In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1/1 (1823), 25-67 (1. Teil)

Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1/2 (1823), 231-276 (2. Teil)

  ➥ Zur Biographie: Gans Eduard

In: Allgemeine Zeitung des Judenthums. Heft 20 (20.9.1918)

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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 26. Jahrgang, Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f / Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f

 

I.

Wohl in der ganzen Literaturgeschichte dürfte es nicht zwei Repräsentanten eines und desselben Stammtypus geben, welche in so diametraler Richtung einander gegenüberstehen, wie Nathan und Shylok. Wird der Jude schon im gewöhnlichen Leben als Hauptvertreter der materialisti- schen, nur auf das rein Praktische gerichteten Lebensweise anerkannt, um wie viel ungerechtfertigter, – so die Ansicht sehr Vieler, – demselben in der Poesie einen Platz geben zu wollen. Wir selbst aber, die in der Bühne keineswegs ein Institut momentanen Zeitvertreibes durch geist- und sinnlose Wiedergabe alltäglicher menschlicher Vorfälle erblicken, sondern auch den hohen ethischen Werth derselben eifrigst anerkennen, begreifen nur zu sehr, welche treibende sittliche Kraft einen Lessing und Shakspeare bewogen haben mochte, Gestalten, wie einen Nathan und Shylok auf die Bühne zu bringen. Der Erstere nannte in richtiger Erkenntniß die Bühne eine Kanzel, vor der aus er seine Ideen, aber nicht blos in theatralisch-reformatorischer Beziehung, sondern in einer den Fortschritt des menschlichen Geistes scharf kennzeichnenden Richtung in die Menge zu streuen wußte; Letzterer, der ebenfalls die Bühne als Spiegel und Schule des menschlichen Lebens betrachtete, um uns durch seine mächtige Darstellungsweise menschlicher Leidenschaften alle gefahrbringenden Irrthümer zu zeigen und uns von denselben zu befreien. Wenn wir von den jüdischen Episodengestalten moderner Vorstadtdramen absehen, die nur dazu dienen, durch eine mauschelnde Darstellungsweise das Lachbedürfniß roher ungebildeter Hausknechte zu befriedigen, so müssen wir zugestehen, daß Nathan und Shylok die einzigen jüdischen Typen sind, die in der Weltliteratur ihren bleibenden Platz einnehmen werden. Zu zeigen, in wie weit dieselben Bezug auf das Judenthum nehmen, sei der Zweck vorliegender Skizze. Beide Ansichten, sowohl die, daß im Nathan ausschließlich die Verherrlichung des Judenthums gefeiert wird, gegen die das Christenthum in gänzlich ungerechtfertigter Weise zurückstehe, wie die der erbittertsten Feinde des Judenthums, daß in der Gestalt des Shylok allein das gesammte Judenthum seine richtige Charakterzeichnung erhalten habe, wollen wir hier einer näheren Prüfung unterziehen und zeigen, wie nötig es sei, sich nicht bloß dem ersten Eindrucke hinzugeben, den die beiden Dramen auf uns ausüben, sondern alle weiter liegenden Umstände prüfend zu betrachten, um zur richtigen Erkenntniß zu gelangen, ob und warum die beiden Gestalten des Nathan und Shylok Repräsentanten des Judenthums in seiner Totalität darstellen. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern nur durch eine concrete Darstellung zum Ausdruck gebrachte Träger eines allgemeinen Principes. Lessing wollte durch seinen Nathan den Gedanken zur sinnlichen Anschauung bringen, daß das rein Menschliche alle Fesseln durchbreche und die Ausschließung der Bekenner einer positiven Religion von denen einer anderen endlich aufheben müsse. Es ist dies ein großes Princip, das auch nur in einer großen, keineswegs particularistisch auf das Einzelne gerichteten Seele Platz greifen konnte; die Auflehnung eines geistig freien Mannes gegen allen übertriebenen Religionshochmuth, gegen eine kleinliche Unduldsamkeit.

Nur wer sich ein recht klares Bild von der damaligen Zeit machen kann, von der Stellung, die Lessing seinen theologisch-fanatschen Gegnern gegenüber einnahm, die Wunden kennt, die er durch den christlichen Hochmuth erlitten, kann begreifen, welche tiefinnere Ueberzeugung von der Wahrheit seines Principes, welches Bewußtsein seiner Fähigkeit Lessing beherrscht haben mußte, um an die dramatische Verkörperung einer solchen, den Humanismus in seine vollen Rechte einsetzenden Idee schreiten zu können. Lessing wollte den confessionellen Hochmuth demüthigen, indem er dem Juden-, Christen- und Heidenthum gleichen Werth zuerkannte, um so seine, bis jetzt allerdings noch nicht ganz erreichte Idee, von der Gleichberechtigung aller Menschen, zum Ausdrucke zu bringen. Die Frage, warum dieser Humanitätsgedanke gerade in einem Juden seine Verkörperung erhalten, darf nicht auf die gebräuchliche Weise beantwortet werden. Die Ansicht, daß das so verachtete Judenthum über seine Hasser und Verächter triumphiren wollte, indem sich gerade in ihm das rein Menschliche so herrlich entfaltet zeigt, löst deshalb die Frage nicht, weil sie nur auf der Basis rein polemischer Beziehungen steht; ebenso oberflächlich wäre das Urtheil, daß Lessing nur deßhalb einen Juden gewählt habe, um ausschließlich seinen Spinozismus oder seinen Freund Moses Mendelssohn, der allerdings das beste Modell ist, poetisch verherrlichen zu wollen. Der Grund muß, obwohl diese beiden Ansichten ihre größte Bedeutung für die Lösung der Frage nicht verlieren, hauptsächlich in der specifischen Eigenschaft des Judenthums selbst gesucht werden. Das Judenthum, das auserwählte Volk Gottes, ist in seinen religiösen Principien vollständig aufgegangen. Lessing konnte nicht anders, als gerade einen Juden zum Vertreter des universellen, rein menschlichen Principes machen, weil in ihm dieses Princip seinen vollständigsten Sieg errungen, weil es die gewaltigsten Hindernisse überwunden.

Nur der Jude, dessen ganzes Wesen am meisten religiösen Satzungen unterworfen ist und dennoch den Gedanken eines universellen, von aller positiven Religionssatzung unabhängigen Menschenthumes, in sich aufgenommen, darf es wagen, Dasjenige, was er selbst nach langem Kampfe sowohl gegen alle äußern als innern Hindernisse erworben, auch den Anderen zu predigen und von ihnen zu verlangen. Deshalb ist der Jude der Vertreter jenes Principes, daß jedem übertriebenen unduldsamen Religionshochmuth den Krieg erklärt und das wahrhaft Menschliche Allen an die Spitze setzt, und keine Unterordnung desselben dulden will. Der Jude hat sich durch alle finsteren Engen durchwinden, alle Qualen der Unterdrückung des Hasses und der Verachtung vergessen müssen, ehe er den Gedanken des freien reinen Menschenthumes in sich aufnehmen konnte. Und deshalb ist er allein dazu berufen, die Idee der Gleichberechtigung aller Religionen, die Idee der wahren Humanität zu verkörpern. Man hatte den „Nathan“ für eine Auflehnung gegen die bisherige Ordnung, die dem Judenthum und dem Mohammedanismus die inforiorste Stellung zuwies, gehalten, für eine satyrische Verunglimpfung des Christenthums. Das Erste hatte seinen Grund in der bekannten Parabel von den drei Ringen, das Letzte wegen der negativen Charakterzeichnung der christlichen Gestalten in dem Stücke. Gegen letzteren Vorwurf vertheidigt sich Lessing mit folgenden Gründen: „Wenn man sagen wird, daß ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt und jenerlei Leute unter Juden und Muselmännern gefunden, so werde ich zu bedenken geben, daß Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren, daß der Nachtheil des Religionshasses zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solcher Mann habe sich nun eben in einem Sultan gefunden.“ – In den Gesta Romanorum wird nebstdem zur Beruhigung christlicher Gemüther, in der Nutzanwendung der Erzählung von den drei Ringen der echte Ring in der Art auf das Christenthum bezogen, daß auch die beiden anderen durchaus nicht falsch und eitel wären. Nathan, dieses herrliche Zeugniß der Emanation des freien Volksgeistes, wurzelt allerdings in den Verhältnissen seiner Zeit und verdankt sein Entstehen hauptsächlich den Kämpfen, welche die letzten Lebensabschnitte Lessing’s ausfüllten. Die Zeit jedoch, da der tiefe poetische Kern, der in diesem Stücke so wunderbar zum Ausdruck gekommen, seine Blüthen treiben wird, ist noch nicht hereingebrochen. Die Wogen des Religionshasses rauschen noch so wild wie früher und scheinen sinnlos ohne Gegenwehr, die zarten Blüthen, die ein Nathan gezeugt, wieder vernichten zu wollen. Wer will sich heute noch an die Fabel von den drei Ringen erinnern, die alle drei die einzig wahre Religion, das wahre Menschenthum, die brüderliche Liebe Aller gegen Alle enthalten? Möchte doch durch diese Erzählung von den drei Ringen die Menschheit ewig daran erinnert werden, daß das göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl den Nationen heilig und werth bleiben müsse, daß das wahrhaft Menschliche nicht nach dem Glaubensbekenntnisse, sondern wieder nur nach dem Menschlichen fragen darf.

(Schluß folgt).

 

Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

II.

Wenn in dem so erbitterten Kampfe, wie er jetzt geführt wird, wir auf Lessings „Nathan den Weisen,“ an die in demselben zum Ausdruck gelangte Idee von der Gleichberechtigung aller Religionen hinweisen und die finsteren Agitatoren, die mit Allgewalt nebst dem so wild erregten Kampf der Nationen auch noch den der Religionen in unser Jahrhundert aufzunehmen sich bemühen, an die Auffassung des Judenthums in seiner Stellung zu den anderen Bekenntnissen erinnern wollen, dann hören wir sofort mit höhnischer Geringschätzung aus dem Munde unserer Gegner, daß wir ja gar nicht berechtigt, die Tendenz Nathans als Argument für uns zu betrachten. Nicht Nathan, nein Shylok, dieses herzlose Scheusal, das ganz im Banne der eckelsten aller Leidenschaften, des sinnlosesten Geizes, die allerheiligsten Bande des Menschenthums, die Pietät des engsten heiligsten Verwandtschaftverhältnisses, das des Vaters zu seinem Kinde, achtlos zerreißt und sich im Staube windet vor seinem Götzen Mammon, dieser Shylok allein sei der wahre Repräsentant des Judenthums. So wie er, so Alle vom jüdischen Stamme! Nun, wir stehen nicht an, wenn wir zu Begründung unsere Ansicht, daß das Judenthum den anderen Religionen zum mindesten ebenbürtig, Lessings „Nathan“ erwähnen, auch den Shylok in das Auge zu fassen. Freilich fällt es unseren Gegnern leicht, bei dem so scharf ausgesprochenen Geschäftssinn der Juden, Shylok als den richtigen Grundtypus des Judenthums aufzufassen. Ist es aber denn nur überhaupt denkbar, daß wenn alle Juden wären wie Shylok, die Welt noch überhaupt Bestand hätte, und die Menschen nicht schon längst sich hätten gegenseitig zu Grunde richten müssen. Und wo haben wir denn die wahren historischen Beweise, daß es einen Juden Shylok, ja überhaupt einen Menschen von einer solchen, allen Gefühlsgesetzen hohnsprechenden Grausamkeit, die nach Baco’s Worten jedem Guten ohnehin als eine fabelhafte, tragische Fiction erscheinen muß, gegeben habe. Gibt man sich dem Eindrucke, dem Shylok in psychologischer Beziehung ausübt, so ohne jede weitere logische Nachforschung hin, dann allerdings wirkt die scharfe Charakterzeichnung des Juden derartig nach, daß man nur zu sehr geneigt ist, ihn als Grundtypus des ganzen Judenthums aufzufassen. Beschäftigt man sich aber mit dem Stücke etwas eingehender, dann wird man bald zu dem Resultate gelangen, daß man an die Stelle des Juden Shylok ebensogut den Christen Shylok setzen kann. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern bringen nur eine gewisse Idee in concreter Gestaltung zu einer allgemeinen Darstellung.

Wie Nathan uns im Gewande der Poesie, der herrlichsten Rhetorik, zeigen will, daß es auch unter den Juden edle Menschen gäbe, daß keine Religion das Recht habe, ihren Ring als den einzig echten und werthvollen zu bezeichnen, und somit das edle Gesetz der Toleranz zu seinem Inhalte macht, so will auch Sheakespeare durch seinen Kaufmann von Venedig nichts Anderes, als den Grundsatz des Summum jus, summa iniuria, den Schein des abstrakten Rechtes, durch eine dramatische Verkörperung zum Ausdrucke bringen. Die Ursachen, weshalb ein Jude zum Vertreter jenes Scheusals, das sich auf sein Recht des Pfund Menschenfleisches als Pfandobjekt stützt, genommen wurde, sind leicht zu ergründende. Es ist eines der ersten dramatischen Gesetze, daß die Handlung des ernsten Dramas eine wahrscheinliche sein müsse. Erfüllt nun der „Kaufmann von Venedig,“ dieses psychologisch allerdings wunderbar ergreifende Gemälde, diese Forderung? Ist es denn nicht ein Widerspruch der gesunden Vernunft, anzunehmen, daß unter Menschen, wie sie Sheakespeare in seinem Stücke schildert, ein solches Schuldverhältniß habe bestehen können, das dem Gläubiger das Recht gibt, bei Nichteinlösung der Schuld sich als Aequivalent dafür aus dem Leibe seines Schuldners ein Pfund Fleisch schneiden zu dürfen? Wenn wir diesen, ästhetisch ganz unberechtigten Kernpunkt des Stückes nicht begreifen können, dann müssen wir uns an die eigenthümliche Art und Weise, wie Sheakespeare ganz lose, unzusammenhängende Fabeln benutzte, um daraus seine herrlichsten Dramen zu machen, vor Augen halten. Die Fabel des Kaufmanns von Venedig, die wie der berühmte Forscher Max Müller nachgewiesen, bereits in der indischen Götterlehre, anläßlich eines Streites zwischen Indra und Ugni vorkommt, ist aus zwei ursprünglich getrennten Erzählungen, von dem Rechtshandel um das Pfund Fleisch und von den drei Kästchen zusammengeschmolzen. Beide finden sich in der bekannten Sammlung der Gesta Romanorum. Vielleicht ist der Stoff des Stückes schon vor Sheakspeare in einem älteren Stücke bearbeitet worden; Gosson spricht in seiner „Schule des Mißbrauches“ von einem Stücke „Der Jude“, dessen Inhalt die Habsucht weltlicher Freier und die Blutgier der Wucherer darstellt. Wenn Sheakespeare den Shylok zu einem Juden macht, dann müssen wir uns nur an die Zeit erinnern, in der er lebte. Unterschied sich doch dieselbe, was das Verhältniß des Christenthums zum Judenthume anbelangt, auch nicht durch das Allergeringste von den heutigen, wurzelte doch auch sie in dem tiefsten Hasse gegen Alles, was jüdisch war. Wo hätte Sheakespeare einen bes- seren Repräsentanten für die Symbolisirung des herzlosesten Geizes finden können, als in dem er Einen aus jenem verachteten und weniger als das Thier geschätzten Volke, dem Judenthume, nahm, das von jedem Sonnenstrahl der freien Selbstentwickelung mit der Hetzpeitsche zurückge- trieben, erkannt hatte, daß es nur durch die Macht des Geldes sich aus seiner geknechteten Parialage befreien könne. Wie hätte Sheakespeare es wagen dürfen in seiner Zeit, in der des strengsten Puritanismus, einen Christen so zu zeichnen, wie er es mit dem verachteten und gebrandmarkten Judenthum durfte.

Wollte aber Sheakespeare durch seinen Shylok absichtlich das Judenthum brandmarken, oder war nicht vielmehr er, der in allen seinen Werken die Beziehungen der Religionen vermeidet, nur durch die Verhältnisse seiner Zeit gezwungen, einen inferioren Juden als ein unbeanständetes Vorbild für seinen Shylok, dieses von der Leidenschaft des Goldes dämonisch durchwühlte Unding, zu nehmen? Was wußte Sheakespeare von der Emancipation der Juden? Und trotz Alledem können wir ganz unbefangen die Behauptung aufstellen, daß durchaus keine antisemitischen Motive, kein wüthender Haß Sheakespeares gegen die Juden ihn dazu veranlaßten, Shylok zu einem Juden zu machen, den der Schauspieler Bourbadge zu Sheakespeares Zeiten auch in eckelhafter äußerer Gestalt, mit langer gebogener Nase und brennend rothem Haare gab. Und wenn in diesem Stücke der Jude Shylok von glühendem unerbittlichen Hasse gegen den Christen Antonio erfüllt ist, wer darf deshalb behaupten, daß das ganze Judenthum von demselben Hasse gegen das Christenthum erfüllt sein müsse. Shylok sieht sich in seinen allerheiligsten Interessen, in denen des Gelderwerbes von dem Christen Antonio getäuscht; und nur deshalb haßt er ihn, nicht weil er ein Christ ist, sondern weil er durch ihn beschimpft, verhöhnt wird und materielle Einbuße erleidet. Nicht gegen den Christen Antonio wüthet sein Haß, nur gegen den unpraktischen Kaufmann, der schon in der Nutzbarmachung des Capitals durch Zinsen den ärgsten Wucher erblickt, und von falschen Principien geleitet, den Werth des Geldes herabzudrücken versuchte. Also nicht auf dem Boden religiöser Gesinnung wurzelt der Haß zwischen dem Juden Shylok und dem Christen Antonio, sondern auf dem ihrer gemeinsamen Kaufmannsinteressen. Noch zwei gewichtige Factoren sind es, die uns zur Ueberzeugung führen müssen, daß Sheakespeare durchaus nicht von Judenhaß erfüllt war, und daß zwischen Shylok und dem wahren Judenthume ein greller unlösbarer Widerspruch besteht.

Wenn es Sheakespeare darum zu thun gewesen wäre, durch seinen Shylok das ganze Judenthum als unmenschlich und grausam darzustellen, wie hätte er dann Jessika, dem Judenmädchen einen so innigen herrlichen Charakter verleihen können. Was den zweiten Widerspruch anbelangt, so ist derselbe von solcher Kräftigkeit, daß selbst die erbittertsten Feinde des Judenthums es anerkennen müßten, daß Shylok und das Judenthum die disparatesten Dinge sind. Wenn der durch Jahrtausende eingewurzelt und fast unauslöschbare Haß den Juden auch alle möglichen Laster und Fehler vindicirt, an dem innigen Verwandtschaftsverhältniß, an der unendlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern bei den Juden, und umgekehrt, hat noch Niemand gerüttelt. Wissen es doch Alle, daß der Jude keine, auch noch so schwere Last scheut, wenn es gilt, seinen Kindern Gutes zu erweisen, und er hungernd und frierend, verhöhnt und gemartert, in seinem heiligsten Gefühle, das er seit seiner Jugend gleichsam als Ideal in sich getragen, in seiner Religion verletzt und geschmäht, doch Alles geduldig erträgt und sich freudig die bittersten Opfer auferlegt, nur um seine Kinder froh und zufrieden zu sehen. Und Shylok, der freudig aufjauchzen möchte, wenn er seine Tochter selbst todt zu seinen Füßen sehen würde, aber nur mit den kostbaren Juwelen im Ohre und den ihm genommenen Dukaten, Shylok, der lieber den Tod seines einzigen Kindes, als den Verlust einiger Goldstücke herbeiwünscht, könnte ein Jude sein! Freilich, wer in jedem Juden gleich a priori schon einen Shylok erblickt, dem dürfte diese Beweisführung nicht besonders kräftig erscheinen, für den ist allerdings nicht Nathan, sondern Shylok getroffenes Portrait des Judenthums und seiner Eigenschaften. Und trotzdem wollen wir hoffen, daß einst die Zeit kommen wird, wo von allen insgesammt die Idee Nathan’s aufgenommen und ins wirkliche reale Leben übertragen werden wird.

 

➥ Zur Biographie: Moritz Goldstein

Aus: Compact Memory / (uni-frankfurt.de)

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I.

Die Emanzipation der Juden in Deutschland war die Folge eines Lebensideals des 18. Jahrhunderts, welches man mit dem Namen Humanität bezeichnet. Es gründete sich bekanntlich auf der Anschauung, dass alle Menschen von Natur einander gleich seien und dass an allen Unterschieden der Bildung, des Standes und überhaupt des Wertes die Kultur Schuld habe. Wenn jedem Menschen — so theoretisierte man — in gleichem Masse die Möglichkeit gegeben würde, seine Fähigkeiten zu entwickeln und auszubilden, so würden die Verschiedenheiten, welche heute die Nationen und Stände äusserlich trennen, verschwinden, und alle würden sich in einem gemeinamen erhöhten Menschentume treffen. Dieses erhöhte Menschentum für die eigene Person durch strenge Selbstzucht und allseitige Ausbildung zu erreichen, war das eigentliche Humanitätsideal; es zu verwirklichen, war das höchste Ziel unserer Klassiker; unter ihnen war es Goethe, der ihm vielleicht am bewusstesten, sicher aber am erfolgreichsten zustrebte. Ins Soziale umgesetzt, bedeutete dieses Ideal die Forderung, dass jedem Menschen von der Gesellschaft die Möglichkeit garantiert werde, für die Entwicklung seines Menschentumes Raum zu gewinnen. Insofern waren die Wortführer der Humanität zugleich die Apostel der französischen Revolution. Freiheit und Gleichheit, das Kampfgeschrei, das in Paris angestimmt wurde und in ganz Europa begeistert widerhallte, bedeutete nichts anderes als die menschlichste aller Forderungen: Gleiche Bedingungen für alle, die den grossen Wettlauf des Lebens antreten. Diese Forderung, welche auf der einen Seite als ein verzweifelter Notschrei aus der Tiefe erscholl und aus den Kehlen bewaffneter Volkshaufen den bevorzugten Reichen und Gebildeten unheimlich genug in die Ohren gellte, wurde andererseits von eben diesen Bevorzugten zum allgemeinen Postulat erhoben und zu einem Lieblingsgedanken des spekulierenden Europas gemacht. Man wartete nicht überall, bis der Hilferuf aus den Niederungen laut wurde, sondern wandte freiwillig, vom modernen Geiste der Humanität getrieben, seinen Blick auf diejenigen, welche unter der Ungunst ihrer Lebenslage zurückgeblieben waren. Die Verachteten, Ausgestossenen, Verkommenen rückten plötzlich in das helle Licht des allgemeinen Interesses, und unter diesen auch, und zwar als die Interessantesten, die Juden. Die Konsequenz des Humanitätsideals war der Philosemitismus.

Der junge Lessing war es, der sich im Namen der Humanität zum Anwalt dieser Bedrückten aufwarf. Er schrieb ein schwaches Anfängerstück „Die Juden“ und erregte damit das höchste Aufsehen unter den Angehörigen des Volkes, dem es galt.

 Ein Reisender — dies ist der Inhalt — befreit einen Gutsherrn aus der Hand von Räubern. Der Gerettete kann sich nicht genug tun in Dankbarkeit gegen den Fremden, andererseits in Schmähungen auf die Juden, als die vermeintlichen Übeltäter. Er bietet seinem Retter die Hand seiner Tochter samt seinem Vermögen an, der Grossmütige lehnt ab; der Gutsherr bietet- dringender, der andere lehnt dringender ab; der Gutsherr, durch weitere Wohltaten dem Fremden aufs Neue verpflichtet, lässt nicht nach, — da macht dieser dem edlen Wettstreit mit einem Schlage ein Ende, indem er bekennt, dass er Jude sei. —

Dies harmlose Jugendstück Lessings, welches jedoch aus einem Geiste geschrieben ist, für den wir dem jungen Dichter stete Bewunderung und Dankbarkeit schulden, verrät in naiver Weise, wie der Philosemitismus der Humanität eigentlich aussah: „Die Juden, die ihr um euch seht — so räsonnierte er — hässlich, schmutzig, wiedrig und zu allem Schlechten fähig, sie sind all dieses nicht ihrem Wesen nach, sondern sie sind so geworden durch die Ungunst ihrer Lage; gebt ihnen dieselben Entwicklungsbedingungen, wie wir sie haben, und sie werden wie wir, sie sind nicht mehr zu unterscheiden, und ihr seid überrascht, wenn ihr erfahrt, dass es Juden sind.“ Das ist die Botschaft Lessings, die von der einen Seite als trostreiche Verheissung mit Freuden, von der anderen als überkühne Hypothese mit Zweifel und Spott aufgenommen wird. Aber Lessing scheint Recht zu behalten: Er selbst schliesst Freundschaft mit einem Juden, der zwar in seinem Äusseren das Semitische nicht verwischen kann, dafür sich aber geistig mit bewunderungswürdiger Energie aus der Enge des Ghetto herausarbeitet, sich Sprache, Bildung und Form seiner bevorzugten Umgebung zu eigen macht und endlich selbst als ein Vorkämpfer des Humanitätsideals in die Reihen tritt: Moses Mendelssohn. Ein Jude zu sein, dem man es nicht anmerkt, und der dennoch ein guter Jude ist: Das war der Traum, der Juden und Christen entzückte; ihn verwirklicht zu haben, war Mendelssohns grösster Ruhm zu seiner Zeit, und wird, soviel ich sehe, auch heute noch für seine ruhmeswürdigste Leistung gehalten. Wie sollte es anders sein, da doch das Humanitätsideal, wenn auch als ein Ideal längst entwertet, dennoch als praktische Lebensregel bis zum heutigen Tage fortklingt. Denn die Assimilationsbestrebungen und das Assimilantentum sind nichts weiter, als die in die Breite gezogenen, popularisierten und trivialisierten Reste jener vergangenen Weltanschauung. Und dass diese Reste so munter fortleben, und die Anhänger dieser Moral sich nicht verringern wollen, dies ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass in ihrem Namen die Emanzipation der Juden sich vollzogen hat und alles das erreicht worden ist, was wir heute mit Stolz unser eigen nennen: Die Gleichheit vor dem Gesetz und stehe sie auch nur auf dem Papiere.

 Die Anhänger des Assimilationsgedankens aber, auch wenn sie in der Mehrzahl sind, haben heute die Führung verloren und hinken hinter der Entwickelung drein. Sie haben den Geist ihrer neuen Zeit nicht verstanden, sie haben nichts davon gemerkt, dass das Humanitätsideal verblasst ist, dass die Weltlage sich geändert hat, und dass ein neues Lebensprinzip das Scepter führt: Der Individualismus.

 Das Humanitätsideal setzte die natürliche Gleichheit aller Menschen voraus; der Individualismus glaubt an ihre natürliche Verschiedenheit. Jenes hielt die Verschiedenheiten für einen schädlichen Einfluss der Kultur; dieser macht im Gegenteil der Kultur die Gleichmacherei zum Vorwurf. Jenes erwartete von einer ungehemmten Entwickelung das Aufsteigen aller einzelnen zu einem gemeinsamen gleichen Menschentume; dieser fordert dieselbe ungehemmte Entwickelung, um scharf differenzierte Individualitäten zu erhalten. Jenes strebte aus den realen Verschiedenheiten zu einer erhabenen Gleichheit; dieser ringt aus einer trivialen Gleichheit nach erhabener Verschiedenheit. Aber auch der Individualismus hat einen höchsten Vereinigungspunkt: Worin nämlich die differenzierten, ja die entgegengesetzten Individualitäten einander dennoch treffen, das ist ihr Wert. Das Humanitätsideal sah den Wert des Einzelnen in einem höheren Menschentume, das allen gemeinsam ist; der Individualismus sieht ihn in der ausgeprägten Persönlichkeit, die jedem besonders und eigentümlich ist. Das, was den Menschen von allen anderen unterscheidet, was er für sich allein hat, was nur in ihm existiert und mit ihm überhaupt verloren gehen würde, das gibt ihm nach dem individualistischen Lebensprinzip das Recht auf Existenz. Je eigenartiger, unvergleichbarer, ausgeprägter einer ist, desto höher sein Wert als Mensch.

Dass dieses individualistische Prinzip in der Tat das Leben der Gegenwart beherrscht, wird nirgends deutlicher als in den Erscheinungen der Europäischen Politik, indem der Individualismus mit demselben Rechte, mit dem er von den Einzelnen gilt, auf die Gesamtheit der Nation übertragen wird, nun aber in dieser Vergrösserung sich umso überraschender offenbart.*) Das 18. und das beginnende 19. Jahrhundert schuf seine Staaten ohne Rücksicht auf die Nationalitäten, indem bald eine Nation in zwei oder mehr Staaten zerrissen wurde, bald ein Staat mehrere Nationen umschloss. Heute aber ist es die entschiedene Tendenz aller Völker, sich als selbständige Körper zu konstituieren. So hat sich Norwegen von Schweden losgerissen, so erheben in Österreich die Ungarn und Czechen lauten Anspruch auf politische Selbständigkeit, die Polen drängen ungestümer denn je zur Wiederaufrichtung ihrer Herrschaft — und der Antisemitismus steht in voller Blüte.

 Mir scheint, dass für uns Juden keine Erkenntnis wichtiger und segensreicher sein kann, als die, dass mit derselben Notwendigkeit, mit der das Humanitätsideal den Philosemitismus und die Emanzipation den Juden hervorbrachte, jetzt der Individualismus die antisemitische Bewegung erzeugt. Diese Einsicht halte ich deshalb für so wichtig und segensreich, weil aus ihr und nur aus ihr die Taktik erkannt werden kann, mit der wir unseren Widersachern zu begegnen haben.

 Man sieht, dass der Antisemitismus als Äusserung des wachsenden Individualismus nicht auf einer Stufe steht mit den übrigen Beispielen, die ich als politische Folgen dieses Prinzips genannt habe. Bei jenen wurde der schwächere Teil sich seiner Unterlegenheit als einer Schmach bewusst und strebte daher, sich loszureissen und selbständig weiterzuentwickeln. Der Judenhass dagegen geht von der stärkeren Seite aus und drängt zur Ausschliessung des Schwächeren. Nun fehlt es Gott sei Dank nicht an der entsprechenden positiven Bewegung unter den Juden selbst. Der Zionismus ist die entschiedenste. Er ist aber nur eine neben anderen, und ich will als gemeinsamen Namen lieber die Bezeichnung Nationaljudentum anwenden, worunter ich also alle Bestrebungen begreife, die eine Stärkung des Nationalitätsbewusstseins unter den Juden zur Voraussetzung haben.

Wir konstatieren: dass ein Nationaljudentum entstehen konnte, zeigt uns, dass der Individualismus auch auf die Juden seine Wirkung übt. Dasselbe Lebensgefühl, das uns zu Nationaljuden macht, macht die Gegenseite zu Antisemiten. Wir müssten beide nicht Kinder unserer Zeit sein, wenn wir nicht Nationaljuden und jene nicht Antisemiten sein sollten.

*) Anm. Die allgemeine Geltung des individualistischen Lebensprinzips scheint durch die grosse Ausbreitung der Sozialdemokratie widerlegt zu werden. Aber wenn sie auch theoretisch von der natürlichen Gleichheit ausgeht, so stellt sie doch praktisch, nach dem, was sie als Partei wirklich ist, eine so scharf ausgeprägte, wohl organisierte und differenzierte Einheit dar, dass sie im Gegenteil unter die Beispiele für die Herrschaft des Individualismus gerechnet werden kann: nämlich als die Anwendung dieses Prinzips auf die Arbeiterklasse.

Dieses Verhältnis aber ist bis jetzt durchaus nicht begriffen worden. Man fasste vielmehr den Antisemitismus als das Primäre auf, alle Gegenbestrebungen der Juden aber als sekundäre, nur mittelbar hervorgerufene Abwehrbewegungen. Schmach für uns, wenn dem so wäre! Denn dies würde beweisen, dass wir von dem Lebensatem unseres Jahrhunderts, der die Nationen Europas um uns her zu höchster Anspannung ihrer Volkskräfte hinreisst, nicht den leisesten Hauch verspürt hätten. Es würde beweisen, dass wir Juden gänzlich hinter unserer Zeit zurückgeblieben sind. Ich leugne freilich nicht, dass es eine Abwehrbewegung gibt, und noch weniger, dass sie berechtigt ist. Wogegen wir uns nämlich verteidigen müssen, dass sind die Folgerungen, welche die Gegenseite aus ihrem Judenhass zieht. Die Ausschliessung des Schwächeren durch den Stärkeren ist eine Ungerechtigkeit und Vergewaltigung, gegen die uns zu wehren nicht unser Recht, sondern unsere Pflicht ist. Kein Zweifel zwar: Nationaljudentum hüben, Antisemitismus drüben drängen zur Separation. Aber die Lösung muss auf legalem Wege erfolgen; alles was darüber hinaus von der Gegenseite geschieht, ist ein Angriff und ruft uns zur Verteidigung auf.

Hier also gibt es, und zwar mit Recht, eine Bewegung unter den Juden, welche lediglich als Folge des Judenhasses auftritt. Indessen nicht ohne Grund habe ich oben den Antisemitismus vor dem Nationaljudentum genannt; denn als Äusserung des Individualismus hat jener allerdings vor diesem einen Vorsprung. Man vergleiche einmal in unserem Vaterlande die Zahl der Nationaljuden mit der Zahl der antisemitisch Gesinnten; auch prozentualiter wird das Verhältnis für uns ganz ungünstig liegen. Man frage sich ferner, welches denn die allgemeinste und verbreitetste Art ist, den Antisemitismus zu bekämpfen. Sie besteht in dem Versuch, den Gegner mittelst Tatsachen und Schlüssen zu beweisen, dass er uns Unrecht tue, wenn er uns für etwas von ihm Verschiedenes halte. Dieser Versuch ist erstens vergeblich; denn wir können höchstens beweisen, dass wir in unseren christlichen Mitbürgern Menschen sehen, die mit uns gleicher Art sind, nicht aber ihnen dieselbe Ansicht von uns beibringen. Es ist auch unmöglich, eine Empfindung, welche sich auf dem Grunde einer Weltanschauung oder eines Lebensgefühles entwickelt hat, mit logischen Schlüssen zu beseitigen. Der Versuch ist aber zweitens auch verwerflich, denn er verrät, dass die meisten unter uns in der Tat hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind. Von uns als den Unterdrückten müsste der Anstoss zu nationaler Zusammenfassung ausgehen, wir müssten die ersten sein, die den Gegensatz zu unserer nicht¬ jüdischen Umwelt empfinden, wenn wir den Geist unseres Jahrhunderts richtig verstanden hätten. Individualismus der Nationen heisst die Parole; bei ihr unbedingt ist die Entwicklung und der Fortschritt. Dass wir sie nicht hören und für unser Judentum nicht annehmen, trotzdem wir geradezu mit der Nase darauf gestossen werden; dass wir immer noch dagegen rufen: „Ihr irrt euch, wir sind nichts Besonderes!“  das ist eine Schmach, und sie einmal tief gefühlt zu haben, ist der erste Schritt, sie zu tilgen.

Das also ist die Aufgabe: Das deutsche Judentum zu einer Individualität zusammenzuschliessen; die Gesamtheit der deutschen Juden zu einer Persönlichkeit zu machen, damit wir sie als solche empfinden lernen.

 Ich spreche mit gutem Bedacht nur von den deutschen Juden und nicht von der internationalen Judenheit, da ich eine Zusammenfassung der letzteren bei der besonderen Art von Vereinheitlichung, die ich im Sinne habe, augenblicklich noch nicht für möglich halte. Die Juden der einzelnen Länder sind zu sehr von den verschiedenen Kulturgehalten ihrer Heimat erfüllt, als dass sich schon jetzt die Einheit über die politischen Grenzen hinaus herstellen liesse. Der Versuch, sich mitten in der christlichen Umwelt zu einer Individualität zusammenzuschliessen, würde unnötig erschwert werden, wenn es gälte, sich sämtlichen europäischen Kulturen gleichzeitig entgegenzustellen. Lösen wir die Aufgabe für uns Deutsche, und überlassen wir es den Juden der anderen Länder, sie für sich zu lösen. Ist dieses Ziel erreicht, dann wird es an der Zeit sein, eine Einheit über den Einheiten zu erstreben.

Welcher Weg einzuschlagen sei, darüber kann in unserer Zeit der Sozialpolitik ein Zweifel nicht bestehen: Er heisst Organisation. Man hat die Bedeutung dieses Mittels auch bei uns längst erkannt und wendet es immer bewusster auf das Judentum an. Dass es bisher mit grossem Erfolge geschehen sei, dürfte bestritten werden. Gerade die sogenannte Intelligenz, deren Gleichgültigkeit noch nicht um eines Haares Breite erschüttert worden, die vielmehr, mit dem Überlegenheitsbewusstsein des behaglichen Assimilanten begabt, von dem, was vorgeht, zum grössten Teil nicht einmal eine Ahnung hat, beweist schlagend, wie wenig bisher erreicht worden ist.

Ob Organisation für sich überhaupt Erfolg haben kann, erscheint mir sehr zweifelhaft, solange nicht vorher die Grundlage geschaffen wird, auf der allein eine politische Zusammenfassung aller Bildungskreise möglich ist: Die geistige Organisation.

II.

Als im Jahre 1806 Kaiser Franz von Österreich die Deutsche Krone niederlegte und es mit dem heiligen römischen Reiche Deutscher Nation ein für alle Male vorbei war, da wurde damit keineswegs auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zerstört, sondern flammte im Gegenteil, nun die politische Einheit fehlte, nur umso heller auf und loderte fort, bis die äussere Wirklichkeit mit dem inneren Empfinden wieder übereinstimmte. Einem Volke zwar ist es leicht, diese Einheitsempfindung zu wahren, wenn es nämlich eine gemeinsame Sprache spricht. Nun ist aber die Sprache an sich nur etwas Äusserliches und hat ihre einigende Wirkung offenbar nur dadurch, dass sie eine Gemeinsamkeit der Interessen ermöglicht und herstellt. Die gemeinsame Sprache ist nur die Grundlage und der Anstoss für eine geistige Organisation. Das aber, was beim Fehlen des äusseren Bandes dennoch die Glieder eines Volkes zu einer Gesamtheit macht oder als solche erhält, wie in dem angeführten naheliegenden Beispiel aus der Geschichte, ist eben die geistige Organisation.

Den Juden in Deutschland nun fehlt die Verbindung von aussen her; denn ihre gemeinsame deutsche Sprache teilen sie gerade mit den Gegnern. Die Religion aber, obgleich sie nur ihnen eigen ist und sie von ihren Mitbürgern deutlich sondert, wirkt heute nicht mehr als einigendes Prinzip, weil unsere Zeit unreligiös ist. Da wir ferner nicht mehr im Ghetto wohnen, noch auch ein gelbes Abzeichen am Kleide tragen, so ist es für uns freilich besonders schwierig, den Anschluss aneinander zu finden. Gelänge es nun, trotzdem eine lebendige geistige Organisation unter den deutschen Juden herzustellen, so könnte der Erfolg nicht ausbleiben, und der politische Zusammenschluss zu einer eigenen Individualität müsste erfolgen. Oder besser, — um nicht missverstanden zu werden, — die geistige Organisation selbst wäre schon der politische Zusammenschluss, sie wäre die Erfüllung der individualistischen Zeittendenz, sie wäre eben das, was wir oben als unsere Aufgabe bezeichnet haben. Ob dem alsdann eine politische Aktion entsprechen werde und welche, können wir weder wissen, noch braucht es uns heute schon zu kümmern.

 Es handelt sich also darum, bewusst und künstlich jene Einheit der geistigen Interessen unter den deutschen Juden hervorzubringen, welche bei anderen Nationen natürlich und unbewusst durch die blosse Sprachgemeinschaft hergestellt wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig, Mittel und Wege zu finden, um alle geistigen und kulturellen Bestrebungen und Leistungen der deutschen Juden den Glaubensgenossen als speziell jüdische Arbeit ins Bewusstsein zu rufen. Es gilt, eine Institution zu schaffen, die es ermöglicht, den jüdischen Anteil am kulturellen Fortschritt jederzeit zu übersehen und zu einem lebendigen Bewusstseinsinhalt aller deutschen Juden zu machen. Nun sind freilich unsere Kulturinteressen von denen unserer Umgebung im Grossen und Ganzen keineswegs verschieden, und es scheint, als ob mit dieser Einrichtung nicht viel geholfen wäre. Aber eben das Fehlen besonderer jüdischer Kulturinteressen ist mit dem Fehlen einer geistigen Einheit identisch. Geistige Organisation der Juden herstellen, heisst nichts anderes, als gesonderte jüdische Kulturinteressen schaffen. Oder endlich: Die Tendenz unserer Zeit zur Individualisierung der Nationen stellt uns Juden eben die Aufgabe, ein jüdisches geistiges Arbeitsgebiet zu finden, welches sich dem unserer christlichen Mitbürger deutlich unterschieden gegenüber und zur Seite stellt.

Erörtern wir zunächst die Möglichkeit dieser jüdischen Kulturinteressen auf dem Gebiete der Wissenschaft, so wird man sagen, dass es eine jüdische Wissenschaft nur geben könne, insofern sie Wissenschaft vom Judentume sei. In der Tat eröffnet sich hier ein wichtiges Arbeitsfeld, das, gehörig bestellt, die reichsten Früchte zu tragen verspricht. Und zwar hat die Wissenschaft vom Judentum, wie mir scheint, die grosse Aufgabe, endlich einmal die Bedeutung der Juden für die Entwicklung der gesamten menschlichen Kultur zu erforschen und darzustellen. Eine Weltgeschichte unter dem Zeichen des Judentums muss und wird einmal geschrieben werden.

Dieses Sondergebiet indessen wird für sich allein von keinerlei Bedeutung für die Individualisierung der Juden sein, wenn es nicht gelingt, eine jüdische Wissenschaft auch in anderem Sinne zu gründen. Es gibt freilich keine jüdische Wahrheit, die von derjenigen anderer Nationen verschieden wäre. Wohl aber gibt es oder kann es geben wissenschaftliche Forschungsgebiete oder Methoden, welche aus inneren oder äusseren Gründen den Juden reserviert bleiben. So ist z. B. die vergleichende Sprachwissenschaft und die Neuphilologie überhaupt eine ausgeprägt deutsche Wissenschaft, vielleicht infolge des äusseren Umstandes, dass ihre Gründer zufällig Deutsche waren und natürlich am meisten in Deutschland Schule machten. Vielleicht aber ist ein innerer Zusammenhang wirksam, indem die besondere Methode dieser Disziplin Fähigkeiten erfordert, welche den Deutschen vor allen anderen eigen sind. In diesem Sinne also könnte auch eine jüdische Wissenschaft entstehen, und es ist unsere Aufgabe, daraufhin zu wirken. Freilich lässt sich unser Gebiet nicht mit bewusster Überlegung finden noch etwa nach gegenseitiger Verabredung festlegen. Alles, was wir tun können, ist, dass wir die gesamte, von Juden geleistete wissenschaftliche Arbeit in irgendeiner Institution zusammenfassen und als jüdische Leistung zum Bewusstsein bringen. Wenn überhaupt eine jüdische Wissenschaft möglich ist, so wird sie sich dann von selbst entwickeln. Es wird sich nämlich auf Grund dieser Zusammenfassung herausstellen, dass gewisse Gebiete besonders oft und mit besonderem Erfolg von Juden bearbeitet sind. Es werden daraufhin die Juden auf nichtjüdischer Seite einen Ruf als Spezialisten für dieses Gebiet oder diese Methode erwerben, dagegen wird auf unserer Seite der Ehrgeiz geschürt, diesen Ruf zu rechtfertigen. Es wird alsdann ein Vorzug sein oder wenigstens einen bestimmten Sinn haben, wenn jemand als Jude in der Wissenschaft auftritt. Bei den ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten unseres Volkes bin ich überzeugt, dass es nirgends so leicht sich zu einer Individualität entwickeln kann, wie auf dem Gebiete der Wissenschaft.

 Wir reihen hieran, bevor wir zur Betrachtung der Kunst übergehen, die Kritik. Hier gibt es schon fast so etwas wie ein jüdisches Sondergebiet. Oder besser: Die Kritik überhaupt ist beinahe zum jüdischen Sondergebiet geworden. Es wird diese Tatsache bis jetzt freilich als ein Vorwurf von der Gegenseite behauptet. Jedoch mag das Judentum in der Kritik sich in sympathischer oder unsympathischer Weise äussern: daran lässt sich nicht zweifeln, dass, wo überhaupt Eigentümlichkeiten zu bemerken sind, sie zu einem Vorzug entwickelt werden können. Haben wir also eine besondere Art jüdischer Kritik, so lässt sich daraus Nutzen ziehen. Nur ist notwendig, dass der jüdische Kritiker sich auch als Juden gibt und als solcher erkannt wird. Auch hier wieder handelt es sich darum, eine Institution zu schaffen, mit deren Hilfe das Wirken der jüdischen Kritiker zu übersehen ist. Auf diese Weise kann sich eine jüdische Publizistenschule entwickeln, deren unterscheidende Kennzeichen sicher auch ihr besonderer Ruhm sein werden. Alsdann wird man es sich zur Ehre anrechnen, jüdischer Kritiker zu sein, während heute gerade diese Kreise zu den fanatischsten Assimilanten gehören. Oder ist es nicht bezeichnend, dass just aus ihrer Mitte ein Protestruf gegen die jungjüdische Literatur erschollen ist? Aber die Herren sind wahrlich in einer peinlichen Lage. Sie waren so stolz darauf, dass sie, die Enkel von Ghettojuden, heute, ohne eine Spur der urväterlichen Beengtheit an sich zu tragen, ihrer Zeit mit der modernsten Kultur vorangingen; wie muss ihnen zu Mute sein, wenn plötzlich die allermodernste Kultur eben im Ghetto erblüht? Das haben sie freilich nicht erwartet.

Jedoch wenden wir uns zur Kunst und damit zu demjenigen Teil geistigen Schaffens, von welchem zu guter Letzt das Heil zu erwarten ist.

 Bereits Richard Wagner schrieb einen hasserfüllten Aufsatz gegen das Judentum in der Musik. Daraus können wir zum Mindesten die eine wichtige Tatsache entnehmen, dass er aus der Musik der Juden das Nationale herausgehört hat. Es gibt also jüdische Musik, und das ist kein Wunder, da wir doch französische, russische, italienische deutlich unterscheiden. Die jüdischen Eigentümlichkeiten der tönenden Kunst zu Werten zu steigern, das freilich ist die Aufgabe; wenn sie aber erfüllt worden, so ist kein Zweifel, dass man sie auch als Werte empfinden und anerkennen wird; denn in der Kunst ist das Suchen und Finden von Ausdrucksformen für eine Individualität stets das letzte Ziel und der höchste Gewinn allen Strebens.

Vielleicht ist bei der Musik, als der am wenigsten stofflichen Kunst, der Hinweis auf ein jüdisches Stoffgebiet nicht unwillkommen. Ich meine nämlich, dass die jüdische Musik einen starken Aufschwung nehmen würde, wenn sich jüdische Komponisten entschlössen, für alte gottesdienstliche Zeremonien neue Melodien zu erfinden. Man könnte dieses im grössten Stile betreiben und z. B. die Liturgie des Versöhnungstages einheitlich durchkomponieren. Erinnern wir uns, wie Bach mit seinen Passionen eine protestantische Musik geschaffen hat. Das Ideal einer jüdischen Messe, wenn der Ausdruck gestattet ist, schwebt mir vor. Freilich weiss ich, dass es nicht von heute zu morgen erreicht werden kann, und dass die Erfüllung überhaupt nicht von Zeitungsartikeln, sondern von dem musikalischen Genie zu erwarten ist. Möge es unserem Volke beschert werden!

 Was soll ich von den übrigen Künsten sagen, das sich nicht jeder Nachdenkende aus dem Vorstehenden selbst ableiten könnte? Nur bei der Dichtung will ich verweilen; denn sie ist für unsere Zwecke das wichtigste Kampfmittel, nämlich dasjenige, welches am meisten propagierende Kraft hat.

 Wir können über die Möglichkeit einer jüdischen Kunst nirgends gewisser sein als im Gebiete der Literatur; denn wir Deutsche haben einen grossen jüdischen Dichter bereits gehabt; ich spreche von Heinrich Heine.

Es würde schwer halten, die Frage treffend zu beantworten, was an Heines Kunst denn jüdisch sei. Dass jüdische Kunst nicht identisch ist mit jüdischen Stoffen, das wird jedem geläufig sein, der sich je mit ästhetischen Dingen beschäftigt hat. Goethes „Iphigenie“ und Schillers „Jungfrau von Orleans“ sind darum nicht weniger deutsche Werke, weil jenes in Griechenland und dieses in Frankreich spielt. Es sind also der „Rabbi von Bacharach“ oder der „Jehuda ben Halewi“ ebensowenig für das Jüdische in Heines Kunst heranzuziehen, wie die „Disputation“, die „Bäder von Lucca“ oder dergleichen etwas dagegen beweisen. Die Aufgabe, Heines Werke auf ihre jüdischen Elemente hin zu untersuchen, so verlockend sie ist, liegt hier nicht auf unserem Wege. Wir brauchen das auch nicht, denn wir haben für die Existenz dieser Elemente einen bequemen und schlagenden Beweis: Den Hass der Gegner. Nehmen wir nicht Teil an der fruchtlosen Übertreibung, aus dem, was sich zum Schaden Heines des Juden regt, schlechtweg auf den Tiefstand der deutschen Kultur zu schliessen. Halten wir uns an die ehrlichen unter seinen Widersachern, und glauben wir ihnen aufs Wort, dass Heine ihnen unsympathisch sei wegen seiner undeutschen, nationaljüdischen Eigenschaften. Wir dürfen es ihnen gerne glauben, denn es ist sein Ruhm. Dass er die Religion gewechselt hat, wer wollte es wagen, mit ihm darüber zu rechten? Jeder Künstler braucht, mehr als jeder andere Mensch, für seine individuellen Kämpfe den Grund eines unerschütterten Nationalstolzes. Darf man sich wundern, dass er diesen Stolz in seinem Judentum nicht fand? Wieviele gibt es denn, die heute in diesem Gefühle fest sind? Darf man sich wundern, dass er ihn zu finden hoffte, indem er auf die Seite der Bevorzugten übertrat? Er ist dennoch Jude geblieben; die Zahl seiner Feinde bezeugt es. Wir aber sollen ihn endlich als den Unsrigen anerkennen! Wir sollen uns seiner freuen als des ersten grossen jüdischen Dichters in Deutschland. Beklagen wir es, dass es ihm nicht vergönnt war, auch in seinem Bewusstsein ungeteilt Jude zu sein. Aber hören wir endlich auf, von den Deutschen zu verlangen, sie sollen ihm ein Denkmal setzen. Wehe ihm und uns, wenn sie sich dazu bereit fänden! Dann wäre er wirklich ein Abtrünniger gewesen.

Heines Stellung zu seinem Volke jedoch ist nicht ohne üble Folgen geblieben, oder vielmehr, die guten Folgen, die seine Bedeutung hätte haben können, sind dadurch zu nichte gemacht worden.

Das Individualitätsbewusstsein eines Volkes, die geistige Organisation, nach der wir streben, kann durch nichts so leicht und sicher hergestellt werden, wie durch einen grossen Dichter. So haben unzweifelhaft Goethe und Schiller um die Einigung des Deutschen Reiches ein mindestens ebenso grosses Verdienst wie Bismarck. Wenn jene nicht den Grund gelegt hätten, dieser hätte nimmer den Bau vollenden können. Und man darf getrost behaupten, dass das Bewusstsein und der Ehrgeiz, mit Goethe eines Volkes zu sein, die geistige Einheit und damit die Einheit überhaupt unter den deutschen Stämmen bewahren wird für alle Zeiten und über allen Wechsel der politischen Verhältnisse hinweg.

 Diese einigende Wirkung nun, die Heine seiner künstlerischen Bedeutung nach für die deutschen Juden hätte üben können, ist ausgeblieben wegen seines zwiespältigen Menschentumes und der daraus folgenden schwankenden Stellung zu seinem Volke. Einem anderen ist diese Mission vorbehalten. Wir erwarten diesen Einen, und die Erkenntnis, dass wir ihn brauchen, ist augenblicklich unsere tiefste Weisheit. Die Zeit und die Lage, so sahen wir, fordern die Individualisierung der deutschen Juden; die Grundlage ist der geistige Zusammenschluss; von allen geistigen Gebieten hat die grösste einigende Kraft die Kunst, und unter allen Künsten wieder die Dichtung. Vielleicht darf man den Kreis noch enger ziehen und die Erlösung letzten Endes vom Drama erwarten.

Ein Goethe der Juden in Deutschland — so möchte ich die Persönlichkeit bezeichnen, die uns not tut. Hätten wir sie, so hätten wir die geistige Organisation, so wären wir deutschen Juden eine Individualität, so würden wir uns als solche fühlen und als solche geachtet werden. Ich weiss, dass die klarste Erkenntnis von der Notwendigkeit dieser Erscheinung nicht im Stande ist, sie hervorzubringen; aber diese Einsicht kann uns den Boden bereiten helfen. Das Genie wird erst hervorgehen aus einer Generation von Gleichstrebenden. Es muss schon eine jüdische Literatur in Deutschland geben, damit ein grosser Dichter die günstigen Entwickelungsbedingungen findet.

An die Produktiven unter den deutschen Juden ergeht daher der Ruf. Ob sie etwas leisten, und ob sie dieses als Juden leisten und als Juden einen Ruf erwerben, davon allein hängt es ab, ob die Bestrebungen nach Wiedererweckung des jüdischen Volksbewusstseins in Deutschland Erfolg haben oder nicht. Und ich prophezeie: Gelingt es der jetzt lebenden und strebenden Generation nicht, zugleich als Juden und als Künstler, nicht nur unter den deutschen Juden, sondern unter den Deutschen überhaupt, sich durchzusetzen und einen Platz im modernen Geistesleben zu erobern, so verläuft die ganze sogenannte jüdische Renaissance spurlos im Sande. Gelingt es ihr aber, so hat das Nationaljudentum gesiegt, und die traurige Zeit der Assimilation ist vorüber.

III.

Indem ich nun dazu übergehe, aus den theoretischen Prämissen die praktischen Folgerungen zu ziehen, so bin ich auf den Vorwurf gefasst, dass das, was ich denn nun tatsächlich an realen Vorschlägen zu machen weiss, zu den langen Erörterungen in keinem rechten Verhältnisse stehe. Indessen hier handelt es sich nicht darum, dem staunenden Auge des entzückten Lesers schimmernde Luftschlösser einer schmeichelhaften Zukunft vorzugaukeln, sondern nüchtern Dinge anzuraten, welche Aussicht auf Verwirklichung haben. Wir wollen uns aber erinnern, dass wir erst am Anfang einer Entwickelung stehen und wollen den Bau nicht mit dem Dache beginnen.

Ich schlage also vor, ein Jahrbuch zu begründen, welches etwa den Titel tragen könnte: „Jahrbuch für jüdische Kultur in Deutschland,“ oder ähnlich. Dieses Jahrbuch hätte die Aufgabe, ein Compendium zu sein der gesamten geistigen Produktion der deutschen Juden. Es zerfiele in drei Teile. Der erste enthielte eine vollständige Bibliographie alles dessen, was von deutschen Juden in dem vorangehenden Jahre veröffentlicht worden ist. Wissenschaftliche und kritische Schriften müssten hier ebenso verzeichnet sein wie Werke der schönen Literatur; Leistungen in der Musik, in den bildenden Künsten, in der Architektur ebenso wie Erfolge der Technik, Entdeckungen, Erfindungen.

 Ob die Arbeiten jüdische Interessen zum Gegenstand haben, ist in dieser Bibliographie natürlich ganz gleichgiltig. In einem Anhang aber könnte man Veröffentlichungen über Juden und Judentum, von wem auch immer sie stammen, zusammenstellen.

Der zweite Teil soll kritischer Art sein. Ihm fällt die Aufgabe zu, die wichtigeren Erscheinungen zu rezensieren, von ihnen in grösserem Zusammenhange Bericht zu geben — da der Einzelne, der sich unterrichten will, unmöglich alles selbst lesen kann — und endlich das Geleistete von einer höheren Warte und in Verbindung mit dem gesamten deutschen und europäischen Kulturleben zu betrachten und zu würdigen.

Kein Fehler liegt hier so nahe und wäre zugleich so verhängnisvoll wie die Überschätzung der jüdischen Leistungen im Vergleich mit denen unserer Mitbürger. Er würde uns unweigerlich der Lächerlichkeit preisgeben und gerade die besten Kräfte fernhalten, statt sie heranzuziehen. Im Übrigen dürfte die Abfassung dieses Teils an Arbeit, Wissen und Können die grössten Anforderungen stellen; der Wert einer solchen fortlaufenden Geistesgeschichte aber kann unermesslich sein.

Endlich der dritte Teil; er liegt mir vor allem am Herzen und von ihm zumeist erwarte ich eine Wirkung nach aussen. Was der erste tabellarisch trocken zusammenstellte, was der zweite kritisch behandelte, das soll der dritte unmittelbar zeigen. Die bedeutendsten Kunstschöpfungen der deutschen Juden, welche im vergangenen Jahre entstanden sind, sollen hier dargeboten werden. Er soll mit Kunstblättern ausgestattet sein; den Hauptraum aber werden hier dichterische Werke einnehmen. Und zwar sollen nicht etwa Proben aus der literarischen Ernte aufgetischt werden, sondern die betreffenden Dichtungen sollen hier vollständig und zum ersten Male ans Licht treten. Dabei wird es sich leicht ereignen, dass der Raum eines Jahrbuches überschritten werden müsste. Es wird sich also empfehlen, Werke grösseren Umfanges für sich erscheinen zu lassen unter der Bezeichnung: „Herausgegeben vom Jahrbuch für jüdische Kultur.“ Verfügt der zu gründende Verlag über genügende Mittel, um diese Ausgaben besonders wohlfeil abgeben zu können, so wird der Sache selbst wie den Autoren damit nur gedient sein.

Dass bei der Entscheidung über die Aufnahme eines Werkes der höchste künstlerische Massstab angelegt werde, ist die erste Bedingung für den Erfolg, für jenen Erfolg nämlich, der nicht dem Geldbeutel des Verlegers, sondern der Idee der geistigen Organisation des Judentums zu gute kommt. Es handelt sich nicht darum, jedem dichtenden Nationaljuden zum Worte zu verhelfen sondern; die Aufgabe ist gerade, die begabten Indifferenten zu gewinnen. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Auswahl so getroffen wird, dass es eine Ehre ist, und zwar eine künstlerische Ehre, in dem jüdischen Jahrbuche zu erscheinen. Es geht also keineswegs an, dass die brave nationaljüdische Gesinnung einer Arbeit ihren ästhetischen Dilettantismus vergessen mache. Es liegt überhaupt nichts daran, ob jüdische oder nichtjüdische Stoffe behandelt werden. Die Beschränkung auf jene scheint mir der Fehler aller bisherigen ähnlichen Versuche zu sein. Es gilt, sich einen Platz in der Literatur zu erobern, und da kommt es lediglich auf die künstlerische Bedeutung und nicht auf den Partei- oder Tendenzwert an. Nur wenn sich wirklich die besten Produktiven der deutschen Juden in diesem Jahrbuch vereinigen, kann ein Zusammenschluss der Geister erfolgen, kann sich — wenn man den Ausdruck nicht missverstehen will, — eine Art jüdischer Dichterschule in Deutschland bilden. Man denke an die Sturm- und Drangzeit, an die Romantik, an das junge Deutschland, um sich zu vergegenwärtigen, was hier unter „Schule“ gemeint ist. Ich glaube, dass sich überall junge Kräfte regen, die zu dieser Partei der Geister hinstreben. Sollte dennoch der Ertrag an Gutem im Anfange spärlich sein, so veröffentliche man wenig, fehlt er ganz, so gebe man garnichts heraus. Was dieses Jahr nicht bringt, kann im nächsten oder übernächsten Jahre vorhanden sein. Bleiben die grossen Leistungen ganz aus, so wird man den Mangel nicht dadurch beseitigen, dass man Mittelmässiges für gut erklärt. Sollte die schöpferische Kraft unter den deutschen Juden nicht hinreichen, Kunst werte hervorzubringen, nun, so müssen wir schweigen; so haben wir uns in unserem Volke getäuscht.

 Mir ist aber nicht bange, dass es so kommen könnte.

Die Konstitution des Jahrbuches erfordert einen erfahrenen Leiter und einen Stab begabter, kenntnisreicher und arbeitswilliger Mitarbeiter. Sie fordert Opferwilligkeit; denn es wird nötig sein, sich gegen Gleichgültigkeit, Spott und alle Arten von Feindseligkeiten in geduldiger Kleinarbeit durchzusetzen. Sie erfordert aber vor allen Dingen Geld. Ohne eine finanzielle Fundierung, welche das Unternehmen aller Rücksichten auf den buchhändlerischen Erfolg überhebt, ist das Jahrbuch ein totgeborenes Kind. Ich vertraue aber auf die Grossherzigkeit, den Gemeinsinn und — die Geldkraft der deutschen Juden, sodass die Gründung, wenn sich nur sonst die rechten Männer finden, an dieser Klippe nicht scheitern wird. Das Jahrbuch ist nur ein Anfang. Es ist leicht, eine Reihe weiterer Gründungen und Institutionen sich vorzustellen und sich die Zukunft in lockenden Farben auszumalen. Ich überlasse es der Phantasie des Lesers; ich stelle es auch dem Belieben eines jeden anheim, wie er sich das politische Resultat denken will, nachdem die geistige Organisation erreicht sein wird. Ob es zu einer Staatenbildung kommt, wie der Zionismus hofft, ob eine organisierte Partei entsteht, wie die Sozialdemokratie es ist, ob sich eine gesellschaftliche Kaste bildet, wie sie heute der Offizierstand darstellt — möge jeder das erwarten, was ihm das liebste wäre. Es wird die Sorge der Enkel sein. Unsere Sorge aber ist es, den Anfang zu machen und den Grund zu legen.

Die Zeit des Individualismus wird vorbeigehen, wie bisher alle solche allgemeinen Lebensideale überwunden worden sind. Aber was in dieser Weltanschauung und aus ihr geleistet worden ist, das wird bleiben oder fortwirken auf die, die danach kommen, und wird ihnen helfen, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen der Geist ihrer Zeit stellt. Was aber versäumt worden, trotzdem es in der Zeit lag, das ist ein für allemal versäumt und bleibt eine Schuld, die sich nicht mehr tilgen lässt. Hüten wir uns, diese Schuld auf uns zu nehmen! Hüten wir uns, den Ruf nach Individualisierung, den unser Jahrhundert erschallen lässt, und den die Nationen um uns her vernehmen, für uns selbst zu überhören oder nicht zu verstehen! Und greifen wir dort zu, wo wir deutschen Juden das Zeitideal verwirklichen können: In der geistigen Organisation.

Leipzig 1874.

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Leipzig 1870.

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 Zur Biographie: Sammy Gronemann

In: Die Stimme, 9. Jahrgang, Ausgabe 529 vom 06.03.1936, S. 5 / Ausgabe 530 vom 10.03.1936, S. 3

[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3053752]

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„Nicht so eilig, Herr Sanitätsrat — einen Moment müssen Sie mir schenken !“ 

Der alte Arzt, der in seiner hastigen Art aus der Haustür gefahren und in scharfem Winkel nach rechts abgebogen war, drehte sich unwirsch ob der Störung um. Aber als er in das mild lächelnde Antlitz des Rabbiners sah, kehrte er doch um. „Ich bin etwas eilig, Herr Rabbiner “, knurrte er nicht sehr freundlich , „meine Patienten warten — “.

„Ich will Sie nicht lange aufhalten “, sagte der Rabbiner lächelnd , dem Ungeduldigen die Hand schüttelnd . „Es scheint doch, Sie kommen von dem alten Chaim, zu dem ich gerade will.“

„Ablösung vor!“ knurrte der Alte. „Das hat gerade noch gefehlt — übernehmen Sie doch ganz die Behandlung !“ 

„Warum so zornig ?“ fragte der Rabbiner freundlich , an die brüske Manier des Arztes gewöhnt . „Meinen Sie, daßmein Besuch dem Kranken schaden kann ? — Wie geht es ihm?“

„Schaden ! — Was soll da viel schaden !— Achtzig Jahre ! — Aber eigensinnig wie ein Kind . — Kann der Mann nicht wenigstens anständig nach meinen Verordnungen leben oder sterben — aber nein — natürlich , Ihre Fakultät hat’s besser!“

„Was denn? Was denn? Ich verstehe kein Wort !“

„Hatte ich da ein paar Anordnungen wegen der Diät gegeben — die Pute — die Nichte — wie heißt sie — die Hurtig — muß ihm verraten, daß nicht alles nach den rituellen Rezepten des alten Moses bereitet ist — macht er den größten Skandal und weigert sich —“.

„Ja — ein wirklich frommer, gottesfürchtiger Mann, der alte Chaim. Gott erhalte ihn !“

„Wird ihn sehr bald erhalten, wenn er so fortfährt . Ich habe ihm auch das Fasten am Versöhnungstag verboten. Meinen Sie, er hat gegessen ? — Durchgefastet! Ist ihm übrigens ganz gut bekommen ! — Aber ein Patient hat zu parieren !“

„Und wie geht es ihm jetzt ?“

„Exitus —- kann jeden Moment eintreten — kann aber auch Tage lang auf sich warten lassen und länger. Ein zäher Braten!“ „Vertrauen wir auf Gott!“ sagte der Rabbiner. 

„Das ist Ihr Ressort !“ rief der alte Arzt. „Gehen Sie rauf , und verarzten Sie ihn nach himmlischen Methoden. Ich muß zu meinen Patienten , sonst werden die mir noch inzwischen gesund . Hab’ die Ehre !“ 

Der Rabbiner blickte ihm lächelnd nach, wie er in seinem komischen Trab davoneilte. Dann stieg er die Treppen zur Wohnung des alten Chaim hinauf. — Er betrat das Krankenzimmer auf den Zehenspitzen. Der alte Chaim lag , auf dem Kopf das schwarze Käppchen, halb sitzend im Bett. Die Augen hatte er geschlossen. An dem kleinen Tischchen neben dem Bett, das die Reste des Frühstücks trug , hantierte Fräulein Hurtig , die nicht mehr jugendliche Nichte des Alten. 

„Wie geht es unserem lieben Patienten ?“ fragte der Rabbiner , ihr die Hand schüttelnd.

„Unverändert , Herr Rabbiner “, sagte Fräulein Hurtig und nahm ihm Hut und Schirm aus der Hand . „Er hat wieder mit dem Arzt herumgestritten .“

„Nun, das ist ja ein gutes Zeichen“, sagte der Rabbiner, aus der hinteren Rocktasche ein schwarzes Käppchen holend und es sich aufsetzend . „So lange der Mensch sich ärgert — hat er noch Lebenskraft .”

„Recht haben Sie“, sagte der Alte, die Augen aufschlagend . „Aber was versteht so ein neumodischer Doktor! Mit Ihnen kann man sprechen — setzen Sie sich zu mir !

Der Rabbiner holte sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich dicht zu dem Kranken. Wohlgefällig weilten seine Augen auf den beiden Beuteln mit Gebetmantel und Gebetriemen, die zur Seite lagen und deren Anwesenheit bewies, daßder Kranke auch heute sein Morgengebet in vorgeschriebener Weise erledigt hatte. 

„Tina“, sagte der Alte. „Ich muß mit dem Rabbiner reden . Laß uns allein !“ Fräulein Hurtig zögerte.

„Ja, Onkel “, sagte sie. „Ich habe hier so ein schönes Stück Huhn. Der Doktor hat gesagt-”

„Der Doktor weiß viel!“ brummte der Alte. „Jetzt will ich reden und nicht essen! Na — stell ’s hin, mein Kind. — Nicht auf den Tisch –  es kann , Gott behüte , die Butter ’rankommen . — Hierher aufs Bett . — So — nun geh schon !“ 

Die Nichte verschwand , und es trat eine lange Stille ein. Der Kranke hatte wieder die Augen geschlossen . — Der Rabbiner sah ihn unschlüssig an. Allzuviel Zeit hatte er nicht — er mußte sich noch zur morgigen Trauung vorbereiten . Ganz wider seinen Willen aber kamen ihm auch Überlegungen, was er am Grabe des frommen alten Mannes sagen würde , der hier vor ihm lag . — Mit einer gewissen Ergriffenheit hörte er sich von diesem seinem letzten Besuche erzählen, wie bis zuletzt der alte Mann noch an die Beobachtung aller religiösen Pflichten gedacht hatte . War es nicht ein rührendes und erhebendes Beispiel für das jüngere Geschlecht, wie unser heimgegangener Bruder — 

„Nu, woran denken Sie?“ fragte auf einmal Chaim und schlug die Augen auf. Der Rabbiner fuhr zusammen. „Ich dachte — ich denke “, sagte er, sich zusammennehmend , „welch ein gesegnetes Leben Sie hinter sich haben , mein lieber Freund. Der Barmherzige wird Sie genesen lassen und Ihnen noch lange Jahre schenken — so hoffe ich und bete ich . Aber noch. — wahrlich ein Jude , der wie Sie mit solcher Zuversicht, solchem Vertrauen , solcher Reinheit vor das Antlitz des Allerhöchsten treten kann, ist zu beneiden und zu bewundern. Möge uns allen der Selige —“

Er hielt entsetzt inne . Aber der Alte hatte nichts gemerkt.

„Nu“, sagte er, „ich glaube selbst, ich bin ein ganz anständiger Mensch gewesen. Es ist mir auch gar nicht einmal so schlecht gegangen — nu — manchmal hab’ ich mich gequält . — Was Schlechtes hab’ ich nie tun wollen! Zu bereuen habe ich nichts !“ 

„Jeder von uns ist ein Sünder “, sagte der Rabbiner sanft . „Aber wenn schon der Sünder die Gnade erwarten kann — kehr um, einen Tag vor deinem Tode, heißt es und es wird dir vergeben — der himmlische Lohn — .“

„Einen Tag vor dem Tode ?“ Chaim sah den Rabbiner unruhig an. „Das ist genug? Also, wenn einer das ganze Lebern gesündigt hat und am letzten Tag wird er ein anständiger Mensch — nu, Kunststück — wenn er daliegt — ein alter Mensch — was soll er nicht sein anständig! Soll er mal probieren zu sündigen ! Kunststück ! — Dann soll er ebenso belohnt werden wie Einer , der sich das ganze Leben gequält hat und ist — nebbich — gewesen immer anständig ?“ 

Der Rabbiner sah verdutzt drein . „Was kümmern uns die Sünder ?“ sagt er. „Das mit der ewigen Liebe und Gnade, — das ist eine schwere Sache. — Aber die Gerechtigkeit des Barmherzigen —“

„Das ist ’ne Gerechtigkeit !“ Der alte Chaim schien unzufrieden . „Nu“, sagte er, nachdem er noch Etliches unverständlich vor sich hingebrummt hatte , „vielleicht versteh’ ich das nicht . Aber belohnt wird er auch nicht — wie der Fromme. Wofür soll er belohnt worden? Er wird nur nicht bestraft .“ 

Die Lösung , die er gefunden hatte , gewährte ihm offenbar große Befriedigung. 

„Richtig “, sagte der Rabbiner lächelnd und erstaunt über die einfache Lösung dieses schweren metaphysischen Problems. „So ist es. Die himmlische Belohnung wird den wahrhaft Frommen vorbehalten . Solchen Männern , wie Sie es waren , wie Sie es sind, lieber Freund !“

„Einen Tag vor dem Tode umkehren“, brummte der Alte, wieder in Zweifel verfallend. „Aber, sagen Sie, Herr Rabbiner — dafür sind Sie doch ’n gebildeter Mann, Sie kennen doch die Schriften. Es ist wirklich so? Die schlechten Menschen kommen ins Gehinnem, Hölle heißt das — also wenn sie nicht umgekehrt sind einen Tag vor dem Tode — und die Frommen kommen ins Ganeden, heißt das Paradies , und essen vom Fisch Leviathan und sitzen mit Abraham, Isaak und Jakob am goldenen Tisch ? Häh ?“ 

Er sah den Rabbiner ernsthaft an. Dem wurde etwas unbehaglich. 

„Wissen Sie, lieber Freund “, sagte er, „die Hauptsache ist doch jetzt, daß Sie gesund werden . Wir werden noch Zeit haben, uns über diese Frage auszusprechen.“ 

Der Alte schüttelte unzufrieden den Kopf. „Lassen Sie, Herr Rabbiner “, sagte er, „ich habe keine Zeit. Antworten Sie mir !“

Der Rabbiner räusperte sich. „Lieber Freund “, sagte er, „an ein ewiges Leben — an ein Leben im Jenseits — an ein Fortleben der Seele nach dem Zerfallen des Körpers glauben wir natürlich . Ob das mit dem Feuer in der Hölle nun so stimmt , so wörtlich , meine ich, oder mit dem Speisen des Leviathan —“ er hielt inne. Jetzt mit dem alten Chaim in eine Diskussion über diese Probleme einzutreten, war vielleicht nicht angebracht . Möge der alte Herr nur bei seinen kindlichen Vorstellungen bleiben!

„Eins ist sicher “, sagte er. „Es gibt eine himmlische Gerechtigkeit . Auf Erden geht es manchem Frevler gut und manchem Frommen schlecht . Es gibt eine Vergeltung im Jenseits. Dort erwartet den Gerechten sein himmlischer Lohn. Jedes gute Werk, das hier ein Mensch tut , wird ihm dort hundertfach vergolten .“ 

Der alte Chaim bewegte sich unruhig. „Was heißt das: hundertfach ?“ sagte er. „Das soll also heißen : Wenn ich einem Armen gegeben habe 50 Pfennig , soll ich wiederbekommen 50 Mark ? So sagen Sie?“ 

Der Rabbiner lächelte, „Lieber Freund “, begann er milde. „So einfach —“ 

„Lassen Sie“, der alte Chaim winkte ab und begann an den Fingern zu rechnen. „Das sind : 100 Prozent sind eine Mark ; zwei Mark sind schon 300 Prozent , dann sind zehn Mark 1900 Prozent und fünfzig Mark 9900 Prozent — neuntausendneunhundert Prozent — das ist doch —“

„Aber Herr Chaim, lieber Freund !“ Der Rabbiner sah sich unruhig nach der Tür um. „Was rechnen Sie da? Es ist doch —“ 

„Lassen Sie!“ Chaim winkte ungeduldig. „Es kommt doch natürlich darauf an“, sagte er, die Augen zusammenkneifend , „wann ich die fünfzig Pfennig gegeben habe. Wenn ich sie gegeben habe als junger Mensch, ist es anders, als wenn ich schon alt war . Es gehen doch die Zinsen ab — richtige Zinsen — nur zu fünf Prozent — und vielleicht sogar Zins von Zins! Aber doch — hundertfach — das ist zu viel — viel zu viel! Bin ich ein Wucherer ?“

Der Rabbiner sah verblüfft auf den Alten. „Was reden Sie da, lieber Freund “, begann er müde, „Sie und wuchern? Sie sind doch der anständigste Mensch von jeher gewesen !“ 

„Nu !“, rief der Alte, „und im Himmel soll ich anfangen zu wuchern ?“ 

Der Rabbiner lächelte . „So ist das nicht gemeint “, sagte er begütigend . „Sie müssen nicht alles so wörtlich nehmen . Das ist bildlich gemeint. Und unsere Valuta wird doch da oben bestimmt nicht gelten . Niemand kann sein Gold und sein Silber mit hinübernehmen. Dort wird nach himmlischem Gewicht. gemessen —“ 

„Soll sein eine andere Valuta “, brummte Chaim verdrossen . „Ich lasse mir keine solchen Zinsen zahlen. Und überhaupt —“ Er starrte den Rabbiner an und winkte ärgerlich ab, als dieser den Mund öffnete. 

Der Rabbiner schwieg entsagungsvoll. Es schien ihm, daß der Alte ins Phantasieren geriet . Sollte er nicht doch die Nichte rufen?

„Hören Sie mal“, sagte Chaim auf einmal ganz ruhig , „was ist das überhaupt für ’ne Geschichte . Habe ich Gutes getan, damit ich Lohn bekomme ? Überhaupt — wer ist ’n anständiger Mensch? Der, der gibt und weiß, er bekommt alles zurück und noch mit Zinsen, oder der, der gibt und wegschenkt und weiß, er bekommt nichts wieder ?“ 

„Natürlich der zweite “, sagte der Rabbiner verwirrt. 

„Nu, ja “, sagte Chaim, „das andere , das ist doch ein Geschäft und keine Wohltat. Das ist eine Spekulation. Eineganz gemeine Spekulation ist das.“ 

Der Rabbiner hob beschwichtigend die Hände. „Aber nicht doch, Herr Chaim. Was machen Sie sich für Gedanken“, sagte er lächelnd.

„Lassen Sie“, sagte Chaim. Er schien seine Gedanken angestrengt zu konzentrieren. „Ich glaube , daß es eine Vergeltung gibt , da drüben . Ich weiß, es gibt sie — dann bin ich doch gar kein anständiger Mensch gewesen, wie ich immer gedacht hatte . Ich habe doch immer gewußt, ich werde belohnt .“

Der Rabbiner seufzte . Es ist schwer, mit solche einem alten Rabulisten fertig zu wer¬ den, dachte er. 

„Was Sie getan haben , Herr Chaim“, sagte er etwas mißmutig , „das haben Sie doch nicht getan , um Lohn zu bekommen !“ 

„Woher wissen Sie?“ fragte Chaim. „Und wie kann ich das selbst wissen ? Wenn ich armen Leuten gegeben habe und habe täglich dreimal gebetet und habe nur gegessen, was man darf, keine verbotenen Sachen oder Butter mit Fleisch zusammen — ich habe doch gewußt, es wird belohnt . Ich bin aber ’n anständiger Mensch, sage ich Ihnen . Ich will keine Belohnung!“ 

Er wurde ganz aufgeregt.

„Beruhigen Sie sich doch, lieber Herr Chaim“, sagte der Rabbiner beschwichtigend. „Sie werden sehen, Sie werden Ihren himmlischen Lohn haben — ob Sie wollen oder nicht !“ 

„Ich will aber nicht !“ schrie Chaim und schlug mit den Händen auf die Decke, „ich will keinen Lohn. Ich will bleiben ’n anständiger Mensch!“ 

Die Erregung hatte ihn doch angestrengt. Er sank zurück und schloß die Augen. „Einen Tag vor dem Tode umkehren “, brummelte er. „Einen Tag vor dem Tode —“ Er tastete mit den Händen auf der Decke herum und bewegte unruhig den Kopf.

Der Rabbiner beugte sich bestürzt über ihn. „Suchen Sie etwas , lieber Herr Chaim ?“ Chaim flüsterte etwas. Der Rabbiner sah sich erstaunt um. Er hatte verstanden „Butter “. Er nahm verwirrt die Butterdose und setzte sie vor den Kranken. 

Der alte Chaim nickte zufrieden und murmelte unverständlich. Dem Rabbiner wurde es unheimlich, er ging zur Tür und winkte der Nichte, hereinzukommen. Als er sich umsah , sah er mit Erstaunen , wie der Alte mit zitternder Hand den Hühnerflügel , der vor ihm stand, ergriffen hatte , ihn eifrig in die Butterdose tauchte, darin herumschwenkte und dann das von Butter triefende Fleisch — an den Mund führte. Butter mit Fleisch , ein Greuel für den gesetzestreuen Juden. 

„Herr Chaim. was tun Sie?“ rief der Rabbiner entsetzt. „Gesündigt , ich habe gesündigt“ ächzte Chaim. „Einen Tag vor dem Tode. Ich will keine Belohnung!“ Er fiel zurück , aber ein zufriedenes, triumphierendes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Die Nichte stürzte auf ihn zu. Er öffnete noch einmal die Augen. „Die Butterdose “, flüsterte er. „Fortwerfen! Sie ist treife! Man darf sie nicht benutzen !“ Das waren die letzten Worte dös alten Chaim.

 Zur Biographie: Sammy Gronemann

In: Neue jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West, 4. Jahrgang, Ausgabe 11/12 vom 10./25.03.1920, S. 261ff

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[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2908689]

In seinem Kriegstagebuch „Zwischen Volk und Menschheit“ hat Dehmel die verhältnismässig kurze Zeit, welche er in Kowno beim Buch-Prüfungsamt des Stabes Ober-Ost verbracht hat (4. September bis 10. November 1916) ziemlich kurz behandelt. Von dem, was er dort vom jüdischen Volksleben beobachtet hat, spricht er fast gar flicht. Das liegt offensichtlich mehr an äusseren Umständen und daran, dass er bei der Redigierung der letzten Abschnitte seines Buches durch die grossen Umwälzungen in Deutschland innerlich so stark in Anspruch genommen und aufgewühlt war, dass ihm eine beschauliche Schilderung unmöglich wurde. Mir aber, der ich das Glück hatte, in jener Zeit mit ihm in Berührung zu kommen, hat sich naturgemäss vieles unverwischbar eingeprägt, was ihm bei der Niederschrift wenig bedeutsam erschien und was vielleicht auch für das allgemeine Publikum nicht allzu grosses Interesse besitzt. Einiges davon möchte ich wiedergeben.

Dehmel fuhr auf einige Tage nach Wilna, um diese Stadt kennen zu lernen und speziell auch das jüdische Leben dort. Ich riet ihm, es so einzurichten, dass er am Versöhnungstag dort den Gottesdienst in der alten Synagoge besuchen könne. Er kam im höchsten Masse angeregt und interessiert zurück. Über den Eindruck, den Wilna auf ihn gemacht hatte, sprach er geradezu überschwänglich. Er erklärte, dass Wilna auf ihn einen grösseren Eindruck gemacht habe, als selbst Rom. Vor allem hatte ihn das Treiben in den engen Gässchen um die Deutsche Strasse herum, das eigentliche Judenviertel, gefesselt. Der Höhepunkt aber war, wie ich es nicht anders erwartet hatte, der Gottesdienst in der alten Synagoge. Er hatte den wundervollen Herschmann vorbeten gehört und behauptete, das sei mit der höchste künstlerische Eindruck seines Lebens gewesen. Vor allem aber, sagte er, sei ihm im Tempel zu Wilna zum erstenmal der Begriff der „betenden Gemeinde“ aufgegangen, jetzt erst glaube er auch das Volk der Psalmen zu verstehen, jetzt wisse er, was es heisse, wenn der Ruf einer Menge zum Himmel emporsteigt. —

An einem Sabbatmittag geleiteten Hermann Struck und ich den Dichter zu dem primitiven aber vorzüglichen jüdischen Restaurant von Michelsohn, in dem wir ständig assen, um ihn mit den traditionellen Sabbatgerichten bekannt zu machen. Dehmel war an jenem Tage in grosser Erregung. Er hatte an diesem Sabbat vormittag einen besonders heftigen Zusammenstoss mit der Bürokratie gehabt und zog unterwegs gewaltig über die Machthaber her, welche dort durch schematische Verordnungen und in bornierter Überheblichkeit allerhand Unheil stifteten. Was er da auszusetzen hatte, kann in seinem Buch nachgelesen werden. Aber damals liess er sich mit einer Urwüchsigkeit und Offenheit, die kaum zu überbieten war, über diese Dinge aus und speziell auch über das Unverständnis, mit dem den jüdischen Wünschen und Eigenheiten gegenübergetreten wurde. Er erklärte schon damals, zornig den Stock aufs Pflaster stossend, dass seines Bleibens dort nicht lange sein und dass er vermutlich mit einem grossen Krach verschwinden würde. Bei Tisch kam etwas von dem Geist des Sabbatfriedens auch über ihn und beim Genuss des Schalet, des gefüllten Hälschens, der Kuggel, glätteten sich allgemach seine Zornesfalten und die beängstigende Röte seines Gesichts schwand. Er sass zwischen unserem Feldrabbiner Dr. Rosenack und Struck. Der Rabbiner gab allerhand hübsche Geschichten aus dem Midrasch zum besten. Ich machte gewissenhaft darauf aufmerksam, dass es nicht ganz sicher sei, ob der dort zulande übliche Schalet ganz identisch mit dem von Heinrich Heine besungenen Nationalgericht sei, da am Rhein sich eine besondere Tradition in der Schaletbereitung entwickelt habe, während Struck, der sich ganz als Impresario der jüdischen Küche fühlte, mit ängstlichen Hausfrauenblicken darüber wachte, dass seine bis ins kleinste am Tage vorher gegebenen Anordnungen befolgt würden,- hatte er doch sogar eine weisse Schürze für Frau Michelsohn und ein frisch geputztes Besteck durchgesetzt. Dehmel liess sich trotz meiner küchenphilologischen Bemerkungen den Schalet gut schmecken, den er offenbar ebenso zu würdigen verstand, wie es einige Zeit vorher Herbert Eulenberg getan hatte, und hörte still und warm interessiert die Sabbatgesänge und das Tischgebet an. –

Dehmel erwähnt in seinem Buch auch die Vortragsabende, die ein Kreis von intellektuellen Landsturmleuten — er setzt hinzu „meist Zionisten“ — in Kowno veranstaltete. Dieser Montagstammtisch, begründet von Hermann Struck, Hans Goslar und dem Theaterdirektor Werth, war eine prächtige Einrichtung, eine wahre Oase in der Wüste des Kommisses. Keiner der Teilnehmer wird die köstlichen Abende vergessen und die in Berlin wohnenden ehemaligen Stammtischgenossen treffen sich noch jetzt von Zeit zu Zeit unter dem Namen der „Ehemaligen Intellektuellen“, um Erinnerungen zu feiern. Von bekannteren Zionisten fanden sich da unter anderen neben Struck und mir, Hans Goslar, Arnold Zweig, Heinrich Auerbach, von anderen Teilnehmern erwähne ich Herbert Eulenberg, Professor Bergströsser, die Maler Magnus Zeller, Schmidt-Rudloff, die Redakteure Kühl, Buhl, Guschmann, Dengler usw., dann Josef Carlebach, Leo Deutschländer, die Ärzte Dr. Felix Rosenthal, Dr. Hamburger, ferner von Wilpert, Müller-Jagusch und viele andere Schriftsteller, Künstler und Akademiker. Die Genannten waren zwar nicht alle gleichzeitig da, (aber immer war die Tafelrunde überaus interessant zusammengesetzt.

Es wurde irgendein Vortrag gehalten und dann debattiert. Die Debatten wurden mit äusserstem Freimut geführt und endigten fast immer in einer Auseinandersetzung über die Nationalitätenfrage. So konnte es nicht fehlen, dass die zionistische Frage fast an jedem Abend lebhaft erörtert wurde. An einem Abend nahm Dehmel Gelegenheit, als wir wieder lebhaft den Zionismus besprachen, in die Debatte einzugreifen. Wenn ich nicht irre, war das an dem Tage, da Hans Goslar ein Referat über den Zionismus gehalten hatte. Dehmel nahm mich, der ich in der Diskussion gesprochen hatte, ins Kreuzverhör. Er wollte von mir absolut heraushaben, ob wir Zionisten denn im Endziel für einen unabhängigen eigenen Staat wären oder nicht. Es stellte sich heraus, dass nach seiner Anschauung wir Zionisten alle ihm nicht weit genug gingen. Er begriffe, sagte er, recht wohl, dass unser Programm zunächst eine öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte verlange, zum Endziel aber müssten wir uns einen absolut freien Staat nehmen; denn nur in einem solchen und durch einen solchen liessen sich unsere nationalen Ideale verwirklichen. An jenem Abend war er von der Grösse der zionistischen Idee durchdrungen und sprach eigentlich fanatischer, wie der rabiateste Zionist. —

Zum Schluss möchte ich eine Episode erwähnen, die an sich mit jüdischen Dingen vielleicht wenig zu tun hat, die aber besser als alles andere zeigt, wie Richard Dehmel die eigenartige Situation dort im Osten erfasst hatte, in der ein erbitterter Kampf zwischen Zivilisation und Kultur geführt wurde— wie er dort in das Verständnis der eigenartigen nationalen Kulturen, die dort zusammenstiessen, eingedrungen war. Im Hause des Oberleutnants Fr. , des „bezaubernden Kerlchens“, von dem er in seinem Buch spricht, wurde eines Tages eine ungeheuer lustige karnevalistische Feier zu Ehren Strucks veranstaltet. Ich war leider damals nicht zugegen, aber nach den Schilderungen der Teilnehmer, Dehmel, Eulenberg, Zeller und Struck, muss es eine herrliche Sache gewesen sein. Jeder hatte etwas beigesteuert. Zeller hatte eine parodistische Struckausstellung zusammengemalt (deren einzelne Stücke wohl noch vorhanden sind und die zum Schmücken ihres Heims sich schenken zu lassen ich unseren Mädchenklubs eigentlich nur bedingt empfehlen möchte) — Eulenberg hielt die Festrede, der Oberleutnant besorgte den musikalischen Teil — Dehmel hatte ein wunderhübsches Gedicht beigesteuert. Das hatte er auf ein Blatt geschrieben, das mit einer hübschen handgemalten Randleiste versehen war. Auf die Rückseite des Blattes schrieb Dehmel etwa folgendes: ,,Diese Randleiste hat ein litauischer Bauer gemalt, der weder lesen noch schreiben kann. Es ist anzunehmen, dass die deutsche „Kultur“ mit dieser „Barbarei“ bald aufgeräumt haben wird.“ Für uns alle, die wir in jenen Monaten mit Dehmel zusammen sein durften, bedeutet die Erinnerung ein unverlierbares Gut.

➥ Zur Biographie: Max Grünfeld

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Wien, H.51, 1906, S. 924-25 bzw. Nr. 52, S. 944-945, Nr. 53, S. 964-965

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Max Grünfeld: Schoen-Mirjam. Eine einfache Geschichte aus dem Leben des mährischen Ghettos.

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Wien, H.51, 1906, S. 924-25 bzw. Nr. 52, S. 944-945, Nr. 53, S. 964-965

Kurzfassung:

Ausgangspunkt ist ein Leichenzug aus der Gasse an den ‚guten Ort‘. Zu Grabe geleitet wird eine Frau, über die eine andere aus diesem Zug (Gitl) meint, sie sei eine „schöne Person, eine gute Person, ein bissel leichtsinnig“ gewesen, habe aber ihren Sohn, der unter den sechs Trägern des Sarges ist, sehr geliebt. Schoen-Mirjam war ihr Name. Nach erfolgtem Begräbnis wird das Leben dieser Mirjam rekapituliert.

Dieses wird nicht nur mit Akzent auf ihre frühe Schönheit (wie jene Lilien Sarons) erzählt, sondern auch mit dem Verweis auf „einen höheren Flug“ ihres Geistes, der sie über die „grauen Mauern“ des Ghettos weit hinausgebracht hatte (Ende Textteil 1). Teil 2 handelt vom Bildungshunger des jungen Mädchens, das sie in ein Spannungsverhältnis zum Vater Jaakow (Geist des Kindes werde vergiftet), der Lehrer im Cheder ist, bringt, sowie zu den anderen (weibl.) Heranwachsenden in der Gasse; verantwortlich dafür werden die deutschen Bücher gemacht: „Mit der ganzen Welt des Ghetto’s lag sie bald in einem offenen Kampfe“. Sie galt als nicht ehefähig, weil den Männern überlegen, aber ohne ökonom. Ressourcen u. zudem auch als hochmütig. Der 3. Teil berichtet schließlich von ihrem ‚Fall‘: der Verführung durch einen jungen Offizier, der nicht halten kann bzw. will, was er versprach u. einen Glaubenswechsel einfordert, worauf Mirjam nicht eingeht, was jedoch zugleich zum Ruin der Familie führte: ihr Vater ohne Schüler, die Mutter, die einen Milchhandel betrieb, vergrämt; im Zuge des Versöhnungsfestes ein Eklat, an dessen Folgen der Vater verstirbt, bald danach auch die Mutter. Mirjam, selbst Mutter eines Sohnes, wandelt sich zur Büßerin, gestützt auf jene (unverheiratete) Gitl, die ihr hilft, ihn großzuziehen. Der verschwundene Vater des jungen Jaakow hinterlegt monatl. Geld beim Rabbiner, die für seine Ausbildung u. Zukunft gedacht sind. Gitls Bruder (Ahron), ein armer Dorfgeher, verliebt sich bei einem Pessach-Seder in Mirjam, die schließlich in eine Ehe mündete. Dies nützt der Text zu abschließenden Reflexionen über die „vielgeprießene“ moderne Liebe, die Mirjam wenig eingetragen hätte, während die Ehe, „nach altem Gesetz“ dagegen Glück gebracht und ein doch noch erfülltes Leben ermöglicht habe, aus dem Ahron allerdings eines Winterabends jäh gerissen wurde. Mirjams nachfolgenden Jahre waren dem Sohn, dem Ghetto und seinen Sorgen gewidmet, wodurch ihr ‚Sündenfall‘ am Ende aufgerechnet war.

In: Die Wahrheit, 14.12. 1934, S. 5

 ➥ Zur Biographie: Max Grunwald

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