Zur Biographie: Heinrich Heine

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Zur Biographie: Markus Herz

In: Der neue Teutsche Merkur (1798) 2. Bd., 8. St., 305-311.

 

Gumpricht, ein dürftiger Jude in einem kleinen Städtchen, suchte bei allen seinen Nachbaren, reichen und armen, einen Gevatter für seinen neugebornen Sohn, dessen Beschneidungstag sehr nahe war. Umsonst; niemand wollte sich, wegen des nach allgemeiner Sitte damit verbundenen Geschenkes, zu dieser gottgefälligen Handlung verstehen.

            Von Wehmuth gedrückt saß Gumpricht trostlos vor seiner Thüre, dem Unglücke nachdenkend, für seinen heute zu beschneidenden Sohn keinen Gevatter zu finden, und vollends keinen, der wohlthätig die Kosten seiner Mahlzeit und des Wochenbettes ertragen hälfe; als plötzlich ein abgerissener umherziehender Israelit von frommer und ehrbarer Miene vor ihm stand und nach der Ursache seines Kummers fragte.

            Gumpricht erzählte ihm mit Thränen seine Noth. Ach wie gern, sagte der Fremde, übernähme ich das heilige Geschäft! Aber leider bin ich arm, wie du siehst! Übertrage es mir, ich bitte dich! Ich helfe dir Gottes Segen erflehen.

            Und Gumpricht faßte Mut; der Beschneider wurde geholt, die Zeremonie vollbracht und das Mahl geendigt. Nun nahm der Gast seinen Wirth allein in das Zimmer. Weißt du auch wer der Gevatter deines Sohnes war? Fragte er ihn. Dieser zuckte erschrocken die Achsel; vor ihm stand der Todesengel; erblaßt zu seinen Füßen lag Gumpricht.

            Stehe auf! Rief der gute Engel (der nie aus Lust, immer auf Gottes Geheiß Leben verlischt); Stehe auf! Fürchte nichts Leides! Dich zu prüfen und dir beizustehen bin ich gekommen; dein Schicksal, das deine steinherzigen Brüder nicht erweicht, hat mich gerührt, mich den Tod! Und nun höre! Euer bares klingendes Unwesen steht unter der Gewalt keines Engels; aber zu einem Gewerbe will ich dich einweihen, das dir bald Reichthümer wie Sand am Meere bringen soll. Du sollst von nun an die Gabe besitzen, mich, sonst unsichtbaren, an jedem Krankenbette zu sehen. Siehst du mich zu dessen Kopfe, dann stirbt der Kranke; bin ich zu dessen Füßen, so genest er. Darnach richte dich! Findest du mich unten, so stelle dich ängstlich, zucke bedenklich die Achsel und weissage Gefahr; verordne aber was dir einfällt, der Kranke stirbt nicht. Erblickst du mich oben, so verkündige den gewissen Tod, wenn auch alle Ärzte Heilung versprechen. Nun wandele alle deine geringe Habe in glänzendes Gold um, eile nach F…, und bezahle dich zum Doktor.

Dies gefiel dem Gumpricht. Noch eins, großer Engel, ehe du gehest! Rief er seinem Wohltäter zu; versprich mir auch, damit ich nicht zum Lügner werde, seine Stelle am Bette nie zu verändern. Denn siehe, wenn du heute zu des Kranken Füßen stehest, ich Genesung verheiße, und morgen du zum Kopfe hinwanderst, wie werde ich da bestehen?

Einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig! erwiderte dieser nicht ganz willig; meinen Standort verlasse ich nie, das sei versichert! – Fort war er.

Nach drei Wochen (so lange dauerte die Reise) war Gumpricht ein Doktor, und nach sechsen der berühmteste Arzt in der ganzen Gegend. Ihm genasen alle Kranke; denn die, welche sterben mußten, überließ er zeitig unter mancherlen Vorwand anderen Ärzten. Daher strömte alles ihm zu; sein Haus ward belagert vom Gemeinsten bis zum Vornehmsten; alle erbaten sich ihr Leben von Gumpricht, und ihm war der Ehre und des Reichthumes kein Ende. Den echten Künstlern war er ein Ärger und unbegreiflich, dem Volke eine wohltätige Gottheit, und er, unkundig aller Wissenschaft, selbst des Schreibens und Lesens, entschuldigte seine großen Taten, auf die gewöhnliche Weise der Dummen, durch angebornes Genie und praktisches Auge, das ihm der Himmel plötzlich verliehen.

Einst ließ ein reicher Bischof ihn rufen, der ein vieles und viel gelebt, den Tod, weil sich in ihm nicht recht viel leben läßt, gar sehr verabscheute, und gleichwohl an einer Krankheit darnieder lag, deren Greuelnamen zu unsern Zeiten jedes beschöfliche Ohr zergällt und den ich aus Achtung für den sinnreichsten Taxenmeister nicht aussprechen mag; an einer Krankheit, der selbst sein englischer Leibarzt, den er erst vor kurzem nebst einem Packe Putzscheeren und einem Herschelschen Fernglase aus London sich kommen ließ, nicht beikommen konnte. Einen Beutel Gold brachte der Bote gleich mit, und noch zehn wurden Gumprichten versprochen, wenn er dem frommen Manne auf die Beine hälfe.

Aber mit Schrecken fand er beim Eintritt in das Zimmer seinen wohltätigen Engel zum Kopfe des Bettes. Von Ruhm- und Gewinnsucht gefoltert, überdachte er was zu tun sey? Nun erinnerte er sich des Versprechens seines Freundes, seinen Standort nicht zu verlassen; sogleich wurden zwey Heiducken gerufen, welche die Bettstelle herumdrehen mußten, und da stand nun der Engel zu den Füßen des Kranken. Fürchterlich drohend verschwand dieser seinem Gesicht; aber der Priester genas.

Nicht lange nachher überraschte Gumprichten der Engel des Todes in seiner grimmigsten Gestalt. Ha! Elendes Menschengezücht! Rief er ihm zu, undankbares Geschöpf! Hinab mir dir auf der Stelle! – Gnade, Herr Engel! Stammelte dieser zitternd am ganze Leibe. – Nichts von Gnade! Hinab mir dir! War die wütige Antwort des Göttlichen. – Nicht um mein Leben, das ich mit Recht verwirkt, versetzt der Feige, nicht um dieses, um meine Seligkeit bitte ich dich! – Deine Seligkeit? Fragt jener verwundert; was habe ich mit dieser zu schaffen? – Tödte mich nicht, antwortet der Bebende, bevor ich mein Sterbegebet verrichtet! Verdammt bin ich sonst, wie du wohl weißt! Ich bitte dich im Namen meines Sohnes! – Gut! Sagt der schonende Gottesbote, eile und bete! Ach gütiger Engel erwidert der Verschlagene! Dein Zorn ist gerecht, aber ich fürchte er ist zu jähe; du wirst ihn nicht so lange zähmen bis ich das Gebe vollendet, und komme ich nicht bis zum Amen, so bin ich verloren! Versprich, o versprich deine Rache bis zu diesem letzten Worte aufzubewahren! – Ich verspreche es, spricht der Beleidigte ungeduldig; denn einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig; nun eile! – Ha! Wohl mir! Jauchzt der Listige; wohl mir, ich bin deiner los! Verschwunden ist mir die Lust zum Beten; wandelt sie einst mich an, so finde dich zum Amen ein, aber ja nicht früher! Denn einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig! – Knirschend vor Zorn entfloh der Langmüthige.

Gumpricht glaubte sich nun der Sterblichkeit gesichert. Mit seiner Wunderkunst hatte es freilich ein Ende, denn sein Meister erschien ihm nicht mehr; aber er begab sich zur Ruhe, und seine gehäuften Reichtümer verbürgten ihm das genußvollste Leben.

Einst machte er eine Lustreise zum benachbarten Freund durch einen Wald; da vernahm er aus dem Dickicht her ein ängstliches Geschrey nach Hilfe, unterbrochen von röchelnden Tönen eines Sterbenden. Er eilt hin, und ach! Wen findet er da? Seinen alten Vater halb nackt im Blute schwimmend. Ha! Bist du es, Entarteter? Schluchzte der Greis; der Ruf deiner Habe drang zu mir in fernem Lande, und mich ließest du im Elend verderben! Da durchbettelte ich mich von Ort zu Ort zu dir her, um mit meinem Anblick dein Felsenherz vielleicht zu erweichen. Aber hier überfielen mich Räuber und durchstachen mir die Brust. Für diese Welt bedarf ich nun, Gottlob, deiner Hilfe nicht mehr, aber wohl für jene. Mein Gedächtniß ist geschwunden; eile und sage mir das Sterbegebet Wort zu Wort vor, damit ich ruhig in den Schooß Abrahams wandele. Aber eile! Meine Seele schwebt auf den Lippen.

Und Gumpricht, betäubt von dem Anblick und den gerechten Vorwürfen seines Vaters, befriedigt seinen Wunsch auf das pünktlichste.

Kaum war das letzte Amen über seine Lefzen, als das sterbende Fantom sich in den fürchterlichen Rächer umwandelte. Ha, Nichtswürdiger! Schrie er ihm zu, nun sollst du mir nicht entwischen! Wisse, einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig: Du hast das Sterbegebet bis auf das Amen vollendet; hin und modere!

*)Niemand wird in diesen Fragmenten den allgemein verehrten, schafsinnigen Verfasser der Versuche über den Geschmack und den Schwindel verkennen, der auch im Scherze unterrichtend ist. Ich ergreife diese Gelegenheit mit Vergnügen, ihm für die belehrende Unterhaltung zu danken, die mir seine geistreichen Gespräche und eine Vorlesung über die Lustarten in jenem fröhlichen Mittwochszirkel, dem die Leser auch diese fortzusetzenden Fragmente verdanken, so vorzüglich gewährten.

N.T.M. Aug.1798

 

Zur Biographie: Markus Herz

[o. O.] 1771.

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➥ Zur Biographie: Theodor Herzl

In: WMZ 23.10. 1919, S. 3-4

➥ Zur Biographie: Theodor Herzl

In: WMZ 26.10. 1919, S. 3-4.

Leipzig 1902.

➥ Zur Biographie: Theodor Herzl

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Zur Biographie: Leo Hirsch

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Aus: Der Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten e.V., 13. Jahrgang, Nr. 46, vom 30.11.1934

 

Das Posener Judentum ist von der jüdischen und nichtjüdischen Umwelt meist etwas stiefmütterlich behandelt worden. Für die westdeutschen Glaubensgenossen waren die Posener nur zu häufig eine Art Ostjuden, die man gering schätzte (was ein doppeltes Unrecht war), und für die übrigen deutschen Kreise waren sie ebenso selten gleichwertig. Dabei sind die Posener Juden Deutsche, das Land war ja fast anderthalb Jahrhunderte preußisch, und als es nach dem Kriegsende polnisch wurde, wanderten 90% der Posener Juden aus. Wohin? Nach Deutschland.

            Die Posener Juden waren nicht erst durch die Teilung Polens deutsch geworden. Sie waren im Mittelalter und später nach Großpolen eingewandert, nachdem sie jahrhundertelang in Deutschland ansässig gewesen und dann durch die Verfolgungen in und nach den Kreuzzügen vertrieben worden waren. Noch heute können viele Posener Juden die mittelalterliche Herkunft ihrer Vorfahren aus Franken und dem Rheinland beweisen. Aber schon der Posener Vulgärdialekt, eine Mischung von Jiddisch und Hochdeutsch, ist Beweis genug.

            Der Posener Jude ist ein Typ für sich. Da er eine lange Zeit hindurch der Vermittler zwischen Ost und West, zwischen dem polnisch-russischen und dem westeuropäischen Judentum war, ebensolange aber mindestens auch zwischen Slawentum und Germanentum nicht bloß wirtschaftlich Brücken zu bauen hatte und vor allem zwischen allen Bewegungen und Reibereien hüben und drüben den Prellbock zu spielen gezwungen war, hat er eine größere Vitalität als der mittel- und süddeutsche Jude entwickelt. Vom Leben in den kleinen Nestern und vom Verkehr mit den Bauern und Grundbesitzern hat er etwas Rustikales behalten, vom ewigen Auf der Hut sein seine Schmiegsamkeit, von seiner Beharrlichkeit seinen Stolz. Den Juden der Stadt Posen sagte man überdies gern besondere Schlagfertigkeit nach; die Beispiele ihrer scharfen Zungen sind noch heute amüsant.

            Ein paar Einzelheiten aus der Geschichte: Etwa um das Jahr 1000 kamen bereits deutschjüdische Kaufleute nach „Großpolen“. Im 12. Jahrhundert waren die Juden Inhaber der Münze und gründeten die erste Gemeinde in Zydowo. Im 15. Jahrhundert gibt es schon bekannte jüdische Gelehrte in Posen. Ein Posener Jude trifft auf seinen Reisen Vasco da Gama und reist mit ihm, begleitet dann Cabral bei der Entdeckung Brasiliens, informiert später Vaspucci und endet als „Cavaleiro“ König Emanuels. Schon vor dieser Zeit wird die Wohlhabenheit der Posener Juden gerühmt, ihre bürgerlichen Vorrechte, ihre besonderen religiösen Gebräuche, ihre eigenen Rechtssatzungen, ihr von eigenen Gesetzen geregeltes Handelsleben. Daß ihr Interesse für Astronomie und Mathematik nicht um der Wissenschaft willen, sondern zu Erhellung talmudischer, kalendarischer Schwierigkeit wach ist, darf man ebenso als ein Kennzeichnen ihrer wirklichkeitsnahen Lebensauffassung ansehen wie die Tatsache, daß in dem aus Posen stammenden Klage-, Buß- und Erbauungsliedern der Inhalt wichtiger als die Form ist. Kabbalisten, Frankisten, Sabbathianer und Chassidim fanden hier die wenigsten Anhänger. Aber auch Moses Mendelsohn fand zunächst hier heftigen Widerstand, und die Stadt Posen war zuerst eine Hochburg im Kampf gegen die Reform. Andererseits gab es in der Provinz Posen Jahrzehnte vor Herzl eine Art von Zionismus, der allerdings alles andere eher als politisch war. Rabbi Akiba Eger z.B. wünschte, dass man die Regierung zu Jerusalem bitte, den Juden dort das Opfern zu gestatten. Ein Kolonisationsverein wurde gegründet, Bücher herausgegeben, in Bethlehem eine Kolonie geschaffen.

1765 lebten in Großpolen etwa 60 000 Juden. Etwa vor hundert Jahren begann die große Abwanderung nach dem Westen, zeitweise nach Amerika. 1846 gab es 81 000, aber 1910 nur noch 26 500 Juden in der Provinz, heute nicht ein Zehntel davon. Der Aufschwung, den die Provinz unter preußischer Verwaltung besonders seit 1850 nahm, ist großenteils jüdischer Initiative zu danken. Flatau begründete den Hopfenbau in Neutomischel, Michael Levy das Salzbergwerk in Hohensalza, Julius Levy die Kalkwerke von Wapno, die Jaffés Sägemühlen, Milch die chemischen Werke, Kantorowicz, A.A. Auerbach die Zucker-Industrie.

In Posen gab es eine Reihe hervorragende Juden, aus der Stadt und dem Lande sind zahlreiche bedeutende Köpfe hervorgegangen. Der große Historiker des Judentums Heinrich Graetz, der Physiologe Hermann Munk, die Mathematiker Königsberger und Fuchs, der Nationalökonom Jastrow, der Philosoph Lazarus, die Mediziner Senator und Cohnheim, um nur einige zu nennen, dann Rudolf Mose, J. Kastan, Bernstein, Ludwig Kalisch, A. Berliner. Der hohe Rabbi Löw war lange in Posen tätig, und Rabbi Akiba Eger, die letzte Leuchte des Talmudismus, war vor 100 Jahren Oberrabbiner dort, und obwohl er in jüdischen Dingen keinen Kompromiss kannte, wurde er sehr von Männern wie Humboldt und Hardenberg geschätzt und vom König geehrt. Heute hat die ganze Provinz, die einst 130 blühende Gemeinden zählte, keinen Rabbiner mehr. Die wenigen, dezimierten Gemeinden müssen noch für die Friedhöfe der Nachbarstädte sorgen, wo es überhaupt keine Juden mehr gibt. In einem Ort wird die Synagoge als Kino benutzt, in anderen zum Felletrocknen. Um nur ein Beispiel zu nennen: in Ostrowo gab es 1917 etwa 450 Juden, 1927 noch zwei Familien. Die Auswanderer hatten nicht bleiben können, weil sie ja Deutsche waren und für Deutschland optierten. Sie gaben ihre Existenz auf und versuchten, im Vaterland von vorne anzufangen. Heute sind sie im Vaterland, um dessen Willen sie aus ihrer Heimat auswandern mußten, nachdem sie für Deutschland vier Jahre gekämpft hatten, „Nichtarier“. Das ist aber nur ein Kapitel aus der großen Tragödie des Posener Judentums.

 

Zur Biographie: Eugen Hoeflich

In: Esra. Monatsschrift des jüdischen Akademikers, 1. Jahrgang, Ausgabe 2, S. 41-47

[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2828642]

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In der berliner Zeitschrift „Die Arbeit“ wurde letzthin von Ludwig Strauß eine Diskussion über Bolschewismus und Judentum eingeleitet. Wenn wir nun auch als Zeitgenossen heute noch kaum den ruhigen Blick zu einem richtigen Urteil haben können, darf dennoch versucht werden, noch ein paar Worte – vielleicht von einem andern Standpunkte aus – darüber zu sprechen.

Bolschewismus: lassen wir für einen Augenblick die Erinnerung an alle tendenziösen Zeitungsmeldungen, an die Taten sadistischer Marodeure des sozialen Kampfes und fragen wir uns ruhig: was ist die Ursache des verhältnismäßig großen Anteiles von Juden an dieser neuen Form ökonomischen Kampfes? Sind es unedle Motive, Anlässe persönlicher Gewinnsucht, die sie in die ersten Reihen treiben?

Nein, trotz haßerfüllten Lügen: Nein. Dieser bolschewikische Jude will Europa nicht anzünden, um sich die Taschen zu füllen, ihn treibt die reinste Idee, die aber in ihrer Ausführung tragischer Irrtum ist, Folge einer durch den Krieg geborenen Massenpsychose, der die Psyche vieler Juden leichter zugänglich ist als die anderen Völker, die zweitausend Jahre Galuth nicht hinter sich haben.

Das Judentum kann – ich glaube Buber tat es – in zwei Gruppen geschieden werden: in die mit dem weiten Herzen: die idealistischen Träger der hinreissendsten Gefühle, und in die mit dem vertrockneten kleinen traurigen Golusherzen: die Krämernaturen, die Geldmenschen. Die Idealisten unter uns, Vollblutjuden durchaus, auch in ihren Irrtümern, spontan, urkräftig, unbedingt, aber auch konsequent und zähe im Verfolgen einmal gefaßter Ideen, selbst bis zur Unsinnigkeit, und stets ihrer Zeit um ein Stück voraus, von diesen Idealisten kamen Etwelche zum Bolschewismus, wie sie zur Sozialdemokratie kamen, wie sie stets zur Freiheitsbegeisterung für das Ideal irgend eines Volkes sich fanden. Immer in den ersten Reihen, glühend, fanatisch, ekstatisch. Hier in dieser Ekstase liegt das spezifisch Jüdische, Orientalische. Chassidim der Befreiung, ekstatische Fanatiker für die Menschheit, sprengen sie, die tausend Jahre bedrückt waren, endlich die Fessel und lodern auf in dem Brand, den sie kommen sahen, ehe er noch aufbrach. Darum ist dieser Jude, der idealistische Jude der Galuth Revolutionär, weil er aus dem Leiden seines eigenen Blutes ungeheures Mitgefühl hat zur unterdrückten Menschheit. Und weil der rein menschliche Wunsch, frei zu werden, endlich, allzuplötzlich nach tausendjähriger Gefangenschaft zur Erfüllung kommend, kein System für den Einzelnen vorbereitet hat, reißt er nieder, was ihn bis nun hielt, wirkt grenzenlos – bis miteinem dieser jüdische Mensch erkennt, daß alle äußerliche Freiheit, alle ökonomische Freiheit lange noch nicht Freiheit ist. Nun erst erkennt er sich, besinnt sich und zieht sich zurück: will wieder zu der Innerlichkeit kommen, die er von sich warf, als die Fahnen Sturm riefen in den Gassen der unterdrückten Menschheit. Nun erkennt er, daß sein Kampf gegen das Böse nutzlos war, da dieser europäischen Menschheit nicht die Bereitschaf zum Bösen schwinden kann – eben weil sie nicht innerlich ist. Die aber, deren Erkennen im Taumel der neuen Gefühle nicht zur Klarheit wird, werden weiterkämpfen, bis sie die Realisation ihrer Ideen erfühlen. In dem Augenblicke aber, da ihre Idee konkrete Formen anzunehmen beginnt, werden sie sie verlassen, denn die Kleinzügigkeit der Ausführung ist nicht ihre Sache. Groß und ihnen eigen ist nur der Weg, aus dem die Ströme stürzen, welche die Angelpunkte der Menschheit umbranden und immer neue Ideen gebären, und daraus entwindet sich die große Tragik des Juden mit dem weiten Herzen, daß er seiner Zeit immer um ein Stück voraus ist, um jenes Stück, das ihn, wenn er Glück hat zum Märtyrer, wenn er Unglück hat, aber zum Narren macht, oder aber zum Unentwegten, über den die Geschichte lächelt. […]

Wie immer aber die Juden beschaffen sind, die dem Bolschewismus anhangen, ihre jüdische Abstammung ist nicht die direkte Ursache dieser ihrer politisch-sozialen Tätigkeit. Die direkte Ursache vielmehr ist jene europäische Masse, deren Bestialität gegen Schwache und Geschwächte stets Äusserung ihrer Existenz war, der Judentum gleich war, mit etwas, das unterdrückt werden muß. Nichts aber ist ewig zu unterdrücken, ohne daß es mit Gegendruck antworten würde. Wenn nun aber jene Juden, die ihr Volkstum verloren, in bolschewistischen Formen reagierten, kann der Bolschewismus natürlich nicht als eine jüdische Angelegenheit bezeichnet werden, denn die gesunden Elemente des jüdischen Volkes reagierten in eine andere Richtung, in die des Zionismus, der in seinen Anfängen nichts anderes ist, als der elementare Freiheitsschrei der Unterdrückten, (und nur reiner Gedanke bleiben kann, solange er Schrei bleibt) die dem Geknechteten immanente Tendenz zur Revolutionierung seiner ihm gleichen Umgebung. Beide sind revolutionär, der gesunde und der kranke Jude; der Eine aber bleib revolutionierend beim Volk, um es und die Menschheit zu erlösen, der Andere verließ das Volk, weil er in dem tragischen Irrtum befangen war, daß Volk ein überholter Begriff sei und die Menschheit aus einer mehrweniger homogenen Masse bestehe, die man durch Anwendung gewisser Theorien innerlich und äußerlich zu einem Block zusammenschmelzen könne.

In dieser falschen Ansicht scheint mir auch die schließliche Lebensunfähigkeit des Bolschewismus begründet zu sein, jenes von Bucharin festgelegten Programmes, das Individualität im Einzelnen wie in den Völkern nur als etwas zu Überwindendes kennt. Hier liegt der Irrtum des phantasiearmen Theoretikers, der am Schreibtisch die Menschheit ummodelnd, plötzlich faktische Macht in die Hände bekommt und nun seine Theorie in Tat umzusetzen versucht. Fleischgewordene Rechenmaschine, die den Eintritt des glücklichen Zeitalters genau errechnet hat, hat ein System aufgebaut, das zwar folgerichtig entwickelt, aber an das der menschlichen Phantasie sich entringende Bedürfnis nach steter, auch äußerer Veränderung und an den unbrechbaren Willen des Individuums zur Individualität vergißt. Der Jude aber ist letzten Endes Romantiker und Individualist, mehr als ein Anderer. Ihn wird der Bolschewismus schließlich abstoßen; […] Er wird voraussehen, daß der Geist auch des bolschewistischen Europas schließlich verflachen wird, wenn die Jugendlichkeit der Idee in den Alltag der Organisation hineingeglitten ist (wie es mit dem Geiste aller europäischen Bewegungen geschah, denn sie alle waren irgendwie ökonomisch gerichtet) er wird erkennen, daß neue Klassen aus der Tiefe heraufwachsen werden, die die ökonomische Diktatur in gleichem Maße handhaben werden, wie die früheren Herrenklassen, daß eine europäische Revolution stets in ihren Folgen nur eine Eintagsrevolution ist, selbst wenn ein monatelanges Blutband ihren Weg bezeichnet, daß sie ausschließlich Magenfrage ist, wohl eine Station in der Tragödie der europäischen Menschheit, dennoch aber nur blutige Groteske einer wirklichen Revolution, denn ihr Urgrund ist nicht Revolutionierung der Herzen, sondern Revolte der Magennerven, und ihr Ziel nicht die Menschheit, sondern die Bequemlichkeit. […]

Ich glaube anders: vom Bolschewismus trennt uns ebensoviel wie von jenem Judentum, das sich europäisch fühlt und europäische Maße sich zu eigen machte. Der Jude, der die Diskrepanz zwischen Bolschewismus und Judentum erkennt, wird auch den Zwiespalt zwischen Judentum und Kapitalismus, Europäismus, Merkantilismus erkennen und wird die reinsten Formen des Lebens auf der Bahn des Volkes suchen.

Er wird entweder als Mystiker sich den göttlichen Kern zusprechen und die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott, um so die Menschheit zu erlösen. Er wird Religion und Dogma übersteigend, in die klarsten Höhen der Religiosität gelangen und so wirken auf die fernste endliche Zukunft seines um die Zukunft der Menschheit besorgten Volkes. Oder aber er wird Formen für diese Tage suchen, die den Möglichkeiten des Judentums, völkerverbindend sein zu können, freie Bahn schaffen und er wird in der gegebenen Realität verbleibend, zu retten suchen, was an der Menschlichkeit in dieser Menschheit für diese Tage noch zu retten ist.

Man müßte hier über die ungeheuer fruchtbaren ethischen Werte des Judentums sprechen, wollte man die Bahn wieder aufzeigen, in der die Notwendigkeit liegt, sich zu bewegen. Es ist sicher, daß am Ende dieser Bahn jener Sozialismus steht, der den Klassenbegriff nicht kennt, zu dem nicht leibliche Not ausschließlich führt, sondern der Wille zur sozialistischen Gesinnung der Menschheit, die aus sozialistisch gesinnten Völkern besteht. Auf dieser Bahn aber liegt kein Bolschewismus, keine Sozialdemokratie, keine ökonomische oder politische Partei und keine Gewalt, denn diese Bahn mündet in Asien, in jenem Asien, das Religionen stiftet und Gemeinschaften, wo Europa höchstens Staaten bauen kann und Klassenzwänge, in jenem Asien, das sozialistisch ist vom Anfang seiner Idee bis zu ihrer Diktatur der Liebe über die Menschheit. Judentum und Bolschewismus haben nichts gemein. Wenn beider Ziel auch das höchste der Menschheit ist, können sie nicht zueinander kommen, denn der Absolutheit des Einen entspricht nur Zweckmäßigkeit, Bedingtheit des Andern, der Sehnsucht nach der wirklichen Menschheit nur der Wunsch die Produktion auf das Höchste zu steigern und die Konsumtion so angenehm als möglich zu machen. […]

Diese Frage wird einmal aufgeworfen werden, die Frage nach der reinsten Form des Nebeneinanderlebens, nach der an-archischen Form. Sie wird beantwortet werden, wenn entweder Europa vollends zertrümmert sein wird, oder aber, wenn es sozialistisch, also menschlich denken, fühlen und handeln wird, wenn Kapitalismus, Bolschewismus und alle andern Ismen verschwunden sein werden.

Hier die Ersten zu sein, sind die ungeheuren Möglichkeiten unserer palästinensischen Zukunft um die Zukunft der Menschheit.

➥ Zur Biographie: Höflich, Eugen

In: WMZ 12.10. 1919, S. 2-3

➥ Zur Biographie: Hoeflich Eugen

In: Der Friede, Nr. 33, 1. Jahrgang, Wien, 6. September 1918, S. 156–157.

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DEN Zionismus, das heißt: jene Bestrebung eines Teiles des Judentums, die auf Palästina gerichtet ist, als rein politische, ausschließlich territoriale zu betrachten, ist ein grundlegender Fehler, dessen Ursachen aber bei den Zionisten zu suchen sind, denn beinahe jedesmal, wenn Vertreter des Zionismus es versuchten, der breiten Öffentlichkeit ihre Ziele und ihre Hoffnungen darzulegen, sprachen sie von dem materiellen Programm, von der rechtlich gesicherten Heimstätte, allzu selten aber ließen sie es sich angelegen sein, von den geistigen Grundlagen und Zielen dieser elementaren Bewegung zu sprechen. So entstand in den Fernestehenden das verzerrte Bild einer rein ökonomischen zionistischen Bewegung.

Wenn auch Herzl, der die dem jüdischen Gefühle und der jüdischen Not entbundenen Gedanken formulierte, seine Ziele in einer „rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ präzisierte, so ist diese uralte Bewegung doch nicht in die Reihe europäischer politischer Bestrebungen zu setzen, denn ihren endlichen Zielen entspricht ein unendliches, das ein allmenschliches ist, ein übernationales und überökonomisches.

Es ist hier nicht meine Sache, von der geistigen, rein kulturellen Arbeit zu sprechen, die auf ein jüdisches Palästina gerichtet ist; es genüge die Feststellung, daß sie ist und daß sie die besten Köpfe des Judentums beschäftigt. Ich halte es aber für meine Pflicht, von der neuesten, absoluten Richtung des neujüdischen Gedankens zu sprechen, die dieser Krieg gebar, besser: gebären mußte.

Der Gedankengang dieser heute von einigen wenigen Menschen getragenen Idee ist ein einfacher: Die Wiedervermählung des jüdischen Menschen mit dem verheißenen jüdischen Boden ist selbstverständliche Forderung, die Wiedererweckung der hebräischen Sprache (die heute bereits Umgangs- und Unterrichtssprache ist) und die Konzentrierung aller jüdischen Potenzen auf Palästina sind Gemeinsamkeiten aller zionistischen Richtungen. Nun aber teilen sich die Anschauungen von der Wichtigkeit der nächsten Ziele. Während der offizielle Zionismus, fasziniert von dem Bilde, das Herzl entworfen hat, sich hauptsächlich die ökonomische Frage zu eigen machte, während eine Fraktion (wenn man hier von Fraktionen sprechen kann) einen jüdischen Sozialismus konstruierte, der den Klassenkampf nach Palästina tragen will, ohne zu bedenken, daß ihr Programm eine Contradictio in adjecto beinhaltet, daß Judentum auf Unbedingtheit basiert, wogegen Sozialismus durch die gegebenen europäischen Wirtschaftsmißverhältnisse bedingt ist; während andere Richtungen, den festen Boden verlierend, sich wieder in rein geistige Spekulationen einließen: versucht dieser „neueste“ Zionismus das Judentum dort zu erfassen, wo es reines, unverfälschtes Judentum ist, Teil des Geistes der Unbedingtheit, der Konsequenz im Guten wie im sogenannten Schlechten, Teil des großen Geistes Asiens. Er sagt sich, daß das nur körperliche Verlassen Europas nicht Erfüllung sein kann, wenn der Geist in Europa bleibt; es muß der Geist mit dem Körper gehen, um sich dort wieder einzufügen, wo er entsprungen ist. Die Neuartigkeit der so selbstverständlichen Forderung und ihre Konsequenzen erschütterten die in europäischer Ideologie und Gewohnheit Befangenen derart, daß sie sie von vornherein ablehnten, wie sie alles ablehnen, was der Trägheit des Herzens nicht entspricht.

Die Vertreter der neuen Idee sagen sich: Die Errichtung einer Gemeinschaft, deren Leben schier zweitausend Jahre unterbrochen war, ist etwas in der Geschichte so Unerhörtes, daß schon der Wille zur Tat größte menschliche Ehrfurcht herausfordert. In Ehrfurcht beugen aber wollen wir uns nur vor Absolutem, vor dem, das unbedingt ist, keinem Kompromisse sich entwand. Wollte man aber eine neue Gemeinschaft gründen mit Elementen, die die Gewohnheit ohne Überlegung widerstandslos in die neue Heimat nimmt, so wäre dies Kompromiß unwürdig des Geistes, der diese Gemeinschaft erbaut, und Quelle aller Qualen, die man zurücklassen will. Da müssen also alle europäischen Einflüsse, Merkantilismus, Imperialismus, Kapitalismus (als Imperalismus des Geldes), abgelehnt werden, das Individuum darf nicht Kalkulationsobjekt einer mehrwertheckenden Weltanschauung sein und die Kultur dieser Gemeinschaft muß wieder eine ihr eigentümliche werden, die die ihr wesensfremden Elemente abstößt, überwindet. Hier, in diesem Begriffe „Überwinden“ liegt der Kernpunkt der Bewegung. Sie will das Europa, das seinem Zenith wohl nicht weit mehr entfernt ist, nicht bekämpfen, sie will es in sich überwinden, in richtiger Voraussicht, daß der Panasiatismus von morgen, der dem technowahnsinnigen europäischen Jahrhundert eine Ewigkeit des Geistes entgegensetzen wird, vom Judentum das Erkennen seines Asiatismus fordert, und in dieser Voraussicht wird die neue Gemeinschaft Asien werden müssen in Asien, nicht Handelsvertreter Europas, Kolonialagent seiner eigenen Not.

Die große Not des Judentums aber bliebe ungebrochen, wenn die neue Gemeinschaft zwar jüdisch, europäischen Einflüssen aber offen, den ganzen Komplex unmenschlicher europäischer Angelegenheiten unter jüdischem Namen sich zum Prinzip machen würde. Nicht allein die körperliche Not bliebe erhalten, die ungleich drückendere, die Not des Geistes, die Abhängigkeit vom Fremden, die erzwungene Unkonsequenz, die Brutalisierung des eingebornen Geistes bliebe aufrecht, nur um dem Phantom nachzuleben, das europäische Entwicklung in Europa und für Europa (was identisch ist auch mit Amerika) in die Welt stellte.

Es wäre dieser Drang zur Rückkehr nach Asien, Asien in der wunderbarsten Bedeutung des Wortes, die von den Propheten kommt, von Jehoschuah, von Lao-tse, Buddha und den anderen, es wäre diese Forderung leicht einleuchtend – wenn eben nicht die in Europa lebenden Juden schon zu viel Europa in sich hätten, um es ohne Furcht um ihre Bequemlichkeit wieder auszuspeien. Es müßte aber auch der Arier dieser Bewegung sympathisch gegenüberstehen, der sich sagt, daß nur aus einem vollkommenen Neuaufbau einer Gemeinschaft, die auf dem edelsten, ursprünglichsten Geiste ruht, die Regeneration der ganzen menschlichen Gesellschaft erblühen kann; auch er müßte ihr sympathisch gegenüberstehen, sonderlich da er doch augenblicklich das Tao-te-king liest und die Bibel und die anderen asiatischen Geistesprodukte, die gerade Mode sind; er tut es aber nicht, da er nicht aus Antisemitismus – sondern aus Mißtrauen oder aus Gewohnheit einen Geist für den jüdischen hält, der aber nichts anderes ist als europäischer Kommerzgeist in jüdischer Konzentration. Und schließlich: wie sollte auch der fernstehende Arier diese Bewegung nach Asien nicht ablehnen, wenn selbst Juden von weltferner Europamüdigkeit sprechen, von literarischer Sekte oder von Dichterhainen, die für Palästina propagiert würden.

Berthold Viertel sprach letzthin in einem kleinen Aufsatze über meine Arbeit von einem „Bekenntnis gegen die grauenhafte Problematik Europas“. Ja, das ist es, was uns eint, wenn wir, die wir wohl in Europa geboren, dennoch aber Kinder orientalischen Geistes, bebend und ohnmächtig aus dem Wahnwitz dieser europäischen Zeit unser Bekenntnis zu Asien zum Himmel stammeln. Es eint uns die Erkenntnis, daß diese Zeit nicht Teil unseres Geistes ist und daß wir Verrat üben würden an unserer Sendung, wollten wir uns jetzt nicht entscheiden: zum Osten, woher uns stets das Licht kam, oder zum Westen, wo man Geschäfte macht mit Blut, Geld und Seele.

Der Krieg mußte diesen Gedanken innerhalb der auf Zion gerichteten neujüdischen Bewegung gebären, und wenn ihn auch einzelne, wie Benjamin Disraeli, schon früher vielleicht erfühlt hatten, konnte er erst jetzt in die Welt treten, fordernd und Gehör heischend, denn erst diese Zeit, die uns heute umstellt, konnte trotz ihrer Sinnlosigkeit den furchtbaren Zusammenstoß orientalischen und okzidentalen Geistes fruchtbar machen.

Die Mission des Judentums ist eine menschliche; sie wird die erste Stufe ihrer Erfüllung erreicht haben, wenn sie den Merkantilismus überwunden haben wird. Daß sie auf dem Wege ist, wollte ich zur Information der Verzweifelnden sagen, um ihnen Perspektiven zu öffnen, die ihnen vielleicht fremd waren.

Zur Biographie: Eugen Hoeflich

Aus: Wiener Morgenzeitung, Nr. 472, 2. Jahrgang 

Wien, Sonntag, den 16. Mai 1920, S. 3–4. 

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Der Paul Cassirer-Verlag veranstaltet eine Neuausgabe ihrer Bücher. Die erste Hälfte liegt bereits vor.1 Versehen mit den bizarren Zeichnungen der Autorin, mit den beim ersten Ansehen kindlichen, nervösen, ist es ein dankenswertes Unternehmen, die in verschiedenen Verlagen verstreuten Schriften zu sammeln. Die lyrischen Gedichte fehlen einstweilen. Und auf die kommt es ja an, wenn man von der Else Lasker-Schüler spricht. (Man muß sich die Lektüre ihrer Bücher einteilen. Allenfalls darf man sie nicht schnell hintereinander lesen, wie man von den Gedichten höchstens zwei, drei an einem Tage lesen darf.) 

Es ist wohl ein tragisches Schicksal, das der jüdischen Künstler, die in nichtjüdischer Umgebung und in nichtjüdischen Sprachen schaffen, tragisch das Geschick der Künstler, in denen die Kontinuität der seelischen Entwicklung abgerissen ist, die nicht mehr aus dem Wissen, nicht aus den Gefühlselementen schaffen, die ihren Vorfahren gemein waren. In manchen aber wird ein Instinkt des Blutes stark, der sie trotz abgerissener völkischer Entwicklung, trotz ihrer äußerlichen, durch das Milieu bedingten Entfremdung vom Volke, zu jüdischen Künstlern macht. Dem Europäer ein seltener, flimmernder, exotischer Vogel, dem im Judentum aufgezogenen Juden aber etwas Fremdes, Unverständliches, wird er weder hier noch dort heimatberichtigt aufgenommen – und dennoch blickt „sein verwandertes Gesicht“ nach dem Osten. Else Lasker-Schüler, eine Zeile nur aus ihren Büchern ist jüdischer als das ganze Werk aller, die von Parteien zu jüdischen Dichtern ernannt werden. Sie ist Jüdin und Dichterin. 

Sie ist Jüdin, orientalischer Mensch. Stets bereit, sich hinzugeben dem Gefühl des Augenblicks, stets innerlich, voll feierlicher Demut, beschaulich, gar nicht betriebsam. Dem farbenfrohen Schmetterling eines Augenblicks nachjagen ist weit wichtiger, als Brot suchen für den nächsten Tag. (Und so ist das Leben dieser Frau, über das so viel Dummes gesprochen wird, zu verstehen – unverständlich dem Pfahlbürger dieser und jener Konfession – aber gar nahe denen, die aus der Grauheit eines fremden, erzwungenen Lebens nach den phantastisch schönen Sternen der Wüstenhimmel in ganz großer Sehnsucht greifen wollen. Sie ist orientalisch, uneuropäisch. Sie ist – mit europäischen Maßen gemessen – unerhört naiv, infantil, das heißt: fern aller geheuchelten Objektivität, gibt sie sich schrankenlos dem hin, das ihr schön scheint und gut, und versteht die Dinge nicht auf ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen. Wie in Europa eben nur Kinder sind. Aus dieser Haltung sind die sprunghaften Gedankenassoziationen zu erklären. Orientalischer Geist unter Einfluß wesensfremden Klimas, leise Auswirkungen einer Ahnenkette, die anders lebte, als sie hätte leben sollen, ein Stück heißerer Erotik als in den Menschen dieses Klimas, weiter nichts. Irgendein Psychoanalytiker wird die Sache zwar nicht so unkompliziert laufen lassen und irgendein literarhistorischer Wegelagerer wird den Fall schon durcheinanderanalysieren, ich aber bleibe dabei: Diese Psyche darf nicht mit europäischen Maßen gemessen werden.) 

Ihre Bücher sind in der Ichform geschrieben. Ob sie aber nun der Prinz von Theben ist oder Tino von Bagdad, ist sie stets die verwanderte Prinzessin aus Jehuda, hier genannt Else Lasker-Schüler. Oft unartig – nach landläufigen Begriffen – kapriziös auch mitunter, immer aber von orientalischen Bewegungen geleitet. Fremd stets im fremden Europa, selbst wenn sie ein Peter Hille-Buch im mittelalterlich-deutschen Legendenstil schreibt. Stets ist ihr der Orient mehr als Geographie, ein Stück ihres Lebens, ihr ganzes Leben eigentlich, denn ihr träumendes Leben ist ja ihr eigentliches. Schrankenloser, buntblütiger Traum, die einzige Möglichkeit, in die vergangenen Geschlechter wieder einzugehen, die notwendige Kontinuität wiederherzustellen mit den Geschlechtern, von denen abzustammen ihr ungeheurer Stolz ist. 

Sie lebt in der Bibel. Ihre Gebärde ist biblisch (mitunter vielleicht willkürlich verstärkt oder gar Pose), manchmal nur Form, meist aber Inhalt. Zeit und Raum rinnen ihr ineinander. Menschen des Abendlandes, lieb ihr im Andenken, werden kühn in die morgenländische Handlung versetzt, ehrwürdiges Altertum wird in diese Tage heraufgeschoben, ein moderner Berliner Dichter wird Held eines Kampfes um Theben, das gleich neben Persien liegt (der Orient ist ihr keine Geographie, sondern ein lebenerfüllendes Gefühl) und der junge Herzog Albert von Leipzig eilt im Flugzeug in die Stadt der wilden Juden. (Eine höchst subjektive Legendenbildung, unbewußt aus dem orientalischen Drang zur Phantastik, drängt Zeit und Raum zusammen.) Alles wird Symbol: Personen, Gestalten, Geräusche, Berg, Wind und Baum. Das große, ungelöste Gefühl, das nur in einem riesigen, unartikulierten Schrei seine Lösung finden könnte, wird, der Not des Wortes gehorchend, in Symbole gepreßt. 

Die Sprache ist ihr feierlich-frohes, unerhört bildhaftes (eben orientalisches) Darstellungsmittel. So muß es zum Kampf mit der Unzulänglichkeit der Sprache kommen. Aus dem Klang eines Gefühls ein Wort bilden ist nicht leicht. Neue, mitunter bizarre Wortbildungen müssen entstehen und der Stil muß die Fessel der Grammatik abwerfen. Das Wort wird in seiner tiefsten Bedeutung ausgeschöpft. Ihr Stil ist manchmal ein Aufjauchzen, ein tiefer, in Worte nicht übersetzbarer Schrei – schaudernd wendet sich der Literaturprofessor ab, denn er findet das Wort in keinem Verzeichnis und das Satzgefüge spottet seiner Grammatik. Die Bücher Else Lasker-Schülers darf nur der lesen, der bereit ist, zu Gefühlen und zu inneren Erlebnissen sich führen zu lassen. Dem, der am Worte haften bleibt, kann sie nichts geben. 

Eine wunderbar kindliche Sorglosigkeit strömt aus einem ganz lichten, aus einem reinen, religiösen Gefühl, wie aus einem ruhigen, frommen Sonnentag. Wenn ich die Lasker-Schüler lese, sonderlich bei manchen leise wehmütigen Stellen aus den Gedichten, muß ich an Zarathustra denken. Das wilde Judenbuch aber, „Der Malik“, persönliche Angelegenheit zu wichtigem Ereignis versponnen, hat oft unglaubliche Kraft in sich. Die „Essays“ sind persönliche Randbemerkungen zu Künstlern dieser Tage, so persönliche, daß sie menschlich werden. „Tino von Bagdad“ ist ein einziges großes Gedicht, das eine jüdische Frau in dunkelblauem, langwallendem Kleide in einem sonnedurchleuchteten feierlichen Saale vortragen sollte. 

Else Lasker-Schüler ist die letzte Romantikerin dieser Tage oder die erste einer neuen, wieder nach phantastischer, romantischer, gar nicht betriebsamer Zeit sich sehnenden Menschheit. Sie ist eine wertvolle jüdische Dichterin, zu sensitiv und persönlich aber, um je als Parteidichterin proklamiert zu werden, und darum wird sie keine echten Epigonen haben in einer Zeit, die für den Erfolg dichtet. 

Man müßte vieles von ihr ins Hebräische übersetzen. Dazu müßte aber erst ein kongenialer Nachdichter gefunden werden. 

 

Zur Biographie: Eugen Hoeflich

Aus: Juedische Rundschau, Nr. 85, 30. Jahrgang. Berlin, den 30. Oktober 1925, S. 716.

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Von unserem Wiener Korrespondenten (= Eugen Hoeflich)

         Ein junger Mensch hat einen Schriftsteller niedergeschossen und wird freigesprochen. Der Schriftsteller war der Rasse nach Jude, der Mörder gehörte einer national-sozialistischen Organisation (bis kurz vor dem Attentat, versteht sich) als Mitglied an. Diese Fakten sind festzuhalten. Man könnte aus ihnen eine Reihe mehr oder minder treffender Schlüsse auf den Machiavellismus in der Politik, auf die Rechtspflege und auf den Wert oder Unwert des Menschenlebens, wie auf die politischen Verhältnisse Oesterreichs im allgemeinen ziehen. Derlei Schlüsse aber wurden bereits zum Ueberdruß gezogen, nicht nur aus diesem, sondern auch aus allen vorhergehenden, ähnlichen Anlässen, ohne daß sich mehr als das von vornherein feststehende Resultat ergab: wir leben in einer Zeit der Gewalt, wer den Revolver zuerst in der Hand und die Macht der Uebermacht hinter sich hat, ist der Sieger, sowohl vor dem Gewissen dieser Welt, als auch in der Welt der realen, von Gewissen unbeschwerten Tatsachen, die von den Wünschen eines national höchst egozentrischen Wirtschaftslebens bestimmt, von ihm  nicht abzugrenzen sind, weil sie seine Voraussetzungen bilden. Die Kugel, die den Schriftsteller Bettauer traf, die ihn tötete, war also nicht die Kugel eines Desperados politischer Sorte, nicht die eines Menschen, der nichts zu verlieren hat, sondern im Gegenteil, der zur Tat gewordene Ausdruck eines Lebenswillens, der ekstatisch unter den höchsten Sternen seines nationalen Himmels sich bejahen will. Wie anders konnte dieser Rothstock, dieser Ausbund nationalen Lebenswillens, wie er und seine Zeit ihn versteht, dem nationalen Geiste in seiner Brust, den stündlich neue Beispiele und des Oesterreichers Empirie „mir kann nix gschehn“ nährten, dienen, wie anders ihn bejahen, dieser neue Sand, dem kein Kotzebue widerstand, dieses für ein Publikum, das sich gern diesen Sand in die Augen streuen läßt, sistierte Mitglied einer Partei, die nach allen Kriegen der Weltgeschichte Europas leichtfertig ihres Ungeistes Schäfchen ins Trockene zu bringen suchte, sei es mit dem Morgenstern oder der Hellebarde, sei es mit dem Revolver oder dem noch druckfeuchten Bürstenabzug in der Hand, wie anders konnte er aus dem Schutt des Tempels einer ephesischen Diana dieser wohl herostratischen, nicht aber alexanderhaft großen Zeit in den verdammt falsch verstandenen Walhall seines Volkes einziehen? Dieser deutsche Knabe Rothstock, eines biederen tschechischen Hausmeisters Sohn, ein Mischblut also (was machts aus in einem Lande, da die Bielohlaweks Geschichte klittern für das Deutschtum und Tolstoi einen alten Idioten nannten, wo die Führerlisten des deutschen Nationalismus slavischer sind als die des tschechischen?), dieser Mörder hat sein Ziel erreicht, hat es vielfach erreicht: er schoß einen (wenn auch ehemaligen) Juden ab, erledigte einen Konkurrenten deutscher Zeitungsherausgeber, der bessere Ideen hatte als sie, zog in den Walhall ein und ging zu allem frei aus. Frei: im wahrsten Sinne des Wortes: frei, so frei, daß die Staatsgewalt ihn sogar noch eine Zeitlang – bis die Erinnerung an diesen Mord neuen Sensationen gewichen sein wird – mit der beliebten Schutzmarke Dementia praccox schützen wird.

         Der Mörder ist also, dem Wahrspruch der Volksrichter zufolge, unschuldig, der Ermordete aber, der fünf Kugeln im Leib hat, ist schuldig, sein Tod wurde gutgeheißen: der Mörder bekam das Absolutorium, und der Tote mag zusehen, sich einen Platz in der Erinnerung zu sichern. Und tatsächlich: Rothstock, dieser kleine erbärmliche Zahntechnikerlehrling ist unschuldig, denn er ist nichts als ein Symptom seiner Zeit, und Symptome sind stets unschuldig. Sie ausrotten zu wollen, sie allein, ohne ihrem Agens zu Leibe zu gehen, wäre der sinnlose Kampf gegen eine Hydra, deren Lebensenergie tausendfach geschützt ist. Heute heißt das Symptom Rothstock, gestern Bernhard Guidoni und morgen Leutnant v. Ixypsilon, immer aber handelt es sich um dasselbe, den Ausdruck einer Zeit, die ohne die Größe der Grausamkeit zu besitzen, verlottert ist, von dem Augenblick, da die Geschichte mit ihr schwanger ging, bis zu dem Augenblick, da eine neue Krise sie in ihrem Unrat ersäuft. Immer nur Symptom; nie kann ein Rothstock eine Individualität mit eigenen Gedanken sein, mit einer Moral, die über die seiner Zeit hinausragt, mit einer Mentalität, die erschüttert vor dem Erhabenen sich neigt, das ja jedem Menschen erschaffen ist, selbst wenn er nur ein Schriftsteller ist, der in Erotik macht (der selbst ein Symptom seiner Zeit ist). An diesen Querschnittmenschen, die nur geboren wurden, um Symptome ihrer Zeit zu sein, an ihnen bewahrheitet sich das grauenhafte, alle Hoffnung zerstörende Gesetz vom natürlichen Milieu.

         Konnten anders die Volksmänner sprechen, die eine Gesellschaft und die ihr adäquate Mentalität vertraten? Konnte anders die hohltönende Phrase von der Freiheit des Menschen ad absurdum geführt werden? Der Mensch ist frei, das Staatsgrundgesetz garantiert die Freiheit der Person und ihres Eigentums: Der Mann, der mordet, ist frei. Aber auch der, den diese europäische Zeit zum Ziel der heroischen Taten ihrer symptomatischen, wenn auch nicht sympathischen Vertreter machte, der Jude ist frei, frei wie der Vogel in der Luft: wer geschickt genug ist und dement genug, um als Symptom für sie zu zeugen, darf ihn erschlagen, um ihres Dankes sicher zu werden. Der Jude wird verbrannt. Weil Bettauer ein Judenstämmling war, ward er ans Hakenkreuz geheftet, denn der Jude, selbst wenn er dem Judentum sich zu entziehen trachtete, ist frei, vogelfrei: hefker. „Hefker!“ dieses blutaufpeitschende Wort, das uns nachgellt aus den Zeiten der lügnerischen Fahnen Isabellas, aus der Blutgosse von Mainz, aus den frumben Landsknechtsliedern derer um die Löwenherze und die Vermandoises, aus den blut- und hirnbespritzten Steinen der Altneuschul, aus Kischenew und aus der Ukraine, aus Millionen haßtriefenden Mäulern, dieses „hefker!“ ist das einzig positive Wahrzeichen dieser negativen Zeit, das wie ein Zeit- und Gestaltwandel der Idole des Westen überdauerndes Programm aussieht. Mit „Hefker! Beginnt das Intoleranzedikt, das gegen uns erlassen ward, als wir, uns treulos werdend, auf unsere Sendung im Osten verzichten mußten, und mit „Hefker!“ hebt es in dieser, wie in jeder Zeit erneut an.

         Lange gellte uns dieser Ruf in die Ohren. Unseren Vätern bekräftigte er stets aufs neue das Bewußtsein ihrer Andersartigkeit, sie, die wahren Heroen des mittelalterlichen Europa, bestärkte das scheiterhaufenaufwühlende Hefkerheulen in ihrer unendlichen Treue, – wir aber, die wir kleiner werden von Geschlecht zu Geschlecht, wir erfanden die Assimilation, um durch sie den fatalen Ruf zu parieren, um dem Zielruf des gegen uns stehenden Europa das Ziel zu nehmen. Bald aber erkannten wir, daß selbst die kleinste, erbärmlichste Zeit nicht so leicht zu übertölpeln ist, und da wir erkannten, daß der Mechanismus des Revolvers selbst vor dem Leib des Ausgetretenen nicht versagt, rückten wir langsam ab von der Assimilation. Das heißt: wir glaubten von ihr abzurücken, indem wir uns wieder auf unser Judentum besannen, ein neues positives Judentum zu schaffen trachteten, aber der Ruf „hefker“ blieb uns so in den Ohren haften, daß wir, kaum sehen wir den Schein einer Möglichkeit, von der Peripherie des Judentums wieder in sein Zentrum zurückzukehren, uns schon, scheu zwar noch, aber immerhin vernehmbar, bemühten, den so oft vernommenen Ruf selbst zu artikulieren. Schon steigt das Gespenst „wir wollen sein wie alle Völker!“ in unserer Mitte empor, schon wird der Wunsch, sich vollends an die Mentalität dieser europäischen Zeit (die ja auch die Zeit des Ford`schen Amerika ist) zu assimilieren, zum Programm bei uns. 

         Das ist die Moral, die wir, Menschen mit einem positiv jüdischen Willen, aus der Geschichte dieses Mordes und seinen Folgen ziehen können. Uns ist der Mord als solcher, ob er nun einen Juden, einen Judenstämmling oder einen Nichtjuden fällte, verwerflich. Verwerflich aber auch die Gesinnung, die ihn in die Welt setzte, verwerflich die Zeit, deren Ausdruck diese Mentalität ist. Verwerflich aber wie die Tatsache, daß wir heute das Objekt dieser Gesinnung sind, ist die Möglichkeit, daß wir morgen ihr als Subjekt unterliegen können.

         Darum statuierte uns dieser Mörder ein Exempel im negativen wie im positiven Sinn.

 

Zur Biographie: Hofmann Martha

In: Selbstwehr, 27. Jahrgang, Ausgabe 5 vom 03.02.1933 im Beiblatt „Blätter für die jüdische Frau“, S. 1ff

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Dr. Martha Hoffmann (Wien):

Artur Schnitzler und Theodor Herzl

(Zu Schnitzlers erstem Todestag.)

Daß Herzl vor und während seiner Pariser Jahre, wohl auch noch später, ja vielleicht bis zu dem dunklen Flügelschlag der Stunde, die die leisegewordene, zuckende Flamme seines Herzens verlöschte, daß Herzl in all den Jahren vor und während seiner politischen Aktion ein durch Selbstaufgabe innerlich Verblutender gewesen ist – das steht in keiner Biographie, das wird selten gesagt und vielleicht nicht viel öfter beachtet.

Als ich mich vor einigen Jahren mit dem Gedanken trug, das Leben Theodor Herzls zu schreiben, nicht eine äußerliche Aneinanderreihung seiner Haupt- und Staatsaktionen, sondern das Abbild seiner Seele und seines Geistes in ihrem Werden und Vergehen, da fühlte ich mit all der Sensibilität, dank der es einem sehr liebenden Biographen bisweilen möglich ist, das Wesen des Meisters zu enträtseln, daß unter der bekannten Oberfläche dieses sinnbildlichen Lebens eine große, tödliche, unbekannte Wunde liegt.

Briefe, die Herzl in jenen Jahren um 1893 gewechselt hat, insbesondere seine Bekenntnisse an den um einige Jahre jüngeren Schnitzler, zu dem er erst aus der Entfernung so recht den freundschaftlichen Kontakt gefunden (und zwar durch Paul Goldmanns Berichte über den großen dichterischen Aufschwung des jungen Arztes Schnitzler, auf den Herzl bis dahin ein wenig von oben herabgesehen hatte und dessen Erfolge er mit der ihm eigenen neidlosen Güte und Bewunderungsfähigkeit verfolgte, obgleich sich  – malgré lui – dennoch ein Stachel in seine entmutigte Seele dabei tief, allzutief senkte), Briefe, die Leon Kellner zum Teil in seinem biographischen Versuch „Herzls Lehrjahre“ veröffentlicht hat, wiesen den Weg in diese schmerzliche Tiefe, den Weg, den ich damals zaghaft abzutasten begann. Zugleich wurde mir klar, daß nach des Prager Theaterdirektors Teweles Tod niemand so sehr letzten Aufschluß über jene tragische Zeit in Herzls Leben zu geben vermöchte als Artur Schnitzler.

Ein gemeinsamer Freund ermutigte mich, an den Dichter zu schreiben. Und da vieles in jenem innig erlebten Briefe gesagt ist, das ich heute nicht mehr so auszudrücken vermöchte, so sei das Schreiben hier zitiert, das schon beinahe eine kleine kontrastierende Abhandlung war, worin ich die beiden Zeitgenossen jenes in der Kulturgeschichte so berühmt gewordenen, heute so weltenfernen „Jung-Wien“ der neunziger Jahre charakterisierte.

Es schien mir damals – und scheint mir bis auf kleine Nuancen unverändert noch heute -, das Herzls antithetische Natur zusammengesetzt war aus jenem Widerstreit von „Drang nach Wahrheit und der Lust am Trug“, der für alle hochbegabten jungen Menschen, vor allem aber für junge Juden so bezeichnend ist. In seiner frühen selbstgefälligen Leichtlebigkeit, die er erst dann als eitel durchschaute, als sich sein hippokratisches Todesantlitz mit den großen, tiefen, allzu wissenden, ewigen Judenaugen auftat – schien er mir Heinrich Heine zu gleichen.

Und ich schilderte jenen Herzl der Pariser Tage, der erkennt, daß nicht das Schauen und Schildern, sondern das Erkennen und Gestalten seiner Zeit ihm das Wesentliche ist. Der große historische Zusammenhänge, soziale und technische Entwicklungen, der die Struktur, das nackte Gerippe seiner Zeit zu begreifen sucht – nicht mehr liebend gebannt an ihre Oberfläche, die andere, die in Wien vor allem Artur Schnitzler in ihrem Duft und Schmelz, ihrer Anmut und Süßigkeit so unnachahmlich geschildert hat. 

Herzls „Bildungserlebnis“ – um mit Friedrich Gundolf zu reden – war Wien, dasselbe Wien, dem Artur Schnitzler nur um weinige Jahre später das unvergängliche Siegel seiner Kunst aufgedrückt hatte. Dieser – obgleich ein Jude mit tiefstjüdischem Herzen – hatte, durch ein wunderbares Naturspiel, durch die absolute Musikalität seines Wesens, das in allen Nervenbahnen den Rhythmus und die Atmosphäre der ihn umgebenden Stadt mit all ihrem Reiz und beseelten Zauber zum Schwingen gebracht. So etwa wie der berühmte Komponist Alfred Grünfeld, der feinste Wiener Musik wie kein zweiter zu spielen vermochte. Und so hatte kein Dichter des „Jungen Wien“ der Jahrhundertwende – nicht einmal Hugo von Hoffmannsthal – die geheime Formel dieser Stadt, ihr Aroma, ihre Blume erlebt, erfühlt, erliebt wie Artur Schnitzler, der Dichter des „Sommerheidenwegs“, mit dem verklärten, duftumflorten Blick auf die Stadt in ihrem abendlich erstehenden Lichterglanz, mit ihrem musisch-verträumten, grüblerisch-heiteren, wehmütigen Menschen, ihren sehnsüchtigen, leichtlebigen, tiefst zur Liebe befähigten Frauen. 

Herzl hatte es eilig gehabt, sich und der Welt ein noch ungeklärtes, unausgereiftes Talent zu beweisen. Und er mußte auf diesem Wege scheitern, um sich selbst zu finden. Nicht, als ob es ihm an Künstlertum gefehlt hätte, wie die feinsten seiner Novellen und Feuilletons beweisen. Aber sein Talent war zartes Filigran. Und das Werk mißlang, wenn der Ehrgeiz des Autors den Maßstab verfehlte.

Er mußte an sich verzweifeln, unsägliche Depressionen erleiden – mit sich selbst sozusagen „fertig sein“, mußte gänzlich aufhören, an sein literarisches Talent zu glauben, um zu seiner wesentlichsten Bestimmung, der des Zeitendeuters und Führers, zu gelangen.

Vorher war er ein als Wiener Literat verkleideter jüdischer Elegant mit selbstbewußten Allüren – nun wird er Mensch und hat etwas zu sagen.

Aber immer hatte er Heimweh nach dem „Garten Eden“ …

„Sie, Sie haben Herzl gekannt! Briefe voll letzter Offenbarung hat er in seinen tragischsten Jahren von Paris aus an Sie geschrieben. Sie haben wie ein Freund an ihm gehandelt, ihn ermutigt, zum Schaffen angeregt. Wer war Theodor Herzl?Wie haben Sie ihn erkannt? Ich ringe um ihn, um sein Bild, um die Wahrheit über Theodor Herzl, der bald ein grandioser Führer, bald ein kleiner, allzu menschlicher Mensch erscheint. Wollen Sie mir helfen, ihn zu erkennen?“

So schrieb ich an Artur Schnitzler und rechnete kaum mit seiner Antwort an eine in jeder Hinsicht Unbekannte.

Aber kurze Zeit danach erreichte mich die mich außerordentlich beglückende und bestätigende Antwort des Dichters. Sie lautete:

„Verehrtes Fräulein“

In dem interessanten Briefe, den ich vor wenigen Tagen, von meiner Reise heimgekehrt, in meinem Hause vorfand, geben Sie eine fast durchweg zutreffende Charakteristik Theodor Herzls. Ganz überraschender Tiefblick, wenn man bedenkt, daß Sie ihn persönlich nicht gekannt haben.

Es wird mir sehr angenehm sein, über das Problem Herzl – denn er war im wahrsten Wortsinn ein problematischer Mensch – einmal mit Ihnen zu reden; zu schreiben gedenke ich vorläufig nicht über ihn.

Ich hoffe bald von Ihnen zu hören. Bitte, rufen Sie mich an. (Folgt Telephonnummer und Zeitangabe).)

Mit verbindlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Artur Schnitzler.“

Eine Woche später bat mich Schnitzler, ihn in seiner Villa im Währinger Cottage zu besuchen. Nachdem ich ein Treppenhaus, das mit Stichen und Radierungen des alten Wien fast tapeziert war, durchschritten hatte, führte mich Schnitzler in sein Arbeitszimmer, von dessen Wänden beiderseits der Monalisa Photographien seiner Freunde unter den deutschen Dichtern, vor allem ein großes, schönes Bild Gerhart Hauptmanns mit dessen Widmung, ferner Bilder von Heinrich Mann und Fritz von Unruh grüßten.

Schnitzler war damals schon ganz grau, ganz fahl, aber ein hoher Ausdruck von Güte stand in diesem einsam gealterten Gesicht. Er war nicht mehr – oh wie lange nicht mehr – der Elegant von einst, sein Knebelbart wirkte ungepflegt, seine Haltung müde, aber die gütigen Augen blickten den Gast mit einer fast südländischen Lebendigkeit und Liebenswürdigkeit entgegen, als er mich bat, auf seiner Chaiselongue Platz zu nehmen, an deren Fußende er selber leger kauerte. Bald waren wir mitten im Gespräch. Aus den Erinnerungen seiner studentischen Jugendjahre schöpfend, erzählte mir nun der Dichter, wie er Herzl noch als den schönen, deutschnationalen Studenten gekannt habe, zu dessen Eleganz er – selbst als Dandy berühmt – bewundernd aufgeblickt habe. Damals, mit 17, 18 Jahre . . . Herzl überragte ihn um Kopflänge und war überdies vier Jahre älter und zehnmal schöner. Das genügte, um einem Siebzehnjährigen zu imponieren. Schnitzler erzählte die berühmt gewordene Episode von jenem Ball in einem damals sehr mondänen Hotel, als Herzl auf ihn, der sich für tadellos angezogen hielt, entsetzt zugeeilt kam: „Schnitzler, welche Krawatte! Und ich habe Sie für einen Brummel gehalten!“

„Ich war vernichtet“, fährt der Dichter mit seinem wehmütig ironischen Lächeln fort. „Sie wissen – wir waren gesellschaftliche Rivalen – große Dandys – es war die Zeit Oskar Wildes.“

„War es auch die Zeit Anatols?“ – „Nein“, sagt Schnitzler lachend, „der war erst später. Aber es gehörte dazu. Es gehörte dazu – und ich schäme mich dessen nicht – gehörte zu dieser ganzen Epoche, in der man nicht im einfachen Komfortablefuhr, sondern im noblen Fiaker, in der man gesucht elegant gekleidet war, verwöhnt und gepflegt, ein weinig scheinbar blasiert und doch im Innern so grenzenlos jung. Es gehörte dazu.“

Gewiß denke ich bei mir, zu jener Wiener Stimmung der achtziger und neunziger Jahre, zu den Menschen des jungen Schnitzler und Hofmannsthal, zu ihrer Schönheit und kultivierten Erlesenheit gehörte es wohl. Eine andere Welt . . . 

„Ich bin Herzl ja im ganzen nicht allzuoft begegnet. Wir waren niemals eigentlich Freunde, darin irren Sie in Ihrem Brief, der sonst so treffend ist. Wir hatten uns nie gut verstanden. Etwas – ich sagte es schon – von Rivalität war zwischen uns, er trat mit solch anmaßender Würde auf, deren Grund man damals noch nicht begriff, ich glaubte, er blicke auf mich herab – ich fand ihn ein wenig aufgeblasen und doch – wie bewunderte ich den natürlichen Adel seiner Erscheinung und seiner Erscheinung und seiner Gebärden. Als er in Paris war und mir jene Briefe schrieb, deren neuer, anerkennender Ton voll so selbstlosen Lobes mir gerade von ihm wohltat – und doch auch weh, wegen der unverkennbaren Wehmut seiner Empfindung – damals schien es, als sollten wir Freunde werden. Aber dann kam er nach Wien zurück und war schon ganz erfüllt von seiner zionistischen Idee. Seine Stellungnahme zu den Menschen hing davon ab, wie diese sich zu seiner Idee stellten. Und, sehen Sie, ich habe mich niemals einer Partei anzuschließen vermocht. Das ist bei mir ganz echt und ehrlich – das habe ich schon mit siebzehn Jahren in mein Tagebuch geschrieben. Und als Herzl, von Paris zurückgekehrt, mich nach seiner Art großartig ansah (Schnitzler imitiert ein wenig die bedeutende Gebärde des zionistischen Führers) großartig und imponierend in seiner stolzen Schönheit und zu mir sagte: „Ich habe die Judenfrage gelöst“ – da schien mir das etwas viel gesagt und ich antwortete ihm nach meiner Art ein wenig ironisch. „Sie werden bald davon hören“, sagte Herzl – und einige Zeit später lag sein kleines Büchlein (die ganze Verachtung eines vielbändigen Autors für solch dünnes, kleines Büchlein liegt in Schnitzlers Tonfall) „Der Judenstaat“ auf meinem Schreibtisch. Mir schien, als ob Herzl sich die Sache zu einfach dächte – und das scheint sich ja auch zu bewahrheiten. So schnell und einfach geht das nicht. Und nun müssen Sie auch wissen, daß ich kein Zionist war und bin. Wie ich mich zum Judentum stelle, ist bekannt. („Bernhardi, der Weg ins Freie“ fällt mir ein). Doch sehen Sie, ich bin auch hierin ganz ehrlich. Ich mache mir nichts vor, das liegt mir nicht. Ich bin ein Jude und stolz darauf, ich glaube sogar in hundert Jahren – vielleicht dauert es auch länger – wird die Welt überall dort, wo besonders subtiler Geist sich zeigt, sagen: „Gewiß ist jüdisches Blut in seinen Adern“, man wird darauf kommen, auf diese Feinheit des jüdischen Geistes. (Obgleich es auch beleidigend blöde Juden gibt. – ) Dennoch – ich bin ein deutscher Dichter, so gut wie Theodor Fontane ein deutscher Dichter war, obgleich er von französischem Blute stammte. Ich bin ein deutscher Dichter jüdischer Rasse.“

„Und Sie halten das jüdische Element nicht für wesentlich in Ihrer Substanz?“

„Aber für sehr wesentlich. Nur aus meinem jüdischen Blute bin ich ganz zu verstehen, das hat niemand weniger verhehlt als ich. Man kann ja auch gar nicht verhehlen, niemand kann wirklich lügen, es gibt nur dumme Menschen, die sich beschwindeln lassen. Schriebe ich in jiddischer oder hebräischer Sprache, so wäre ich ganz und gar ein jüdischer Dichter und gehörte zur jüdischen Literatur. Wenn man mich heute dazu zählen will, so ist es eine Lüge.“

„Man nennt Sie den Wiener Dichter par excellence, das ist Ihre eigenste Marke . . .“

„Ich bin deutscher Dichter und gehöre Europa“, antwortet Schnitzler entschieden. „Natürlich wurzle ich in Wien, wie Thomas Mann in Lübeck und Wassermann in Franken. Gewiß ist eine bestimmte lokale Formung bei mir vorhanden – aber darüber hinaus bin ich einfach einer in der Reihe der deutschen Literatur. Wie Fontane -. Oder gehört der etwa zur französischen Literatur?“

„Und würde das jüdische Neuland, würde Palästina Sie nicht heute noch locken oder zumindest interessieren?“

„Nur wenig“, sagt Schnitzler. „Ja, wäre es irgendwo ganz in der Nähe, ich führe natürlich hin, um es anzusehen. Aber –  fährt er zögernd fort – auch dessen bin ich nicht ganz sicher. Die Landschaft stört mich, diese südländisch farbenstarke, orientalische Landschaft. Ich hänge nun einmal am Wienerwald. Außerdem“, fährt er rasch überleitend fort, „ist mir nichts widerlicher als national-chauvenistischer Ton, wie man ihn auch im politischen Zionismus einer bestimmten Richtung begegnet. Die Chowewe-Zionbewegung, das war etwas, das hat mich tiefer angesprochen. – Doch verstehen Sie mich bitte recht: Ich halte den Zionismus für notwendig und richtig, er mußte kommen, so gut wie der Sozialismus, ich verstehe das alles ganz gut, aber ich mache mir nichts vor. Ich kann mich nicht selbst belügen. Da gibt es einen deutschen Romancier, den ich sehr gut kenne – Sie wissen wohl, wen ich meine – der wohnt in einer Villa mit zwanzig Zimmern in herrlicher Umgebung. Aber am Ende seiner Romane „macht er in Menschenbeglückung“, da „nimmt er seinen Havelock und geht in die Wüste“. Das kann ich nicht. Er liebt die Menschheit als Abstraktum in abstracto. Ich liebe einzelne Menschen und diese ganz konkret. Und so geht es mir auch bei großen Bewegungen. Sie bleiben mir abstrakt – doch mich interessiert nur das lebende Individuum und das kleinste Detail.“

(Indes er dies, als ein Arzt und Dichter, sagt, muß man ihn lieben. Gleichzeitig aber fühlt man, wie fern er dieser in Erlösungsbewegungen gefesselt liegenden, mit Fesseln ringenden Nachkriegszeit ist. Sie leben aneinder vorbei, die heutige Zeit und dieser feinnervige Dichter.)

Das Gespräch kehrt zu Herzl und zu anderen Menschen, jüdischen Menschen, zurück. Schnitzler erzählt auf meine Frage von seinem Jugendfreund, jenem schönen russischen Zionisten, der das Urbild des Leo im „Weg ins Freie“ war und den er so tief liebgehabt hat. Er selbst sei Heinrich Berman – und das sage alles. Gewiß entsänne ich mich doch jener langen Gespräche der beiden über die Judenfrage. Diesem so natürlichen, schlichten und schönen russischen Zionisten habe er nähergestanden und tiefer mit ihm gefühlt als mit Theodor Herzl, der doch viel Pose an sich gehabt habe.

„Und noch eins“, fährt Schnitzler fort, „Herzl hatte, gleich so vielen bedeutenden Menschen, den unseligen Spleen, sein Talent in verkehrter Richtung zu suchen. Ich habe ganz recht gehabt, wenn ich ihm schrieb, daß Herzl erst zu sich selbst hab finden müssen, um Bedeutung zu erlangen.“ Aber etwas dran stimme nicht ganz, etwas, das schwer zu erklären sei – auch als er Führer geworden, habe Herzl sich selbst nicht verstanden und einen unglücklichen Mangel an Selbstkritik in literarischer Hinsicht besessen. So sei er, Schnitzler selbst, einst mit Hofmannsthal und Beer-Hofmann im Kaffeehaus in ein literarisches Gespräch vertieft gesessen, als Herzl hinzutrat und – da kurz vorher ein unbedeutender, kleiner Einakter von ihm gegeben worden war, eine ganz nichtige Kleinigkeit – habe Herzl gefragt, ob einer der drei Dichter sein Stück gesehen habe. Diese Frage auf Grund eines so unbedeutenden kleinen Einakters habe unsäglich peinlich, ja grotesk auf alle gewirkt. Zum Unglück hatte Schnitzler das Stück gesehen. „Wollen Sie wirklich, daß wir darüber sprechen?“ „Ich bitte darum“, sagte Herzl hartnäckig. Nun habe Schnitzler es – leider, leider! – seiner Überzeugung gemäß in Grund und Boden verrissen. Es sei ja auch grenzenlos nichtig und wertlos gewesen. Aber Herzl sei jäh erbleicht und, wie taumelnd, vom Tisch fortgetreten. Lange habe dann Schnitzler nichts mehr von ihm gehört, bis dann eines Tages die Nachricht von Herzls tödlicher Erkrankung kam. Da habe es ihm bitter leid getan, daß sein letztes Gespräch mit ihm ein so bitteres gewesen sei, doch konnte er es nicht über sich bringen, seine Meinung, da er so wieder seinen Willen gefragte worden war – zu verhehlen. Er hätte viel darum gegeben, wäre Herzl damals nicht an seinen Tisch gekommen. Dieser bedeutende Mann hat den Literatenehrgeiz bis zuletzt nicht abgelegt, ganz im Gegenteil. Hermann Bahr und Siegfried Trebitsch, die an Herzls Totenbett in Edlach weilten, wußten zu berichten, wie Herzl bis zum letzten Atemzug weit mehr nach der Aufnahme seiner literarischen Arbeiten, als nach dem Schicksal der zionistischen Bewegung gefragt habe.

Hier schüttle ich stumm den Kopf. Ja, Bahr und Trebisch mag er danach gefragt haben, denn was wußten sie von der Idee und der Bewegung. Aber immerhin – immerhin – sie war tiefer, als ich gedacht – unheilbar – tödlicher noch, als ich spürend geanht hatte, Herzls tiefste Wunde – seine Verzweiflung an sich selbst und an seinem Dichtertraum.

Und dennoch, denke ich beim Heimweg sinnend, nachdem ich den liebenswürdigsten der Dichter verlassen habe – und dennoch: wer von beiden hinterläßt wohl letzten Endes das schönere, das unsterblichere Lied?

Nun, da Schnitzler starb, fühlt die immer blinde und stumpfe Welt erst allmählich, daß auch er ein Schmerzenreicher, ein Verblutender war, obgleich er sich – gleich Herzl und Heine – in seiner Jugend für einen Götterliebling gehalten. Dichterlos – Judenschicksal.

 

Zur Biographie: Hofmann Martha

In: Selbstwehr, 25. Jahrgang, Ausgabe 9 vom 27.02.1931 im Beiblatt „Blätter für die jüdische Frau“, S. 1

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Außen und Innen.

(Zur Morphologie der Assimilation.)

Von Dr. Martha Hofmann.

Daß Verallgemeinerungen zwar verlockend aber gefährlich sind, ist eine Binsenwahrheit – die man sehr leicht vergißt, wenn man in ein fremdes Land kommt oder sonst mit Angehörigen eines fremden Volkes zu tun hat.

Auch der Wissende – (und wer wüßte dies nicht!) – erlebt an sich, wie sehr er in neuer Umgebung Verallgemeinerungen und Vorurteilen ganz oder doch beinahe zum Opfer fällt und es macht wenig aus, ob er dazu auf Grund eigener Zufallserfahrungen oder auf Grund übernommener Urteile gelangt ist. Nur darauf kommt es an, welch ein „Vorzeichen“ ein jeder den beobachtenden Symptomen gibt, ob er sich identifiziert oder abseits stellt – ob er Subjekt oder Objekt der Beurteilung ist. Darnach richten sich seine Sympathien und Antipathien, seine Schlüsse aufs Allgemeine wie aufs Besondere. Nur so entstand die Scheidung der Menschheit in Barbaren und Helennen – in Arier („Gojim“) und Juden . . .“

Wer immer solch ein Neuland der anthropologischen Selbsterfahrung betritt, verspürt zuerst nichts anderes als ein eigenartiges, ein wenig betäubendes Fluidum, das von all den neuen Gestalten, Gesichtern, Gebärden, von Haaren und Augen, Kleidung und Nahrung, Bauweise und Wohnung – von all dem Persönlichen und Unpersönlichen dieser fremden Menschen ausgeht – ein die ganze Atmosphäre beherrschendes, intrigantes Fluidum, das von wilden, d.h. naturnahen Lebewesen wahrscheinlich mit dem Geruchsinn wahrgenommen würde. Ein Bündel fremdartiger Strahlungen und Ströme dringt auf das Unterbewußtsein des Ankömmlings ein, projiziert ein verschwommenes Bild auf die seelische Rezeptionsfläche des Betrachters – eine nebelhafte Landschaft, deren größere oder geringere (zumeist aber größere) Verschwommenheit nicht wenig von der seelischen Substanz des Empfängers bedingt wird. Die so undeutlich umrissene „Landschaft“ wird von der inneren Natur des Empfängers angenehm oder unangenehm empfunden, „schön“ oder „unschön“, „sympathisch“ oder „unsympathisch“. Sie erweckt Empfindung, doch ermöglicht kein Urteil. Das ist der innere Zustand der flüchtig Reisenden aller Orten. Ein Eindruck – eine Rezeption. Nicht mehr. Und dennoch bildet fast jeder sich seine Ableitungen und „Ansichten“ auf Grund dieses nebelhaften Diagramms.

Wer länger verweilt, macht einzelne Erfahrungen. Macht die Bekanntschaft eines dieser Fremdlinge, vielleicht mehrerer – und nun beginnt die skizzenhafte Landschaft sich von einem bestimmten Punkt aus zu füllen: was früher nur blasse Kontur war, wird jetzt durch Licht und Schatten, Tiefe und Breite annähernd bestimmt. Ein eigenartiger Prozeß – ein unbewußtes Ineinandergreifen von Beobachtung und Ableitung. Zuerst nämlich beeinflußt jener ursprünglich subjektive „Eindruck“ daß neugewonnene Bild viel mehr als eine vermeintlich objektive Erfahrung am Einzelnen, am Individuum. Denn noch werden die Einzelzüge aus der umhüllenden Atmosphäre des Ganzen mehr intuitiv (d.h. subjektiv) erraten, als betrachtend erkannt. Noch wirkt die Gleichartigkeit der Gattung viel stärker als die Verschiedenheit der Arten. Die Atmosphäre der Fremdheit hängt über jedem einzelnen wie ein die Nuancen umhüllender Schatten oder wie ein überstark blendendes Licht. Innerhalb dieses Rahmens, den die belebten und leblosen Seelenzeichen eines Volkes bilden, wirkt der zugehörende Einzelne ganz anders als in einer ihm wesensfremden Umgebung. Hier ist er organischer Teil, dort eigenartiges Individuum. Diese Wirkung kann so verschiedenartig sein, daß sie dem Betrachter neue Gesichtspunkte über das Objekt seiner Betrachtung erschließt.

Später erst vermag der Beobachter die persönlichen Züge des Individuums von dem umhüllenden Rahmen deutlich abzuheben und abzulassen.

Hierbei aber unterliegt der sich Gewöhnende demselben tragischen Geschehen, das jeder Heranwachsende in dem grausamen Gewöhnungsprozesse des Lebens durchmißt: Leben – das ist eben die Gewöhnung an das Ungewöhnliche!

So wie die engere Familie stets mehr die Verschiedenheiten der Geschwister als ihre Ähnlichkeiten in Zügen und Charakteren beobachtet, während die Außenstehenden zunächst die große „Familienähnlichkeit“ erfassen, – so auch bei der Bekanntschaft mit einem neuen Volk. Tatsächlich sind auch bei allen Menschen und besonders bei Gliedern einerRasse, die Ähnlichkeiten weitaus größer als die Verschiedenheiten. So, wie wir aber selbst ein Teil geworden sind, nicht mehr von außen kommend, harmlos oder kritisch, ängstlich oder argwöhnisch das Ganze beobachtend – verlieren wir den Überblick über das Gesamtbild und sehen nur noch das Detail, das immer vielfältig ist.

Bei dieser Stufe angelangt, wird der Betrachter den einzelnen nicht mehr nach dem Klischee des ersten Eindrucks beurteilen, und er gelangt dazu, „ Ausnahmen“ zu konstatieren. Nun entdeckt er, daß seine individuellen Erfahrungen die ursprünglichen Verallgemeinerungen Lügen strafen; wieder du wieder stellt er fest, daß „nicht alle so sind“, wie er vermutet hat, Unterschiede treten ihm vor Augen – er stockt, zögert in der Beurteilung, wird irre an der Wertung des Einzelnen, wie des Ganzen. Immer aber noch behält im Unbewußtsein jener erste oder ererbte, effektbetonte „Eindruck“ die Oberhand. 

Denn nur zwei Standpunkte der Betrachtung und der Urteilbildung kann es geben: den von außen und den von innen. Hier aber hat der Betrachtende keinen dieser Standpunkte inne – es ist der kritische Moment der Überganges von dem einen zu dem anderen. Er hat den naiv subjektiven ersten Eindruck des Außenseiters verloren und ist irre geworden, ob dieser Eindruck der richtige war. Denn noch ist er nicht der Umgebung ähnlich genug, um diese von innen her verstehen zu können. „Du gleichst dem Geist, den du begreifst“, sagt Goethe. Man kann dieses Wort ohne jede Vergewaltigung umkehren, ja, es wird deutlicher in seinem Tiefsinne durch diese Umkehrung: „Du verstehst den Geist, dem du gleichst.“

Erst wenn der Prozeß der Angleichung eingesetzt hat, kommt das Gefühl des Verstehens über den nicht mehr Fremden. Nun werden seine Urteile über das Volk, dessen Teil er zu werden beginnt, sich überraschend ändern und vielfach in ihr Gegenteil verkehren. Eine Umwertung der Werte tritt ein, jene oben angedeutete Verwandlung der „Vorzeichen“ im mathematischen Sinne; es vollzieht sich nicht mehr und nicht weniger, als die Wandlung des Objektes zum Subjekt. Das alles durchdringende Fluidum ist in den ursprünglich Außenstehenden eingedrungen, er ist nicht mehr unbeteiligter, subjektiver Beobachter – er ist subjektiv Beteiligter geworden. Unbewußt hat er die Identifizierung vollzogen. Daher ist seine Deutung der gleichgebliebenen Symptome charakteristisch verändert. Was früher objektiv und kritisch analysiert wurde, ist nun subjektiv affektbetont. Der Analyse unzugänglich, wenn nicht feindlich. Nicht die Umgebung ist eine andere, er selbst ist ein anderer geworden.

Dies ist der Prozeß der Assimilation oder der Selbstaufgabe, der Selbsthingabe an die neue Atmosphäre, welcher der eine rascher und weitgehender erliegt als der andere, dem aber keiner gänzlich entgeht, der als ein Einzelner in eine fremde Umgebung versetzt wird.

In der Regel freilich gelingt dem Fremden nicht die völlige Identifikation, auch wenn er sie anstrebt. – Und darum kommt der eine niemals über den geschilderten Übergangszustand des „Irregewordenseins“ hinaus, er ist in seiner Wertung der Werte erschüttert, unsicher und schwankend und zu blinder Nachahmung geneigt: der andere glaubt, die volle Sicherheit der Wertung gefunden zu haben und steht plötzlich, wie von Rätselhaftem überwältigt, vor einem Anderssein und Nichtbegreifenkönnen, das eine Kluft zwischen ihn und seiner Umgebung aufweist. Eine Tragödie, die namentlich viele scheinbar assimilierte Juden während des Weltkrieges oder während der Pogromstimmung der Nachkriegszeit erlebten und nun vollzog sich in manchen von ihnen, den Konsequentesten, Mutigsten, ein langsames Zurücktasten zum eigenen Wert und zur eigenen Wertung die umnebelt und verschüttet unter den neuen, aufgetragenen Schichten begraben lagen. Ein neues, nicht minder mühsames Abtragen der künstlichen Schichten setzt ein. Aber nicht jedem gelingt nunmehr die Rückkehr von außen nach innen, selbst wenn sie die ursprüngliche Wertung wiederherstellen sollte. Das Gleichgewicht ist erschüttert und in Fetzen hängt an ich die zerrissene Atmosphäre der beiden Welten.