicht den geringsten Erfolg gehabt. Es ist wahr, in den Hafenstädten sind die europäischen Juden jetzt besser daran, und auch viele von den Eingebornen vermögen es sich nach und nach unter den Schutz irgend einer europäischen Macht zu stellen und können dann ein einigermaßen menschenwürdiges Dasein führen. Aber wenn sie jetzt auch nicht mehr barfuß in Tanger und Mogador auf den Straßen zu gehen brauchen, so konnte es doch noch vorkommen, als der Prinz von Joinville Mogador bombardirte (1844), daß sich die mohammedanische Bevölkerung ins Judenviertel stürzte, dort plünderte, brannte, Frauen und Kinder schändete und schließlich alles ermordete.


Im Innern hat sich aber noch gar nichts geändert. Weshalb sollten denn da auch bessere Zustände für die Juden herbeigeführt werden, da solche für die Christen noch nicht einmal existiren?
Die Juden dürfen doch wenigstens im Innern von Marokko, in Fes, in der Stadt Marokko selbst, sogar im heiligen Uesan, sowie südlich vom Atlas in Run, Sus, Draa und Tasilet wohnen. Die 3 Christen würden aber die Erlaubniß dazu nicht bekommen. Freilich wohnen die Juden im Innern von Marokko unter so entsetzlichen Verhältnissen, daß ein Europäer sich auch schwerlich dazu verstehen würde. Die Juden werden im Innern nicht als „Sklaven“, sondern als „Sachen“ betrachtet.
In diesem Augenblicke weilt der Vice-Sultan, Sir Drumond Hay, in Fes; wird er den Sultan bewegen Concessionen zu machen? Gewiß; aber man wird nicht mehr davon halten, als man es Montesiore gegenüber gethan hat. Man wird in Madrid die schönsten Versprechungen machen, aber man wird keine erfüllen. Im Innern des Landes ist dieß auch gar nicht möglich; nur diejenigen, welche es glauben, geben sich einfach Illusionen hin und kennen die Verhältnisse des Landes und des Volkes im Innern gar nicht. Selbst die europäischen Vertreter, welche dann und wann in Gesandtschaft an den Hof des Sultans gehen, können Land und Leute nicht beurtheilen lernen, weil sie alles unter außerordentlichen Verhältnissen sehen. Der einzige Europäer, der die Marokkaner gründlich kennt, Sir Drummond Hay, glaubt auch gar nicht daran, daß die marokkanische Regierung im Innern die Juden emancipiren werde, er glaubt deßhalb nicht daran, weil er den Charakter der Marokkaner kennt. Uebrigens soll zur Entschuldigung des Sultans und seiner Regierung gesagt werden, daß, falls sie den unglücklichen Israeliten eine Erleichterung schaffen, eine Gleichstellung mit den Gläugebigen währen wollten – welch Unglück, daß überall die Religion die Völker auseinanderreißt! – dieß gar nicht durchzuführen wäre, weil alle derartigen Maßregeln durch den Fanatismus des marokkanischen Volkes zu nichte gemacht werden würden.

Der Großvater des jetzt regierenden Sultans, Mulei Abder-Rahman, erlaubte einst den Juden von Fes, ihre Milha (so nennt man in Marokko die jüdischen Quartiere oder Ghetti) in gelben Pantoffeln zu verlassen. Der erste Unglückliche, der es wagte sich so beschuht in den Straßen von Fes zu zeigen, kehrte lebend nicht nach dem Ghetto zurück; er wurde vom wüthenden Volke gesteinigt.
Und doch sind die Juden länger in Marokko als ihre Peiniger und Brüder, die Araber.

Darüber kann kein Zweifel bestehen, obschon Leo Africanus, sonst wohl unterrichtet, seines von Lorsbach übersetzten Werkes sagt: „Das Judenthum hingegen ist theils von den Afrikanern, theils von den Christen ausgerottet worden.“ Leo, der 1530, oder doch ungefähr um diese Zeit, in jenen Jahren in Fes war, gibt aber eine genaue Beschreibung von den dort lebenden Juden, die er seinerzeit dort fand. S. 265 des genannten Werkes sagt er: „Da, wo ehedem die königliche Wache der Bogenschützen welche jetzt nicht mehr gehalten wird, logierte, wohnen nunmehr, Juden. Diese lebten vor Zeit in der Altstadt, wurden aber gewöhnlich, wenn ein König gestorben war, von den Mauren ausgeplündert; es war daher nöthig, daß der König Abu Said (der ihren Tribut verdoppelte), sie nach Neu-Fes versetzte, wo sie sich noch in einer sehr langen und breiten Straße aufhalten und Buden, Häuser und Synagogen haben. Ihre Menge hat, besonders seitdem ihre Glaubensgenossen vom König von Spanien vertrieben worden sind, so sehr zugenommen, daß sie sich nicht wohl zählen läßt. Sie sind aber überall verachtet: sie dürfen keine gewöhnlichen (d. h. gelbe oder rothe) Schuhe, sondern müssen Pantoffeln von Meerbinsen und schwarze Turbane tragen; die, welche Mützen tragen wollen, müssen einen rothen Lappen daran heften. Der Tribut, den sie dem König erlegen, beträgt monatlich 400 Ducaten.
Wir haben schon gesagt, daß Leo sich getäuscht hat, wenn er sagt: es gab keine Juden in Marokko und Nordafrika zur Zeit der Invation ihrer Brüder, der Araber.
Es leben in Marokko dreierlei Arten von Israeliten, was das Alter der Existenz betrifft; oder aber, wenn man die modernste Einwanderung mitrechnet, kann man sogar vier Einwanderungsperioden und demnach viererlei Juden nachweisen. Die ersten und ältesten Juden datiren von einer Einwanderung her die vor unserer Zeitrechnung statthatte. Zu ihnen gehören jene Israeliten, von denen Davidson uns erzählt und von deren wirklicher Existenz ich selbst bei meiner Uebersteigung
des großen Atlas ebenfalls Kunde erhielt. Diese Juden sprechen berberisch (masigh, schellah oder tamersirht), leben von der marokkanischen Regierung ganz unabhängig, wenigstens ebenso unabhängig wie die Brebber oder Berbervölker.
(Schluß folgt.)



(Schluß.)
Sie leisten wohl einem Berber-Scheich Heerbann und schließen sich ihm an, leben aber auf gleichem Fuße mit den Berbern und tragen ebenso gut Waffen wie sie. Sie sind also die einzigen Juden inmitten mohammedanischer Bevölkerung, welche Waffen tragen. Sie kleiden sich ebenso wie die übrigen Gebirgsbewohner und reden nicht die berberischen Mohammedaner, wie es sonst für die Juden Marokko’s Vorschrift ist, mit „Sidi“, d. h. „mein Herr“ an, sondern mit dem einfachen Namen.


Diese Juden sollen nicht die Bücher Mosis besitzen, sie sollen keine Nachricht haben von der Existenz Jesu Christi, sie sollen nicht in die babylonische Gefangenschaft gegangen, sondern schon um diese Zeit nach Afrika ausgewandert sein. Wenn übrigens Davidson sagt: südlich vom Atlas gebe es eine große Judenstadt, so kann dieß wohl nur Bezug haben auf die großen Judenquartiere in Tafilet und Draa, welche allerdings volkreich, aber, wie ich aus eigener Anschauung
bestätigen kann, in vollkommener Abhängigkeit von der marokkanischen Regierung sind.

Auch am Nun, wohin ich leider nicht gedrungen bin, soll es Berber geben, die sich zur jüdischen Religion bekennen, oder Juden, die berberisch reden. Sie wollen auch lange Zeit vor unserer Zeitrechnung aus Palästina gekommen sein. Wie Godard S. 15 Bd. I. sagt, ist es schwer den Werth jener von arabischen Schriftstellern gesammelten Ueberlieferungen zu schätzen, um mit Bestimmtheit behaupten zu können, ob die jüdischen Tribus, deren Sitten mit denen der Berber übereinstimmen, wirkliche Nachkommen jener vertriebenen und zerstreuten Juden oder ob sie aus Proselyten der alten Synagoge hervorgegangen sind, deren Einfluß in der alten Welt viel bedeutender war, als man gemeiniglich anzunehmen pflegt. Man behauptet, daß diese marokkanischen Tribus ein verdorbenes Chaldäisch reden, denen verständlich, welche im Syro-Chaldäischen des Talmus unterrichtet sind.
Es gibt sodann Juden, welche gleich mit den Arabern oder unmittelbar nach der mohammedanischen Invasion nach Marokko gekommen sind, die sich in Uojda, Tesa, Fez, Tafilet, Figig, Draa und anderen Orten aufhalten. Sie reden alle arabisch, aber sie bedienen sich beim Schreiben der hebräischen Lettern.
Sodann finden wir bedeutende Einwanderungen 1350 aus den Niederlanden, 1290 und 140 aus England, 1403 aus Frankreich, 1342 aus Italien und besonders 1492 und 1494 aus Spanien.
Diese Juden bewohnen vorzugsweise die Häfen Marokko’s; die englischen, französischen und übrigen europäischen Juden sind aber längst von den spanischen absorbirt worden. Alle reden spanisch, die meisten von ihnen auch arabisch, aber untereinander bedienen sie sich ausschließlich der spanischen Sprache. Während bis vor wenigen Jahren das bigotte Spanien, welches mit den Arabern diese Israeliten unter Ferdinand und Isabella vertrieben hatte, nichts von den jüdischen Unterthanen wissen wollte, fängt man jetzt an sich zu erinnern, daß die Zugehörigkeit zu einem Lande nicht durch das Glaubensbekenntniß des betreffenden Individuums bestimmt werden kann, und viele von den Juden sind wieder Unterthanen der spanischen Behörden geworden.

Was aber die unglücklichen Juden gelitten haben bis zum Regierungsantritte des Muley Abd er Rahman ben Hischam, ist unglaublich und unmöglich hier wieder zu erzählen. Und damit soll auch keineswegs gesagt sein, daß sie seit jener Zeit eine auf Recht und Gesetz beruhende Existenz errungen haben. Nur schaffte der besagte Sultan die Massenmorde ab, und verbot es den Gläubigen ohne Grund einen Juden todtzuschlagen. Aber leicht findet sich eine Ursache, z. B. reich sein ist doch ein Grund! So ließ im Jahr 1843 derselbe Sultan den Franzosen Darmon, der als Jude in Marseille geboren war und den Posten eines spanischen Consuls in Masagan bekleidete, ermorden, weil er aus Versehen einen Marokkaner getödtet hatte. Darmon wurde auf Befehl des Sultans nach derselben Stelle geschleppt, wo der unglückliche zufällige Schuß auf den Marokkaner losgegangen war, und deßhalb ward er dort auch kaltblütig erschossen. Weder Spanien noch Frankreich bekamen eine Reparation.


Wir wollen uns indeß nicht aufhalten bei jenen Drangsalen vergangener Zeiten, wo z. B., wie unter Sultan Mulej Zasid, die sämmtlichen Juden mehrerer Städte wegen ihrer Reichthümer hingemordet wurden, nachdem man vorher selbstverständlich die größten Grausamkeiten begangen hatte, sondern wir wollen untersuchen, wie die jetzige Lage der Israeliten in Marokko ist. Man kann sagen: es gibt zweierlei Vorschriften für die Juden, solche, welche gewissermaßen gesetzlich für sie sind und die im ganzen Reiche auf sie Anwendung finden, und solche, die jede einzelne Stadt, jedes einzelne Individuum auf sie anwendet, und die von äußerster Willkür dictirt sind. Letzter sind manchmal viel vexatotischerer Natur als erstere.
Nach den Gesetzen können die Juden außerhalb ihrer Milha (Ghetto) weder Land noch Häuser besitzen noch den Boden bebauen Sie dürfen auch keine Grundstücke und Gebäude als Pfänder entgegennehmen. Sie dürfen kein Pferd besteigen, sondern können nur zu Maulthier oder zu Esel reiten. Sie dürfen nie Hand an einen Muselman legen, selbst nicht um sich zu vertheidigen, ausgenommen innerhalb ihrer eigenen Wohnung. Sie können vor Gericht kein Zeugniß ablegen und
dürfen vor einem mohammedanischen Richter nur in hockender Stellung sprechen. Auf den Märkten und vor den Buden darf ein Jude einen Muselman nicht überbieten, wenn es sich um Lebensmittel handelt. Es ist ihnen verboten arabisch zu lesen und zu schreiben; sie dürfen sich auf Reisen einem Brunnen nicht nähern sobald er von Mohammedanern umstanden ist; auch dürfen sie sich einem Mohammedaner nicht gerade gegenübersetzen, sondern schräg. Beim Begegnen
auf der Straße müssen sie stets links ausweichen und beim Begegnen auf Reisen schon von weitem absteigen, falls sie zu Esel sind, um zu Fuß, beim Muselman vorbeizukommen. Sie dürfen keinen rothen, sondern müssen einen schwarzen Fes tragen; sie dürfen keine gelben und rothen Pantoffeln, sondern nur schwarze tragen. Den Burnus müssen sie derart überwerfen, daß die Oeffnung auf der rechten Seite sich befindet, mithin der linke Arm gar nicht benutzt werden kann.
Um einigermaßen diese vielen Verbote zu compensiren, haben sie aber auch eine Menge Erlaubnisse oder Gebote. So sind sie gehalten bei jeder Geburt eines Prinzen eine gewisse Summe zu zahlen. Und dieses Ereigniß kommt in Marokko oft genug vor, oder es wird finigirt, um ihnen Gelegenheit zu geben dem Sultan ein Geldgeschenk darbringen zu dürfen. Sie haben auch die Obliegenheit die Cadaver von Verbrechern einzugraben oder diese selbst zu köpfen und zu hängen, und sie sind damit betraut die wilden Thiere des Sultans zu füttern. Glücklich der Jude, an dessen hübsche Tochter ein Prinz oder der Sultan ein Auge geworfen hat. Sie muß dann zwar Mislemata (Mohammedanerin) werden, aber ihre Familie ist nun in der Regel vor Vexationen und Verfolgungen sicher.


Wir haben hier uns bemüht so viel als möglich die gesetzlichen Vorschriften und Verbote betreffs der Juden zusammenzustellen, wenn überhaupt von Gesetz in Marokko die Rede sein kann; aber viel zahlreicher sind noch die einzelnen Gebräuche eines jeden Stammes, eines jeden Ortes, eines jeden Gläubigen gegenüber diesem unglücklichen Volke, und diese hinwiederum werden nur noch übertroffen von den „zufälligen“ Handlungen, die sich jeder Mohammedaner gegen einen Juden erlauben kann.
Jetzt soll Abhilfe geschaffen werden. Für die Hafenstädte können wir es uns vorstellen, für das Innere des Landes nicht. Wer will in Fes die Controle ausüben, und es wäre doch mehr als naiv daran glauben zu wollen, daß so fanatische Mohammedaner, wie die Marokkaner es sind, aus freien Stücken „ungläubigen Hunden“ Gleichberechtigung einräumen werden.

Autorisierte Übertragung aus dem Jüdischen von Berthold Feiwel. Berlin [1902].

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➥ Zur Biographie: Oskar Rosenfeld

Aus: Esra 1 (1919), H. 1, S. 8-16.

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Tran-skription

Man mag ein Kulturproblem anfassen wo man will, immer behält man die Empfindung, es höchst einseitig getan zu haben. Ganz besonders, wenn man es mit den Mitteln der Logik, des schlüsseziehenden Verstandes versucht hat, also von seiner Außenseite her. Denn hier bedeutet es nichts anders als so lange und so viel von der Lebendigkeit der Eindrücke abstrahieren, bis man sich ein System zurückgelegt hat und sich dann in bequemster Übereinstimmung mit einer möglichst großen Gesellschaft befindet; oder anders ausgedrückt: anstatt einer Ganzheit einer Lebensäußerung ein Stückwerk zu erlangen, daß sich im Wort fixieren, praktisch sicher handhaben und überblicken läßt. Diese Darstellungsweise ist notgedrungen eine verstofflichende, entseelende undwie könnte man sie auf ein Problem anwenden, das nur individuell zu erleben ist. Darum muß man vor einer geistigen Erscheinung wie der jüdischen Kunst die Methode anwenden, die der Künstler dem Leben gegenüber anwendet: man muß die Methode wechseln. Sonst beginnt die exakte Betrachtungsweise der Dinge – wie oft hat es die Erfahrung bestätigt – sich selbst als einseitig zu betrachten. Sobald sich das zu erforschende Material über unsere Sinne ins Unkontrollierbare verliert, noch nicht sanktioniert durch die menschliche Konvention, durch die Geschichte der Kunst, müssen wir das Sinnbildhafte, worauf schließlich alle Geistesschilderung angewiesen bleibt, als ein Symbol nehmen, obwohl es uranfänglich bloß ein Bild fürs Auge war. Wir müssen Einsicht nehmen in alle Verhältnisse des Stofflichen, in die physische Struktur des Juden, der geistige Werte geschaffen, wir müssen Ehrfurcht haben vor den Produkten, für die wir leider noch längst nicht hingebungsvoll genug sind, mit ihren ethischen, ästhetischen, religiösen, sozialen Nebenbedeutungen.  

Sobald der Jude den ihm angestammten Herd verlassen hatte, änderte sich sein Verhältnis zur Gemeinschaft, zur Familie, zum Besitz. Sein Heim verlor den festen Boden, er hatte keinen Mittelpunkt mehr für seine sozialen Bedürfnisse und darum blieb ihm nichts anderes übrig als Individualist zu werden. Wir sehen im Mittelalter seine Versuche, auf den alten Kulturen Europas heimisch zu werden, den Rasseninstinkt zur Polygamie abzustreifen und damit auch in neue Bahnen des Erotischen einzulenken. Es ist eine neue, noch nicht anerkannte Tatsache, daß das physische Leden des Juden durch die Umwertung des Geschlechtslebens, indem er von der Vielweiberei zur Einehe sich wendet, einen individualistischen Zug annimmt. Zweifellos liegt eine tiefe Verwandschaft zwischen den erotischen Antrieben und den anderen starken Phantasieentladungen vor, insbesondere den kunstschöpferischen. Denn es ist unleugbar, daß auch im künstlerischen Verhalten ältere Kräfte mitwirksam werden und die individuell erworbenen durchsetzen: geheimnisvolle Synthesen von Einst und Jetzt, beidemale der Rausch einer heimlichen Wechselwirkung. Ganz unmerklich gleitet ästhetisches Entzücken in erotisches über. Und darum können wir den Kunsttrieb einer Wiedererweckung des Urältesten nennen, eine Belebung jener Instinkte, die durch Gesetz und Tradition gebunden, jetzt allmählich freizuwerden beginnen. 

Im Künstler zerbricht nun ferner sein besonderer Zustand die Norm und letzte Erklärung dieses Phänomens liegt ausschließlich auf geistigem Gebiet. Deswegen muß dieses erst alles Problematischen entkleidet werden. 

Das geistige Leben des mittelalterlichen Juden bestand im Zurückschauen, im Umwenden nach Gewesenem, im Sehnen nach einem Ideal, das zertrümmert war und das die Erregung des Gemüts und der Wünsche der Seele niemals zu neuem Leben erwecken konnte. Dieses Sehnen ging unerfüllt durch sein ganzes Leben und das ist auch das Tragische des niemals sich erfüllenden Geistesmenschen, daß er für den Inhalt seines Denkens keine feste körperliche Form finden und sich darin begrenzen kann. Das ist die Tragik der großen Propheten, der großen jüdischen Dichter in Spanien, ihr immerwährendes Ausholen zur Tat, ihre ausschweifenden Gefühlsregungen, der unerschöpfliche Atem ihrer dithyrambischen Ergüsse. Dabei aber schlummerte in ihren Worten schon das Pathos, der Rhythmus, der Uranfang jeder Kunst, daher schon die Vorahnung der Musik in den Dichtungen des David und Salomo. Das Gemüt dieser Juden verschwendete sich an dem Unfaßbaren, Metaphysischen, es hatte keine Grenzen, keinen Horizont und ward zum Unheil. Die große jüdische Seele suchte eine Zufluchtsstätte in der Ekstase, in der Mystik, sie wurde hingebungsvoll für eine Idee. Die kleine jüdische Seele haschte nach des Augenblicks Nutzen, nach dem Erwerb, sie wurde engherzig und schuf sich das Ghetto. Die große jüdische Seele rang nach dem Unendlichen, sie vernichtete alle Begriffe des animalischen Daseins. Sie gebar den ersten Märtyrer. Die kleine jüdische Seele opferte sich dem Alltag, sie mißachtete die edle Hingabe des Fanatikers. Sie gebar den ersten Assimilanten.  

Der psychische Zustand war gewiß kein Nährboden für Phantasieschöpfungen. Der Instinkt war gebrochen, eingedämmt, und wenn er sich zum Intellekt verfeinerte, um in der Natur eine Ergänzung seines Wesens zu finden, dann schnürte sie ihm die Kehle zu. Die Freiheit machte ihn erzittern und er sah ein, wie sehr uns die Natur ihre unerbittliche Gleichgiltigkeit für unseren Jammer fühlen läßt. In diesen Juden lebte nichts als die schwache Bewegtheit zu einem beschaulichen Glück, zu einer Harmonie der Wünsche und Empfindungen. Und hiebei wurde er empfänglich für die zarten Zierrate seines täglichen Lebens, er verschönte sich seine Inbrunst mit Schmuck und Glanz und in seinem Heim, in seinem Gotteshaus nahm die idyllische Schönheit kein Ende. Darum war seine Kunst eine Kleinkunst, ein Formenspiel, beschränkt auf die ornamentale Ausschmückung gewisser ritueller Gegenstände und Gebetsfolianten. Sie war mehr Kunsthandwerk als Kunst. Und darum hatte sie nicht die Schwerkraft einer selbständigen Offenbarung mit den ihr zukommenden Gesetzen, sie war eine anmutige Begleitung zu der Melodie eines begrenzten Daseins, ohne Größe und ohne Wucht, da sie dem Geist des mittelmäßigen, sinnlich begabten Menschen entsprang. Und ihr fehlte der Keim der Entwicklung, weil sie kein Vorbild hatte in der Natur, vielmehr ein Produkt war des grüblerischen Intellektes. Diese Naturentfremdung blieb dem Juden bis in das XX. Jahrhundert haften und sie ist nicht anders zu erklären als durch eine gewisse Furcht, Ehrfurcht vor der Freiheit, als eine Furcht, die in Haß so leicht umschlagen kann, wenn man ahnt, daß die Freiheit der Natur durch Liebe nicht zu bezwingen ist. 

Verstümmelte Überreste dieses Hanges zur Kleinkunst, zur Verschönerung des werktätigen Lebens haben sich bis in die gegenwärtige Zeit hinübergerettet, wir finden sie als unbewußte Äußerungen in den Stuben der religiösen Juden, wir erkennen sie als zweckdienliche Faktoren im Kunstgewerbe des Bezalel. 

Das Jahrhundert der Aufklärung und der Emanzipation riß auch den Juden mit, ihn vor allem, der so lange gewartet hatte, da er, Ideale aufgepackt, niemals mit sich fertig wurde, indem immerwährend durch die Pforten seiner Seele neue Bilder, neue Forderungen sich einschlichen. Aber der Erlösung, der Erfüllung seines hoffnungsfreudigen Wesens blieb er gleich ferne. Die Fluten des Zeitgeistes wußten nicht viel mit ihm anzufangen. Sie schärften seinen Blick für das Geometrische des Weltbildes und machten ihm zum Intellektmenschen. Ein positives Ideal hätte früh schon den Juden über sein Vermögen hinaus schöpferisch machen können. Er hätte an der Harmonie des herausgestellten Werkes ausruhen können. Das Unschöpferische aber der jüdischen Intelligenz bedrückte das Gemüt und der Geist empörte sich gegen die Tat, weil er ihrer nicht fähig war. Und eines ist so recht bezeichnend für das Klima des neuen Juden: er hat die materiellen und geistigen Güter in der Hand und konnte sich nicht zur Tat entschließen, unwillend, was für eine Tat er vollbringen solle. 

Es ist natürlich, daß dieser nach keiner Richtung hin Kulturwerte schaffende Jude nach mancherlei Wirrnissen und Umwegen zum Problem des jüdischen Volkes gelangt. Und da kommen plötzlich die Fragen über ihn: Wieweit reicht mein Sinn für das Nationale überhaupt? Werden nicht bald die Erkenntnisse, die ich von meinen Voreltern her im Blute habe, aufgebraucht sein? Kann ich die Kraft meines Geistes mit der Intensität meiner Sinne in Einklang bringen? Jeder junge Jude, glaube ich, ist einmal vor diesem Abgrund gestanden. Er hat sich dem Wunsche nach einer Wiedergeburt des Judentums hingegeben und angstvoll und mit süßer Erregung zugleich mißt er seine Kräfte. Wie wenige von diesen neuen grübelnden Köpfen haben noch den festen, einseitigen, eindeutigen und doch alles umfassenden Glauben! Und doch sollte der, dem dieser alte Gott verloren gegangen, nicht verwaist sein. 

Welch Fülle von Intellektmenschen! Ich könnte eine große Anzahl solcher nennen, die mitten in der neuen jüdischen Geistesbewegung stehen. Aber es heißt seinen Intellekt begrenzen, ihn einstellen auf die Notwendigkeiten jeder Zeit, damit seine Energie für die Zeit wirksam werde. Sobald der Intellekt an dem Widerstand seiner Zeit scheitert, bedarf er einer Zufluchtsstätte für sein zertrümmertes Wollen. Denn Zeitläufe von höchst entwickeltem Kulturbewußtsein, von großem politischen Drange, von starkem Gemeingefühl verlangen einen Reservator der Gefühle, einen Ermahner des schönheitsdurstenden Gewissens. Große Ereignisse, Bekenntnisse zu einer bedeutenden Idee zwingen den Menschen, sich für einen Glauben zu entscheiden und wenn nun einmal der Glaube nur bei Wenigen das tiefste Erlebnis war, (Hiob, Jesaia, Spinoza, Augustinus, Kierkegaard), entscheidet man sich für den Aufenthalt des Gemüts, für die Kunst. Und wer könnte leugnen, daß die Juden, das merkwürdigste Volk der Geschichte, dieses Reservators bedürfen? Ein Volk, dem immerwährend neue Erlebnisse, Erkenntnisse, Schicksale zuströmen, wird gewiß in seinen Grundfesten erschüttert werden, wenn zwischen Erlebnis und Tat kein Ausgleich besteht. Ihn stellt der Künstler her. Denn er ist zeitlos. Er kann nur Schiffbruch leiden an seinem eigenen Ideal. Er ist ebenso ewig wie die Natur und ebenso fruchtbar. Darum stehe ich nicht an zu erklären, daß nicht der politische Tatenmensch, sondern vor allem der Künstler die Gesundung des jüdischen Lebens einzuleiten berufen ist. 

In Griechenland, diesem selbstsicheren Schollenvolk, blieb die Kulturtätigkeit des Künstlers unter der Schwelle des Gesamtbewußtseins. Die Russen erkannten ihre Dichter als die Boten der Wahrheit, als Propheten. Bei einem Volk hingegen, das nicht nur gefesselt, das auch krank ist, muß der Einfluß der schaffenden Persönlichkeiten ein ungleich intensiverer sein. Daß er es noch nicht ist, liegt vor allem darin, daß er dem natürlichen Leben der jüdischen Gemeinschaft fern steht. Er spricht noch eine andere Sprache als die Menge, sein geistiger Nährboden wird von unzuverläßlichen, fremden Quellen befruchtet, er hat andere Ziele und die Brücke ist noch nicht vorhanden. 

Allerdings muß ich gestehen, daß die jüdische Gesellschaft, diejenige, die nach außenhin das Judentum repräsentiert hat, dem Künstler bisher nicht günstig war. Der Drang nach Nüchternheit, der praktische Sinn für den Erwerb, der Hang zum Augenblick – dies alles ist für den Gesellschaftsjuden typisch und darum wird er jeden, der außerhalb der Grenzen seiner praktischen Vernunft steht, für töricht halten, für überflüssig, für einen Phantasten, wenn er Scheu hat – für einen Heiligen. Er schafft eine Rangordnung für den tätigen Bürger und für den ekstatischen Zweifler. Er überschätzt die Zeit und ihre Begriffe, er baut fürs Heut, kann nicht warten, er hat übertriebene Vorstellungen von dem, was zeitgemäß ist, er will sich in den augenblicklichen Erscheinungen erkennen und nennt sie „modern“. Da er mit seinen halben Gefühlen sich an nichts Ganzes anschließen kann, übertreibt er sich selbst, steigert sich ins Maßlose. Er ist: Anarchist, Aristokrat, Übermensch, Asket, Photograph, Theatergeher, Melancholiker, Schachspieler, Mystiker, Darwinist, Kritiker, Prophet, Aviatiker, Bolschewist, Automobilist. Er ist der typische Dilettant. 

Bei keinem Volke finden wir so viele und so vielerlei Dilettanten wie bei dem jüdischen. Es ist die Sehnsucht, den überschüssigen Drang irgendwie loszuwerden, sich durch Spiel zu betäuben, im Tändeln sich zu vergessen. Es gibt wenige Gruppen, in denen sich keine Talente finden, Begabungen jeder Gattung, aber schließlich nichts mehr als Schnörkeleien und immer wieder Entfernungen vom positiv geschauten Judentum, drapierte Gefühle, aus denen hie und da die Zipfel der Tradition hervorschauen. Dieses Sichwegwenden von seinem eigenen Ich ist psychologisch sehr leicht erklärlich und das romantische Grauen davor, in allen Dingen der Außenwelt immer nur sich selbst zu finden, gehört hieher. Der Jude, den man immer zu sich hinstößt, der das jüdische Element in allen Zügen seines Lebens, seines Heims, seiner Gesinnung, seines Kults wiederfindet, will sich nicht auch noch in der Kunst sehen. Er hat den Anschluß an die natürliche Tradition verloren und sucht den Weg zu Impulsen, zu Erlebnissen, zu Sensationen, die seiner Rasse fremd, um so verlockender erscheinen. Das Verlassen der eigenen Art springt oft auf den Künstler selbst über. Warum will er fremden Völkern Sklavendienst leisten als in seinem eigenen freier Fürst sein, ein Leid- und Schicksalsgenosse und ein Bildner der Sehnsucht? Ist es denn möglich, daß er sich der anderen Gemeinschaft voll und ganz zugehörig fühlt? Wäre dies nichts anderes als das Problem der Assimilation, dann müßten atavistische Triebe den Enkel an den Urahn mahnen. Aber hier liegt die große Tragik, die pathologische Krankheit von fast zwei Jahrtausenden des jüdischen Volkes. 

Dieser Geistes- und Willensdegeneration konnten sich bis nun nur einige Einzelne entziehen, Menschen mit klar ausgebildetem Bewußtsein, mit seltener Energie und einem zähen Hinstreben zu der Macht ihres eigenen Blutes. Es war ein Bereithalten der Kräfte in ihnen oder das Erwachen zu sich selbst, die Kristalisation schlummernder Elemente. Während die Sehnsucht der Vielen wie eine Fatamorgana durch ihr ganzes Leben zog, ungeformt und unformbar, stellten die Einzelnen ihre Sehnsucht in ihren Werken dar, sie ruhten aus, indem sie ihre Werke als Bruchstücke ihrer großen Konfession aus sich herausschleuderten. Das war ihre Aktion. Sie befreiten sich, sie wurden frei und nur der freie Jude kann ein freier Künstler sein. Die Freiheit ist das Klima des Geistesmenschen. Aber die Freiheit macht einsam und je weiter sich der Freiheitsmensch vom Golusmenschen entfernt, desto intensiver quillt sein Wille zur Tat auf. Als Herzl zur Tat schritt, ward er der einsamste Jude, einsamer vielleicht als der klagende Jesaias draußen vor den Toren Jerusalems. Gerade der einsame, in die Verbanntheit verschlagene Phantasiemensch kann den Zusammenhang mit dem vergangenen, gegenwärtigen und kommenden Volkstum finden, durch seine gestaltende Sehnsucht, die fernwirkende. Alles, was im Organismus des Volkes Verzweiflung und Zerissenheit ist, wird im Künstler zur Harmonie. Der Künstler nimmt unbewußt die Tragik seines Volkes auf sich und verlleibt sich sie ein. Dann aber lebt er die Tragik seines Volkes mit, er hat die Geschichte und das Blut aller Märtyrer in sich, die vor ihm gelitten haben. Und indem er die Mission, Jude zu sein, auf sich nimmt, erhöht er den Sinn seines Lebens, das Vergangene wird ihm gegenwärtig, er regiert das unterirdische Schicksal seines Volkes. Der Selbsterziehungsprozeß des Schaffenden, des Einzelnen, Einsamen also, bildet den fruchtbaren Boden für die geistige Entwicklung und darum muß man sich dazu bekennen, daß das Problem der jüdischen Kunst – hier Schaffungstrieb bedeutend im weitesten Sinne – zu einem der Grundprobleme des jüdischen Volkes wird. 

Damit wird die Bedeutung der jüdischen Kunst durchaus nicht überschätzt. Denn wir haben ja das Schauspiel erlebt, daß als Ausdruck des neuen Gefühlslebens gleichsam vulkanisch künstlerische Triebe hervorbrachen und vollwertig sich durchsetzten. Allerdings könnten in einer Epoche, in welcher bei Beurteilung von Kunstwerken immer noch eine besondere Bedeutung auf die Heimatkunst gelegt wird, die bildnerischen Schöpfungen jüdischen Geistes leicht verurteilt sein, eine unverständliche Rolle zu spielen. Der Maler palästinensischer Motive hat noch kein Anrecht, sich einen jüdischen Künstler zu nennen. Das rein Örtliche, Stoffliche also, gibt nicht den Ausschlag. Es muß etwas Geistiges hinzutreten. In der Literatur ist die Struktur der Rasse leichter zu erkennen, weil schon in der Sprache ihre Grundelemente verborgen liegen. Die bildende Kunst hingegen besitzt in der Formgestaltung, in Linie und Farbe, Ausdrucksmittel, welche als Gemeingut aller Kulturvölker das hinter der Form ruhende Wesen nicht leicht herauserkennen lassen. Wenn nun trotz dieser Schwierigkeiten Werke von Künstlern jüdischer Rasse als jüdisch empfunden werden können, so ist damit ein Beweis für den Einschlag jüdischer Psyche erbracht. 

Der Schritt vom Praktischen ins Ideale, von der Vernunftsklause in das Reich der Sinne ist das beredteste Zeugnis für ein Neues im Judentum. Es ist der Ausfluß eines starken Willens zur Freiheit, es ist das Kennzeichen einer seelischen Kraftprobe, es ist der Beweis der Stärke und Lebensenergie eines Volkes. Die jüdische Kunst ist aber auch das beste Mittel zur Bekämpfung des Dogmas, der Dogmen überhaupt, worunter kein Volk mehr litt als das jüdische. Das Dogma der Ethik war erstarrt, versteinert und bedurfte immer neuer Beweise seiner Existenzberechtigung. Es war ein Zeichen inneren Mangels, aber die jüdische Kunst sei ein Zeichen des Überflusses. Gerade zur Zeit des politischen Verfalles der Völker erreichte die Phantasie des Künstlergeistes die höchste Blüte und immer wenn etwas zu grunde geht, das nicht lebensfähig und lebenswert ist, tritt etwas Neues an Stelle des Morschen. Auch das jüdische Volk stand vor drei Jahrzehnten am Abgrund der Auflösung und der nationale Geist war es, der dem kranken Körper frisches Blut zuführte. 

Der arischen Kunst gab der Mythos neue Nahrung. Das Christentum schuf sich in den Apostellegenden eine neue Mythologie. Dem Judentum war die Mythologie fremd, weil es dort, wo es kulturbringend ins Leben trat, bereits Menschheitsgeschichte war. Das Judentum bedurfte auch nicht der Mythologie, es besaß Geistiges an Stelle des Figuralen. Im Augenblick aber, wo das Geistige in ein neues Stadium tritt, wo es in voller Bewußtheit einer Umwandlung sich unterzieht, bedarf es des Künstlergeistes zu seiner Fixierung. 

Das Judentum, dessen Ethik das Gehirn der Kulturvölker wie mit einem Blitzlicht erhellt hat, mag scheinbar alle seine Waffen aus der Hand gegeben haben und nun tritt es wieder in die Weltgeschichte ein, aber in einer anderen Form, als ein Beweis für die Unzerstörbarkeit von Rassen, die den Glauben an sich noch nicht verloren haben, als ein Beweis für die Unsterblichkeit einer höheren Glaubensmission. 

Neben einem zeitgemäßen politischen und sozialen Ideal besinnt es sich auf die Macht seines geistigen Kapitals. Es will sich konzentriert, geformt sehen und da seine Heroen noch nicht lebendig gemacht wurden, will es sich geistige, ästhetische Denkmäler setzen.  

Die jüdische Kunst als reinste Trägerin und Beherrscherin aller Kulturelemente wird ihm den Spiegel vorhalten, damit er erkenne, ob sein Blick sich verzerrt oder erhellt hat. Denn hier gilt es nicht bloß den Überschuß an Vitalität in einen Strom abzuleiten, sondern zugleich auch ein Neues, Weiteres zu schaffen, nicht bloß eine Ergänzung des Daseins, sondern die Verkörperung des Daseinsinhaltes. 

Aus dieser knappen Analyse möge ersehen werden, wie die Kräfte der Schaffenden nach einem Zentrum hinstreben, wie sie ihre Existenz als produktives Element in ewig sich erneuerndem Ringen bezeugen. Will die jüdische Kunst die Kontrolle haben über die Entwicklung, dann muß sie beides zugleich sein, Wirkkeit und Symbol. Und ihr höchstes Gesetz muß lauten: Du sollst dir ein Bild und ein Gleichnis machen. 

Es ist das wunderbare Wesen der jüdischen Natur, sich in den dunklen Mantel der eigenen Seele zu hüllen und sich durchleuchten zu lassen von den tiefen Schönheiten einer geträumten Welt. Der große einzige Weg des jüdischen Geistes ist die Sehnsucht, die niemals stille steht, weil sie sich niemals erfüllen kann. Zu immer neuen Sehnsüchten steigt er hinan. Und darin liegt auch der Sinn der gegenwärtigen Erneuerung. 

➥ Zur Biographie: Joseph Roth

In: Der neue Tag, 28.9. 1919, S. 6

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Fünf Jahre lang waren wir eingezwängt in verlogene Begriffe. Das Vaterland war Kerker, die Pflicht eine Handschelle und Kerkermeister war die Phrase. Das Schlüsselloch war verstopft mit einem Leitartikel. Durch das Gitter unserer Stacheldrähte blickend, sahen wir

wieder nur Kerker. Es war eine Welt aus Vaterländern. Man war Staatsbürger, eingerückt,  Held, Häftling. Das Vaterland führte jeden im Munde und der Magistrat in Evidenz. Möglichkeiten waren zwar vorhanden. Es konnte geschehen, daß ein Wunsch, ein Wille stärker ward als das System. Aber der Rapport war die Barriere, deren Überwindung erst Erfüllung verhieß. Die Freiheit war in Urlaube eingeteilt und auf Urlaubscheine in Rationen

erhältlich. Es gab keine persönliche Freiheit. Es gab nur Gebührenurlaube und solche aus

dringenden Familiengründen. Bis die Revo­lution kam und sozusagen die Kerker sprengte.

Dennoch wollten wir im Kerker bleiben. Es hätte ja sein können, daß die Grenzen der

neuentstandenen und der alten Staaten Eintrittspforten mit Willkommgrüßen für nachbarliche Gäste werden. Die Grenze hätte in der Hauptsache den Zweck haben können, überschritten zu werden. Jetzt hat sie den, eingehalten zu werden. Möglichkeiten sind ja vorhanden. Es kann geschehen, daß ein Wunsch, ein Wille stärker wird, als das System. Man

kann Grenzen unter Umständen auch überschreiten. Aber nicht grundsätzlich. Es sind keine

Grenzen mehr. Es sind— Rapporte…

Unsere Generation hat die Notwendigkeiten des MMilitarismus ins Zivile übersetzt. Der Tag dauert immer noch von der „Tagwach“ bis zur

„Retraite“. Außerhalb dieser Grenzen des Tages gelten nur Erlaubnisscheine. Stärker als

alles Eisen, das im Kriege verschossen wurde, erwies sich die Materie, die unser Zeitalter be

herrscht: das Papier. Die Legitimation mit Fingerabdruck, (Das Lichtbild ist nur aus Gründen der Tradition und Bequemlichkeit üblich.) Von der Galeere der großen Zeit sind wir glücklich an den Strand des Alltags gesetzt. Aber wir schleppen immer noch die Kugel am Bein mit:  den Paß.

Unter hundert Menschen sind kaum fünf, die nicht einen Paß in der Brusttasche führten. Ein Stück Vaterland. Die Behörde, eine In­stitution zur Verbreitung von Wirrnis und

Schikane, will wissen, wer ich bin. Ich sträube mich dagegen. Alles in mir, was wert ist, Ebenbild Gottes zu heißen, lehnt sich gegen die Zumutung auf: alle Zufälligkeiten meiner Vergangenheit in der Brusttasche führen zu müssen. Ich bin ich. Unabhängig von Vaterstadt, Zuständigkeitsort, Aufenthalt. Nicht, was mich von den anderen unterscheidet, darf ich mit mir führen, sondern, was mich ihnen gleich macht. Daß ich im Jahre soundso, in der Stadt soundso geboren bin, macht mich erst lebensfähig. Ich bin nichts anderes als Paßbesitzer, vom Paß besessener Staatsbürger.

Früher war ich wenigstens Held. Ich trug das Gewand des Häftlings, aber in der Überzeugung, daß es der Rock des Kaisers und ein Ehrenkleid sei. Dieses nun mußte ich ablegen. Geblieben aber ist mir die Nummer jener Zelle, die ich fünf Jahre bewohnte: der Paß. Er macht mich nicht zum Helden. Er berechtigt mich nicht zu hohen Ansprüchen. Er hat nichts mit meinem irregeführten Idealismus zu tun. Er verrät nicht einmal meine Heimat. Er konstatiert nur jene Sorte von Heimat, die durch Polizei, Bezirkshauptmannschaft, Magistrat reprasentiert wird und keine Heimat ist, sondern ein papierener, stempelbesäter Begriff: Staatsbürgerschaft.

Der Paß beweist nicht, daß ich – ich bin. Er beweist, daß ich irgend ein Ich bin. Daß ich

Staatsbürger bin. Mein Staat ersuchte durch eine Inschrift auf meinem Paß alle Behörden, mich ohne Schwierigkeiten passieren zu lassen. Das Gegenteil ist die Wirkung. Man müßte

glauben, eine Gesandtschaft, also eine Behörde, durfte mit einiger Aussicht auf Erfolg eine

Grenzkontrollstelle, also auch eine Behörde, um eine Gefälligkeit bitten. Die Grenzkontrolle tut das Verkehrte von dem, worum sie ersucht wird. Ich zweifle an der Ehrlichkeit meines Staates. Jene Bitte ist eine Tücke, eine Hinterlist, um mich hineinzulegen. Wie konnte ich nur annehmen, daß ein Staat, der mich drei Tage lang auf ein Visum warten läßt, es mit mir gut meint? Sie stecken zusammen, alle beide: der Staat und die Grenzkontrolle. Sie wollen mich vernichten. Der Paß ist ein Uriasbrief.

Ich sträube mich mit Recht gegen meine Vernichtung. Ich Iehne mich auf. Ich will mir

meine Vergangenheit nicht vidieren lassen. Meine Physiognomie gehört ganz mir. Gott hat

sie mir geschenkt. Wie kommt man dazu, das Ebenbild Gottes durch einen Kautschukstempel zu verunzieren? Ist das nicht Gotteslästerung?

Aber die Behörde behauptet, daß der Paß nur zu meinem Guten da sei. Ich könnte nämlich nicht Schriftsteller, sondern eine Art Verbrecher sein. Der Paß überzeugt die Behörde, daß ich nur Schriftsteller bin. Also prädestiniert zum Schikaniert-werden. Alle, die mit mir die gleichen Anlagen für die Passion haben, sind also mit Pässen ausstaffiert und sozusagen anständige Menschen. Warum werden sie, gerade sie, also immer des Gegenteils verdächtigt?

Weil die andern – auch Pässe haben. Und zwar noch mehr Pässe. Hochstapler haben

fünf Pässe. Schmuggler zehn, politische Abenteurer zwanzig. Aber diese Pässe sind nicht Beschwer. Sie bedeuten im Gegenteil volle persönliche Freiheit. Ein Häftling, der zwanzig

Zellen zugleich bewohnt, sitzt in keiner.

Nur wir, die Harmlosen, sind die Opfer des Systems. Wir hatten Stacheldrähte aus

Eisen, nun haben wir solche aus Papier. Jene konnte man zerstören, diese zerstören nur uns.

Sie find scheinbar schwach, harmlos; man kann ihnen nichts nachsagen, nichts anhaben. Aber sie sind tückische Verräter unserer Vergangenheit und verbittern uns unsere Gegenwart.

So konnte eine Revolution zwar staatliche Selbständigkeiten schaffen. Aber teuer erkaufen mit persönlichen Freiheiten. Sie konnte uns von der Galeere befreien. Aber die Kugel am Bein schleppen wir mit durch unsere Tage, die erfüllt sind von Sehnsucht nach Ferne und Wunderland. Die Kugel am Bein, den Paß.

➥ Zur Biographie: Roth Josef

In: Joseph Roth Werke, Bd. 3: Das journalistische Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 543–547.

 ➥ Zur Biographie: Roth Joseph

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Transkription

Auszüge aus:

Jedermann ohne Pass. Schlußwort zum „Segen des ewigen Juden“. (1934)

An die Redaktion der Wahrheit!

Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir Gelegenheit geben, den verschiedenen und erfreulich zahlreichen Erwiderungen, die mein Artikel Der Segen des ewigen Juden hervorgerufen hat, mit einem abschließenden Wort zu begegnen. […]

Fast alle, die mir widersprachen, nahmen den mit publizistischer Absicht pointierten Titel meines Artikels für den Sinn meiner Ausführungen. Fast alle, die mir widersprachen, sind Anhänger der zionistischen Idee und glaubten, in meinen Ausführungen mehr oder weniger eine Stellungnahme gegen diese Idee zu sehen. Schließlich glaubten fast alle, die mir widersprachen, ich bezöge das, was ich von den deutschen Juden im besonderen gesagt habe, auf die Juden, die innerhalb anderer Nationen leben.

Man gestatte mir, auf diesen letzten Punkt zuerst einzugehen: Die Juden des Deutschen Reiches sind mit den Juden anderer Länder nicht zu vergleichen, nicht nur deshalb, weil das Deutsche Reich von heute, also das sogenannte Dritte Reich, sich durch eine ganz besondere menschenfresserische Art von Antisemitismus von anderen Ländern unterscheidet: sondern auch dadurch, daß sich seit eh und je die Deutschen von den andern Völkern durch eine ganz besondere Art der Roheit, Gemeinheit, Geschmacklosigkeit, der Un-Christlichkeit, der Anti-Christlichkeit unterschieden haben. Das deutsche Volk unter preußisch-lutherischer Führung hat immer den latenten Wunsch bewiesen, außerhalb der europäischen Christenheit zu stehen oder gar gegen sie aufzutreten. Es ist nicht zu leugnen, daß die letzten Hexenverbrennungen in Deutschland stattgefunden haben, nirgends sonst. Das Ghetto der deutschen Juden hat der französische Kaiser Napoleon aufgehoben. Und es ist kein Zufall, daß der einzige historische Elephant im Porzellanladen, nämlich Martin Luther, ein Deutscher war. Sein Nachfolger, sozusagen ein – im Porzellanladen, ist Adolf Hitler. Nicht die Juden – wie das bekannte Witzwort sagte –, sondern die Deutschen sind „nicht zu dertaufen“. Man frage nicht, warum. Es scheint Gottes Geheimnis zu sein. (Es gibt deren viele.)

Die deutschen Juden bekamen ihre bürgerliche und menschliche Gleichberechtigung nicht von den Deutschen, sondern von den Franzosen. Trotzdem haben die Juden Deutschlands, in wahrhafter Selbstverleugnung, Deutschland gegen die christlich-europäische Welt immer und mit allen Mitteln verteidigt: mit dem Schwert, mit der Feder, mit dem Pinsel, ja sogar mit der Chemie. Juden waren in Deutschland Ingenieure, Flieger, Wissenschaftler, Dichter, Regisseure, Schauspieler, Verleger, Journalisten. Juden haben in Deutschland nichtjüdische Genies und Talente gefördert. Juden haben Wagner populär gemacht. Juden haben Goethe zum Genie der Nation ernannt. Juden haben die deutschen Romantiker dem übrigen Europa verständlich gemacht. Juden haben die deutsche Presse großgemacht, die deutsche Wissenschaft bereichert, das deutsche Theater begnadet, ja sogar das deutsche Offizierskorps, in dem sie immer Parias waren, mit kriegerischen Talenten beschenkt. Der preußische Heros Bismarck selbst hat gesagt, ein Deutscher sei nur brauchbar, wenn er von Juden abstamme. Seit 1872 waren die nichtjüdischen Deutschen in der Mehrzahl: Feldwebel, Reisende, Schollendichter, Dilettanten, Generäle, die Kriege verlieren, tüchtige Ingenieure – im letzten Fall. Es gibt kein Volk in der Welt, das den Juden so viel zu verdanken hätte, wie das deutsche. Und deshalb dieser Dank! Bei Gott! Die Juden sind töricht, wenn sie jetzt bescheiden nur als Opfer auftreten, nicht als Fordernde. Kein tschechischer, polnischer, russischer Jude darf sich mit einem deutschen vergleichen. Keine der europäischen Nationen hat so viel von den Juden erhalten; ja, erhalten! Seit sechzig Jahren vertraten die deutschen Juden den deutschen Namen in der Welt. Ja, diese Tatsache war so stark im Bewußtsein der deutschen Intellektualität heimisch, daß man in jedem nichtjüdischen Talent einen Juden zu wittern begann. Man witterte Juden in den Brüdern Mann, in Eckener, in dem Regisseur Piscator, in Goebbels sogar. Und mit Recht: denn die Juden waren fruchtbar, gescheit, tüchtig, die nichtjüdischen Deutschen konnten seit sechzig Jahren nichts anderes als exerzieren. Gewiß, es hat Ausnahmen gegeben. Nichts kennzeichnender, als daß man beinahe jeden bedeutenden arischen Künstler in Deutschland des Judentums verdächtigte. Denn es war in diesem Lande der chemischen Barbaren jeder auffällig, der sich im Reiche des Geistes auszeichnete. Also mußte er ein Jude sein.

Was ich über die deutschen Juden geschrieben hatte, bezieht sich keineswegs auf die Juden anderer Nationen. Die Deutschen sind ein ganz besonderer Fall. Die deutschen Juden leider ebenfalls.

Ich bin weit davon entfernt, ein Gegner der zionistischen Idee zu sein. Ich bezeichnete sie lediglich deshalb als eine tragische, weil ich unter dem Gedanken leide, daß ein Volk, aus dessen Schoß der Allerweltsgedankegeboren ist, nunmehr gezwungen wird, eine kümmerliche Nation mit Vaterland zu werden. Ich anerkenne diese Notwendigkeit. Aber ich bedauere sie. Ich bedauere sie genau so, wie ich die anderen Nationen, die anderen Vaterländer, die anderen Schollen bedauere. Ich wünsche überhaupt keine Vaterländer. Ich möchte auf dieser Erde nichts anderes sehen als ein einziges Vaterland, das Land Gottes, unser aller Vater, in dem jedermann ohne Paß, ohne Namen herumwandern oder bleiben kann, wie es ihm beliebt oder seiner Natur entspricht. Ist es nun schon traurig genug, daß andere Völker Vaterländer bilden – um wie viel trauriger ist es nun – so meinte ich –, daß auch noch das Volk Israel, aus dessen Schoß der Heiland kam, ein Vaterlandbilden muß! Gewiß bin ich einsichtig genug, um diese Notwendigkeit zu erkennen. Aber sie ist – so hoffe ich – eine zeitliche Notwendigkeit. Eine ewige ist sie nicht! Man möge also, um den zeitlichen Notwendigkeiten zu genügen, den Juden ein Vaterland geben, wie es die anderen haben. Aber: reicht es auch für alle Juden? Reicht dieses Vaterland nicht, nach optimistischen Berechnungen, für kaum drei Millionen Juden? Und es gibt nicht nur deren sechzehn in der Welt. Sondern: innerhalb dieser sechzehn Millionen streben zwei Drittel durchaus nicht zu einem palästinensischen Vaterland, sondern zu einer (restringierten) Assimilation an die Nationen, innerhalb deren sie leben! Ist unter diesen Umständen der Zionismus eine wirkliche Lösung der jüdischen Frage? Im besten Falle werden drei Millionen Juden in Palästina Vaterland, Obdach, Heimat finden. Aber die anderen? Es gibt sechzehn Millionen Juden!

Es gibt keine andere Möglichkeit als die, daß die Juden, die nicht in ihren Ländern aufgehen, und jene, die nicht nach Palästina gehen und die dennoch Juden bleiben, die Träger des Gedankens vom allgemeinen Vaterland werden. Unser Vaterland ist die ganze Erde. Jesus Christus, der Sohn Gottes und der Juden, hat es gesagt. Es wäre die vornehmste Aufgabe der Juden, es zu wi[e]derholen. Ich glaube nicht, daß Gott ein Volk 6000 Jahre leben läßt, damit es schließlich wieder eine Nation werde, die von einem ordentlichen Universitätsprofessor der Jurisprudenz Gesetze erhalte, nachdem es auf dem Sinai Gesetze erhalten hat. Die Geschichte der Juden ist so merkwürdig, daß selbst einem Menschen, der nicht wie ich gerne geneigt ist, an das Wunder zu glauben, die besondere Aufgabe dieses Volkes selbstverständlich sein müßte. Die Juden haben die Physiognomie dieser Welt gestaltet: Moses, die Propheten, Jesus. Ein Irrsinn, nicht zuzugeben, daß es ein sonderbares Volk ist, für das die gewöhnlichen Gesetze der anderen nicht gültig sein können.

➥ Zur Biographie: Joseph Roth

In: Berlin: Die Schmiede 1927 (Digitalisat Univ. Bibliothek Frankfurt – Senckenberg/compact memory) S. 85-87

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