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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 26. Jahrgang, Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f / Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

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Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f

 

I.

Wohl in der ganzen Literaturgeschichte dürfte es nicht zwei Repräsentanten eines und desselben Stammtypus geben, welche in so diametraler Richtung einander gegenüberstehen, wie Nathan und Shylok. Wird der Jude schon im gewöhnlichen Leben als Hauptvertreter der materialisti- schen, nur auf das rein Praktische gerichteten Lebensweise anerkannt, um wie viel ungerechtfertigter, – so die Ansicht sehr Vieler, – demselben in der Poesie einen Platz geben zu wollen. Wir selbst aber, die in der Bühne keineswegs ein Institut momentanen Zeitvertreibes durch geist- und sinnlose Wiedergabe alltäglicher menschlicher Vorfälle erblicken, sondern auch den hohen ethischen Werth derselben eifrigst anerkennen, begreifen nur zu sehr, welche treibende sittliche Kraft einen Lessing und Shakspeare bewogen haben mochte, Gestalten, wie einen Nathan und Shylok auf die Bühne zu bringen. Der Erstere nannte in richtiger Erkenntniß die Bühne eine Kanzel, vor der aus er seine Ideen, aber nicht blos in theatralisch-reformatorischer Beziehung, sondern in einer den Fortschritt des menschlichen Geistes scharf kennzeichnenden Richtung in die Menge zu streuen wußte; Letzterer, der ebenfalls die Bühne als Spiegel und Schule des menschlichen Lebens betrachtete, um uns durch seine mächtige Darstellungsweise menschlicher Leidenschaften alle gefahrbringenden Irrthümer zu zeigen und uns von denselben zu befreien. Wenn wir von den jüdischen Episodengestalten moderner Vorstadtdramen absehen, die nur dazu dienen, durch eine mauschelnde Darstellungsweise das Lachbedürfniß roher ungebildeter Hausknechte zu befriedigen, so müssen wir zugestehen, daß Nathan und Shylok die einzigen jüdischen Typen sind, die in der Weltliteratur ihren bleibenden Platz einnehmen werden. Zu zeigen, in wie weit dieselben Bezug auf das Judenthum nehmen, sei der Zweck vorliegender Skizze. Beide Ansichten, sowohl die, daß im Nathan ausschließlich die Verherrlichung des Judenthums gefeiert wird, gegen die das Christenthum in gänzlich ungerechtfertigter Weise zurückstehe, wie die der erbittertsten Feinde des Judenthums, daß in der Gestalt des Shylok allein das gesammte Judenthum seine richtige Charakterzeichnung erhalten habe, wollen wir hier einer näheren Prüfung unterziehen und zeigen, wie nötig es sei, sich nicht bloß dem ersten Eindrucke hinzugeben, den die beiden Dramen auf uns ausüben, sondern alle weiter liegenden Umstände prüfend zu betrachten, um zur richtigen Erkenntniß zu gelangen, ob und warum die beiden Gestalten des Nathan und Shylok Repräsentanten des Judenthums in seiner Totalität darstellen. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern nur durch eine concrete Darstellung zum Ausdruck gebrachte Träger eines allgemeinen Principes. Lessing wollte durch seinen Nathan den Gedanken zur sinnlichen Anschauung bringen, daß das rein Menschliche alle Fesseln durchbreche und die Ausschließung der Bekenner einer positiven Religion von denen einer anderen endlich aufheben müsse. Es ist dies ein großes Princip, das auch nur in einer großen, keineswegs particularistisch auf das Einzelne gerichteten Seele Platz greifen konnte; die Auflehnung eines geistig freien Mannes gegen allen übertriebenen Religionshochmuth, gegen eine kleinliche Unduldsamkeit.

Nur wer sich ein recht klares Bild von der damaligen Zeit machen kann, von der Stellung, die Lessing seinen theologisch-fanatschen Gegnern gegenüber einnahm, die Wunden kennt, die er durch den christlichen Hochmuth erlitten, kann begreifen, welche tiefinnere Ueberzeugung von der Wahrheit seines Principes, welches Bewußtsein seiner Fähigkeit Lessing beherrscht haben mußte, um an die dramatische Verkörperung einer solchen, den Humanismus in seine vollen Rechte einsetzenden Idee schreiten zu können. Lessing wollte den confessionellen Hochmuth demüthigen, indem er dem Juden-, Christen- und Heidenthum gleichen Werth zuerkannte, um so seine, bis jetzt allerdings noch nicht ganz erreichte Idee, von der Gleichberechtigung aller Menschen, zum Ausdrucke zu bringen. Die Frage, warum dieser Humanitätsgedanke gerade in einem Juden seine Verkörperung erhalten, darf nicht auf die gebräuchliche Weise beantwortet werden. Die Ansicht, daß das so verachtete Judenthum über seine Hasser und Verächter triumphiren wollte, indem sich gerade in ihm das rein Menschliche so herrlich entfaltet zeigt, löst deshalb die Frage nicht, weil sie nur auf der Basis rein polemischer Beziehungen steht; ebenso oberflächlich wäre das Urtheil, daß Lessing nur deßhalb einen Juden gewählt habe, um ausschließlich seinen Spinozismus oder seinen Freund Moses Mendelssohn, der allerdings das beste Modell ist, poetisch verherrlichen zu wollen. Der Grund muß, obwohl diese beiden Ansichten ihre größte Bedeutung für die Lösung der Frage nicht verlieren, hauptsächlich in der specifischen Eigenschaft des Judenthums selbst gesucht werden. Das Judenthum, das auserwählte Volk Gottes, ist in seinen religiösen Principien vollständig aufgegangen. Lessing konnte nicht anders, als gerade einen Juden zum Vertreter des universellen, rein menschlichen Principes machen, weil in ihm dieses Princip seinen vollständigsten Sieg errungen, weil es die gewaltigsten Hindernisse überwunden.

Nur der Jude, dessen ganzes Wesen am meisten religiösen Satzungen unterworfen ist und dennoch den Gedanken eines universellen, von aller positiven Religionssatzung unabhängigen Menschenthumes, in sich aufgenommen, darf es wagen, Dasjenige, was er selbst nach langem Kampfe sowohl gegen alle äußern als innern Hindernisse erworben, auch den Anderen zu predigen und von ihnen zu verlangen. Deshalb ist der Jude der Vertreter jenes Principes, daß jedem übertriebenen unduldsamen Religionshochmuth den Krieg erklärt und das wahrhaft Menschliche Allen an die Spitze setzt, und keine Unterordnung desselben dulden will. Der Jude hat sich durch alle finsteren Engen durchwinden, alle Qualen der Unterdrückung des Hasses und der Verachtung vergessen müssen, ehe er den Gedanken des freien reinen Menschenthumes in sich aufnehmen konnte. Und deshalb ist er allein dazu berufen, die Idee der Gleichberechtigung aller Religionen, die Idee der wahren Humanität zu verkörpern. Man hatte den „Nathan“ für eine Auflehnung gegen die bisherige Ordnung, die dem Judenthum und dem Mohammedanismus die inforiorste Stellung zuwies, gehalten, für eine satyrische Verunglimpfung des Christenthums. Das Erste hatte seinen Grund in der bekannten Parabel von den drei Ringen, das Letzte wegen der negativen Charakterzeichnung der christlichen Gestalten in dem Stücke. Gegen letzteren Vorwurf vertheidigt sich Lessing mit folgenden Gründen: „Wenn man sagen wird, daß ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt und jenerlei Leute unter Juden und Muselmännern gefunden, so werde ich zu bedenken geben, daß Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren, daß der Nachtheil des Religionshasses zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solcher Mann habe sich nun eben in einem Sultan gefunden.“ – In den Gesta Romanorum wird nebstdem zur Beruhigung christlicher Gemüther, in der Nutzanwendung der Erzählung von den drei Ringen der echte Ring in der Art auf das Christenthum bezogen, daß auch die beiden anderen durchaus nicht falsch und eitel wären. Nathan, dieses herrliche Zeugniß der Emanation des freien Volksgeistes, wurzelt allerdings in den Verhältnissen seiner Zeit und verdankt sein Entstehen hauptsächlich den Kämpfen, welche die letzten Lebensabschnitte Lessing’s ausfüllten. Die Zeit jedoch, da der tiefe poetische Kern, der in diesem Stücke so wunderbar zum Ausdruck gekommen, seine Blüthen treiben wird, ist noch nicht hereingebrochen. Die Wogen des Religionshasses rauschen noch so wild wie früher und scheinen sinnlos ohne Gegenwehr, die zarten Blüthen, die ein Nathan gezeugt, wieder vernichten zu wollen. Wer will sich heute noch an die Fabel von den drei Ringen erinnern, die alle drei die einzig wahre Religion, das wahre Menschenthum, die brüderliche Liebe Aller gegen Alle enthalten? Möchte doch durch diese Erzählung von den drei Ringen die Menschheit ewig daran erinnert werden, daß das göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl den Nationen heilig und werth bleiben müsse, daß das wahrhaft Menschliche nicht nach dem Glaubensbekenntnisse, sondern wieder nur nach dem Menschlichen fragen darf.

(Schluß folgt).

 

Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

II.

Wenn in dem so erbitterten Kampfe, wie er jetzt geführt wird, wir auf Lessings „Nathan den Weisen,“ an die in demselben zum Ausdruck gelangte Idee von der Gleichberechtigung aller Religionen hinweisen und die finsteren Agitatoren, die mit Allgewalt nebst dem so wild erregten Kampf der Nationen auch noch den der Religionen in unser Jahrhundert aufzunehmen sich bemühen, an die Auffassung des Judenthums in seiner Stellung zu den anderen Bekenntnissen erinnern wollen, dann hören wir sofort mit höhnischer Geringschätzung aus dem Munde unserer Gegner, daß wir ja gar nicht berechtigt, die Tendenz Nathans als Argument für uns zu betrachten. Nicht Nathan, nein Shylok, dieses herzlose Scheusal, das ganz im Banne der eckelsten aller Leidenschaften, des sinnlosesten Geizes, die allerheiligsten Bande des Menschenthums, die Pietät des engsten heiligsten Verwandtschaftverhältnisses, das des Vaters zu seinem Kinde, achtlos zerreißt und sich im Staube windet vor seinem Götzen Mammon, dieser Shylok allein sei der wahre Repräsentant des Judenthums. So wie er, so Alle vom jüdischen Stamme! Nun, wir stehen nicht an, wenn wir zu Begründung unsere Ansicht, daß das Judenthum den anderen Religionen zum mindesten ebenbürtig, Lessings „Nathan“ erwähnen, auch den Shylok in das Auge zu fassen. Freilich fällt es unseren Gegnern leicht, bei dem so scharf ausgesprochenen Geschäftssinn der Juden, Shylok als den richtigen Grundtypus des Judenthums aufzufassen. Ist es aber denn nur überhaupt denkbar, daß wenn alle Juden wären wie Shylok, die Welt noch überhaupt Bestand hätte, und die Menschen nicht schon längst sich hätten gegenseitig zu Grunde richten müssen. Und wo haben wir denn die wahren historischen Beweise, daß es einen Juden Shylok, ja überhaupt einen Menschen von einer solchen, allen Gefühlsgesetzen hohnsprechenden Grausamkeit, die nach Baco’s Worten jedem Guten ohnehin als eine fabelhafte, tragische Fiction erscheinen muß, gegeben habe. Gibt man sich dem Eindrucke, dem Shylok in psychologischer Beziehung ausübt, so ohne jede weitere logische Nachforschung hin, dann allerdings wirkt die scharfe Charakterzeichnung des Juden derartig nach, daß man nur zu sehr geneigt ist, ihn als Grundtypus des ganzen Judenthums aufzufassen. Beschäftigt man sich aber mit dem Stücke etwas eingehender, dann wird man bald zu dem Resultate gelangen, daß man an die Stelle des Juden Shylok ebensogut den Christen Shylok setzen kann. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern bringen nur eine gewisse Idee in concreter Gestaltung zu einer allgemeinen Darstellung.

Wie Nathan uns im Gewande der Poesie, der herrlichsten Rhetorik, zeigen will, daß es auch unter den Juden edle Menschen gäbe, daß keine Religion das Recht habe, ihren Ring als den einzig echten und werthvollen zu bezeichnen, und somit das edle Gesetz der Toleranz zu seinem Inhalte macht, so will auch Sheakespeare durch seinen Kaufmann von Venedig nichts Anderes, als den Grundsatz des Summum jus, summa iniuria, den Schein des abstrakten Rechtes, durch eine dramatische Verkörperung zum Ausdrucke bringen. Die Ursachen, weshalb ein Jude zum Vertreter jenes Scheusals, das sich auf sein Recht des Pfund Menschenfleisches als Pfandobjekt stützt, genommen wurde, sind leicht zu ergründende. Es ist eines der ersten dramatischen Gesetze, daß die Handlung des ernsten Dramas eine wahrscheinliche sein müsse. Erfüllt nun der „Kaufmann von Venedig,“ dieses psychologisch allerdings wunderbar ergreifende Gemälde, diese Forderung? Ist es denn nicht ein Widerspruch der gesunden Vernunft, anzunehmen, daß unter Menschen, wie sie Sheakespeare in seinem Stücke schildert, ein solches Schuldverhältniß habe bestehen können, das dem Gläubiger das Recht gibt, bei Nichteinlösung der Schuld sich als Aequivalent dafür aus dem Leibe seines Schuldners ein Pfund Fleisch schneiden zu dürfen? Wenn wir diesen, ästhetisch ganz unberechtigten Kernpunkt des Stückes nicht begreifen können, dann müssen wir uns an die eigenthümliche Art und Weise, wie Sheakespeare ganz lose, unzusammenhängende Fabeln benutzte, um daraus seine herrlichsten Dramen zu machen, vor Augen halten. Die Fabel des Kaufmanns von Venedig, die wie der berühmte Forscher Max Müller nachgewiesen, bereits in der indischen Götterlehre, anläßlich eines Streites zwischen Indra und Ugni vorkommt, ist aus zwei ursprünglich getrennten Erzählungen, von dem Rechtshandel um das Pfund Fleisch und von den drei Kästchen zusammengeschmolzen. Beide finden sich in der bekannten Sammlung der Gesta Romanorum. Vielleicht ist der Stoff des Stückes schon vor Sheakspeare in einem älteren Stücke bearbeitet worden; Gosson spricht in seiner „Schule des Mißbrauches“ von einem Stücke „Der Jude“, dessen Inhalt die Habsucht weltlicher Freier und die Blutgier der Wucherer darstellt. Wenn Sheakespeare den Shylok zu einem Juden macht, dann müssen wir uns nur an die Zeit erinnern, in der er lebte. Unterschied sich doch dieselbe, was das Verhältniß des Christenthums zum Judenthume anbelangt, auch nicht durch das Allergeringste von den heutigen, wurzelte doch auch sie in dem tiefsten Hasse gegen Alles, was jüdisch war. Wo hätte Sheakespeare einen bes- seren Repräsentanten für die Symbolisirung des herzlosesten Geizes finden können, als in dem er Einen aus jenem verachteten und weniger als das Thier geschätzten Volke, dem Judenthume, nahm, das von jedem Sonnenstrahl der freien Selbstentwickelung mit der Hetzpeitsche zurückge- trieben, erkannt hatte, daß es nur durch die Macht des Geldes sich aus seiner geknechteten Parialage befreien könne. Wie hätte Sheakespeare es wagen dürfen in seiner Zeit, in der des strengsten Puritanismus, einen Christen so zu zeichnen, wie er es mit dem verachteten und gebrandmarkten Judenthum durfte.

Wollte aber Sheakespeare durch seinen Shylok absichtlich das Judenthum brandmarken, oder war nicht vielmehr er, der in allen seinen Werken die Beziehungen der Religionen vermeidet, nur durch die Verhältnisse seiner Zeit gezwungen, einen inferioren Juden als ein unbeanständetes Vorbild für seinen Shylok, dieses von der Leidenschaft des Goldes dämonisch durchwühlte Unding, zu nehmen? Was wußte Sheakespeare von der Emancipation der Juden? Und trotz Alledem können wir ganz unbefangen die Behauptung aufstellen, daß durchaus keine antisemitischen Motive, kein wüthender Haß Sheakespeares gegen die Juden ihn dazu veranlaßten, Shylok zu einem Juden zu machen, den der Schauspieler Bourbadge zu Sheakespeares Zeiten auch in eckelhafter äußerer Gestalt, mit langer gebogener Nase und brennend rothem Haare gab. Und wenn in diesem Stücke der Jude Shylok von glühendem unerbittlichen Hasse gegen den Christen Antonio erfüllt ist, wer darf deshalb behaupten, daß das ganze Judenthum von demselben Hasse gegen das Christenthum erfüllt sein müsse. Shylok sieht sich in seinen allerheiligsten Interessen, in denen des Gelderwerbes von dem Christen Antonio getäuscht; und nur deshalb haßt er ihn, nicht weil er ein Christ ist, sondern weil er durch ihn beschimpft, verhöhnt wird und materielle Einbuße erleidet. Nicht gegen den Christen Antonio wüthet sein Haß, nur gegen den unpraktischen Kaufmann, der schon in der Nutzbarmachung des Capitals durch Zinsen den ärgsten Wucher erblickt, und von falschen Principien geleitet, den Werth des Geldes herabzudrücken versuchte. Also nicht auf dem Boden religiöser Gesinnung wurzelt der Haß zwischen dem Juden Shylok und dem Christen Antonio, sondern auf dem ihrer gemeinsamen Kaufmannsinteressen. Noch zwei gewichtige Factoren sind es, die uns zur Ueberzeugung führen müssen, daß Sheakespeare durchaus nicht von Judenhaß erfüllt war, und daß zwischen Shylok und dem wahren Judenthume ein greller unlösbarer Widerspruch besteht.

Wenn es Sheakespeare darum zu thun gewesen wäre, durch seinen Shylok das ganze Judenthum als unmenschlich und grausam darzustellen, wie hätte er dann Jessika, dem Judenmädchen einen so innigen herrlichen Charakter verleihen können. Was den zweiten Widerspruch anbelangt, so ist derselbe von solcher Kräftigkeit, daß selbst die erbittertsten Feinde des Judenthums es anerkennen müßten, daß Shylok und das Judenthum die disparatesten Dinge sind. Wenn der durch Jahrtausende eingewurzelt und fast unauslöschbare Haß den Juden auch alle möglichen Laster und Fehler vindicirt, an dem innigen Verwandtschaftsverhältniß, an der unendlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern bei den Juden, und umgekehrt, hat noch Niemand gerüttelt. Wissen es doch Alle, daß der Jude keine, auch noch so schwere Last scheut, wenn es gilt, seinen Kindern Gutes zu erweisen, und er hungernd und frierend, verhöhnt und gemartert, in seinem heiligsten Gefühle, das er seit seiner Jugend gleichsam als Ideal in sich getragen, in seiner Religion verletzt und geschmäht, doch Alles geduldig erträgt und sich freudig die bittersten Opfer auferlegt, nur um seine Kinder froh und zufrieden zu sehen. Und Shylok, der freudig aufjauchzen möchte, wenn er seine Tochter selbst todt zu seinen Füßen sehen würde, aber nur mit den kostbaren Juwelen im Ohre und den ihm genommenen Dukaten, Shylok, der lieber den Tod seines einzigen Kindes, als den Verlust einiger Goldstücke herbeiwünscht, könnte ein Jude sein! Freilich, wer in jedem Juden gleich a priori schon einen Shylok erblickt, dem dürfte diese Beweisführung nicht besonders kräftig erscheinen, für den ist allerdings nicht Nathan, sondern Shylok getroffenes Portrait des Judenthums und seiner Eigenschaften. Und trotzdem wollen wir hoffen, daß einst die Zeit kommen wird, wo von allen insgesammt die Idee Nathan’s aufgenommen und ins wirkliche reale Leben übertragen werden wird.

 

➥ Zur Biographie: Moritz Goldstein

Aus: Compact Memory / (uni-frankfurt.de)

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I.

Die Emanzipation der Juden in Deutschland war die Folge eines Lebensideals des 18. Jahrhunderts, welches man mit dem Namen Humanität bezeichnet. Es gründete sich bekanntlich auf der Anschauung, dass alle Menschen von Natur einander gleich seien und dass an allen Unterschieden der Bildung, des Standes und überhaupt des Wertes die Kultur Schuld habe. Wenn jedem Menschen — so theoretisierte man — in gleichem Masse die Möglichkeit gegeben würde, seine Fähigkeiten zu entwickeln und auszubilden, so würden die Verschiedenheiten, welche heute die Nationen und Stände äusserlich trennen, verschwinden, und alle würden sich in einem gemeinamen erhöhten Menschentume treffen. Dieses erhöhte Menschentum für die eigene Person durch strenge Selbstzucht und allseitige Ausbildung zu erreichen, war das eigentliche Humanitätsideal; es zu verwirklichen, war das höchste Ziel unserer Klassiker; unter ihnen war es Goethe, der ihm vielleicht am bewusstesten, sicher aber am erfolgreichsten zustrebte. Ins Soziale umgesetzt, bedeutete dieses Ideal die Forderung, dass jedem Menschen von der Gesellschaft die Möglichkeit garantiert werde, für die Entwicklung seines Menschentumes Raum zu gewinnen. Insofern waren die Wortführer der Humanität zugleich die Apostel der französischen Revolution. Freiheit und Gleichheit, das Kampfgeschrei, das in Paris angestimmt wurde und in ganz Europa begeistert widerhallte, bedeutete nichts anderes als die menschlichste aller Forderungen: Gleiche Bedingungen für alle, die den grossen Wettlauf des Lebens antreten. Diese Forderung, welche auf der einen Seite als ein verzweifelter Notschrei aus der Tiefe erscholl und aus den Kehlen bewaffneter Volkshaufen den bevorzugten Reichen und Gebildeten unheimlich genug in die Ohren gellte, wurde andererseits von eben diesen Bevorzugten zum allgemeinen Postulat erhoben und zu einem Lieblingsgedanken des spekulierenden Europas gemacht. Man wartete nicht überall, bis der Hilferuf aus den Niederungen laut wurde, sondern wandte freiwillig, vom modernen Geiste der Humanität getrieben, seinen Blick auf diejenigen, welche unter der Ungunst ihrer Lebenslage zurückgeblieben waren. Die Verachteten, Ausgestossenen, Verkommenen rückten plötzlich in das helle Licht des allgemeinen Interesses, und unter diesen auch, und zwar als die Interessantesten, die Juden. Die Konsequenz des Humanitätsideals war der Philosemitismus.

Der junge Lessing war es, der sich im Namen der Humanität zum Anwalt dieser Bedrückten aufwarf. Er schrieb ein schwaches Anfängerstück „Die Juden“ und erregte damit das höchste Aufsehen unter den Angehörigen des Volkes, dem es galt.

 Ein Reisender — dies ist der Inhalt — befreit einen Gutsherrn aus der Hand von Räubern. Der Gerettete kann sich nicht genug tun in Dankbarkeit gegen den Fremden, andererseits in Schmähungen auf die Juden, als die vermeintlichen Übeltäter. Er bietet seinem Retter die Hand seiner Tochter samt seinem Vermögen an, der Grossmütige lehnt ab; der Gutsherr bietet- dringender, der andere lehnt dringender ab; der Gutsherr, durch weitere Wohltaten dem Fremden aufs Neue verpflichtet, lässt nicht nach, — da macht dieser dem edlen Wettstreit mit einem Schlage ein Ende, indem er bekennt, dass er Jude sei. —

Dies harmlose Jugendstück Lessings, welches jedoch aus einem Geiste geschrieben ist, für den wir dem jungen Dichter stete Bewunderung und Dankbarkeit schulden, verrät in naiver Weise, wie der Philosemitismus der Humanität eigentlich aussah: „Die Juden, die ihr um euch seht — so räsonnierte er — hässlich, schmutzig, wiedrig und zu allem Schlechten fähig, sie sind all dieses nicht ihrem Wesen nach, sondern sie sind so geworden durch die Ungunst ihrer Lage; gebt ihnen dieselben Entwicklungsbedingungen, wie wir sie haben, und sie werden wie wir, sie sind nicht mehr zu unterscheiden, und ihr seid überrascht, wenn ihr erfahrt, dass es Juden sind.“ Das ist die Botschaft Lessings, die von der einen Seite als trostreiche Verheissung mit Freuden, von der anderen als überkühne Hypothese mit Zweifel und Spott aufgenommen wird. Aber Lessing scheint Recht zu behalten: Er selbst schliesst Freundschaft mit einem Juden, der zwar in seinem Äusseren das Semitische nicht verwischen kann, dafür sich aber geistig mit bewunderungswürdiger Energie aus der Enge des Ghetto herausarbeitet, sich Sprache, Bildung und Form seiner bevorzugten Umgebung zu eigen macht und endlich selbst als ein Vorkämpfer des Humanitätsideals in die Reihen tritt: Moses Mendelssohn. Ein Jude zu sein, dem man es nicht anmerkt, und der dennoch ein guter Jude ist: Das war der Traum, der Juden und Christen entzückte; ihn verwirklicht zu haben, war Mendelssohns grösster Ruhm zu seiner Zeit, und wird, soviel ich sehe, auch heute noch für seine ruhmeswürdigste Leistung gehalten. Wie sollte es anders sein, da doch das Humanitätsideal, wenn auch als ein Ideal längst entwertet, dennoch als praktische Lebensregel bis zum heutigen Tage fortklingt. Denn die Assimilationsbestrebungen und das Assimilantentum sind nichts weiter, als die in die Breite gezogenen, popularisierten und trivialisierten Reste jener vergangenen Weltanschauung. Und dass diese Reste so munter fortleben, und die Anhänger dieser Moral sich nicht verringern wollen, dies ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass in ihrem Namen die Emanzipation der Juden sich vollzogen hat und alles das erreicht worden ist, was wir heute mit Stolz unser eigen nennen: Die Gleichheit vor dem Gesetz und stehe sie auch nur auf dem Papiere.

 Die Anhänger des Assimilationsgedankens aber, auch wenn sie in der Mehrzahl sind, haben heute die Führung verloren und hinken hinter der Entwickelung drein. Sie haben den Geist ihrer neuen Zeit nicht verstanden, sie haben nichts davon gemerkt, dass das Humanitätsideal verblasst ist, dass die Weltlage sich geändert hat, und dass ein neues Lebensprinzip das Scepter führt: Der Individualismus.

 Das Humanitätsideal setzte die natürliche Gleichheit aller Menschen voraus; der Individualismus glaubt an ihre natürliche Verschiedenheit. Jenes hielt die Verschiedenheiten für einen schädlichen Einfluss der Kultur; dieser macht im Gegenteil der Kultur die Gleichmacherei zum Vorwurf. Jenes erwartete von einer ungehemmten Entwickelung das Aufsteigen aller einzelnen zu einem gemeinsamen gleichen Menschentume; dieser fordert dieselbe ungehemmte Entwickelung, um scharf differenzierte Individualitäten zu erhalten. Jenes strebte aus den realen Verschiedenheiten zu einer erhabenen Gleichheit; dieser ringt aus einer trivialen Gleichheit nach erhabener Verschiedenheit. Aber auch der Individualismus hat einen höchsten Vereinigungspunkt: Worin nämlich die differenzierten, ja die entgegengesetzten Individualitäten einander dennoch treffen, das ist ihr Wert. Das Humanitätsideal sah den Wert des Einzelnen in einem höheren Menschentume, das allen gemeinsam ist; der Individualismus sieht ihn in der ausgeprägten Persönlichkeit, die jedem besonders und eigentümlich ist. Das, was den Menschen von allen anderen unterscheidet, was er für sich allein hat, was nur in ihm existiert und mit ihm überhaupt verloren gehen würde, das gibt ihm nach dem individualistischen Lebensprinzip das Recht auf Existenz. Je eigenartiger, unvergleichbarer, ausgeprägter einer ist, desto höher sein Wert als Mensch.

Dass dieses individualistische Prinzip in der Tat das Leben der Gegenwart beherrscht, wird nirgends deutlicher als in den Erscheinungen der Europäischen Politik, indem der Individualismus mit demselben Rechte, mit dem er von den Einzelnen gilt, auf die Gesamtheit der Nation übertragen wird, nun aber in dieser Vergrösserung sich umso überraschender offenbart.*) Das 18. und das beginnende 19. Jahrhundert schuf seine Staaten ohne Rücksicht auf die Nationalitäten, indem bald eine Nation in zwei oder mehr Staaten zerrissen wurde, bald ein Staat mehrere Nationen umschloss. Heute aber ist es die entschiedene Tendenz aller Völker, sich als selbständige Körper zu konstituieren. So hat sich Norwegen von Schweden losgerissen, so erheben in Österreich die Ungarn und Czechen lauten Anspruch auf politische Selbständigkeit, die Polen drängen ungestümer denn je zur Wiederaufrichtung ihrer Herrschaft — und der Antisemitismus steht in voller Blüte.

 Mir scheint, dass für uns Juden keine Erkenntnis wichtiger und segensreicher sein kann, als die, dass mit derselben Notwendigkeit, mit der das Humanitätsideal den Philosemitismus und die Emanzipation den Juden hervorbrachte, jetzt der Individualismus die antisemitische Bewegung erzeugt. Diese Einsicht halte ich deshalb für so wichtig und segensreich, weil aus ihr und nur aus ihr die Taktik erkannt werden kann, mit der wir unseren Widersachern zu begegnen haben.

 Man sieht, dass der Antisemitismus als Äusserung des wachsenden Individualismus nicht auf einer Stufe steht mit den übrigen Beispielen, die ich als politische Folgen dieses Prinzips genannt habe. Bei jenen wurde der schwächere Teil sich seiner Unterlegenheit als einer Schmach bewusst und strebte daher, sich loszureissen und selbständig weiterzuentwickeln. Der Judenhass dagegen geht von der stärkeren Seite aus und drängt zur Ausschliessung des Schwächeren. Nun fehlt es Gott sei Dank nicht an der entsprechenden positiven Bewegung unter den Juden selbst. Der Zionismus ist die entschiedenste. Er ist aber nur eine neben anderen, und ich will als gemeinsamen Namen lieber die Bezeichnung Nationaljudentum anwenden, worunter ich also alle Bestrebungen begreife, die eine Stärkung des Nationalitätsbewusstseins unter den Juden zur Voraussetzung haben.

Wir konstatieren: dass ein Nationaljudentum entstehen konnte, zeigt uns, dass der Individualismus auch auf die Juden seine Wirkung übt. Dasselbe Lebensgefühl, das uns zu Nationaljuden macht, macht die Gegenseite zu Antisemiten. Wir müssten beide nicht Kinder unserer Zeit sein, wenn wir nicht Nationaljuden und jene nicht Antisemiten sein sollten.

*) Anm. Die allgemeine Geltung des individualistischen Lebensprinzips scheint durch die grosse Ausbreitung der Sozialdemokratie widerlegt zu werden. Aber wenn sie auch theoretisch von der natürlichen Gleichheit ausgeht, so stellt sie doch praktisch, nach dem, was sie als Partei wirklich ist, eine so scharf ausgeprägte, wohl organisierte und differenzierte Einheit dar, dass sie im Gegenteil unter die Beispiele für die Herrschaft des Individualismus gerechnet werden kann: nämlich als die Anwendung dieses Prinzips auf die Arbeiterklasse.

Dieses Verhältnis aber ist bis jetzt durchaus nicht begriffen worden. Man fasste vielmehr den Antisemitismus als das Primäre auf, alle Gegenbestrebungen der Juden aber als sekundäre, nur mittelbar hervorgerufene Abwehrbewegungen. Schmach für uns, wenn dem so wäre! Denn dies würde beweisen, dass wir von dem Lebensatem unseres Jahrhunderts, der die Nationen Europas um uns her zu höchster Anspannung ihrer Volkskräfte hinreisst, nicht den leisesten Hauch verspürt hätten. Es würde beweisen, dass wir Juden gänzlich hinter unserer Zeit zurückgeblieben sind. Ich leugne freilich nicht, dass es eine Abwehrbewegung gibt, und noch weniger, dass sie berechtigt ist. Wogegen wir uns nämlich verteidigen müssen, dass sind die Folgerungen, welche die Gegenseite aus ihrem Judenhass zieht. Die Ausschliessung des Schwächeren durch den Stärkeren ist eine Ungerechtigkeit und Vergewaltigung, gegen die uns zu wehren nicht unser Recht, sondern unsere Pflicht ist. Kein Zweifel zwar: Nationaljudentum hüben, Antisemitismus drüben drängen zur Separation. Aber die Lösung muss auf legalem Wege erfolgen; alles was darüber hinaus von der Gegenseite geschieht, ist ein Angriff und ruft uns zur Verteidigung auf.

Hier also gibt es, und zwar mit Recht, eine Bewegung unter den Juden, welche lediglich als Folge des Judenhasses auftritt. Indessen nicht ohne Grund habe ich oben den Antisemitismus vor dem Nationaljudentum genannt; denn als Äusserung des Individualismus hat jener allerdings vor diesem einen Vorsprung. Man vergleiche einmal in unserem Vaterlande die Zahl der Nationaljuden mit der Zahl der antisemitisch Gesinnten; auch prozentualiter wird das Verhältnis für uns ganz ungünstig liegen. Man frage sich ferner, welches denn die allgemeinste und verbreitetste Art ist, den Antisemitismus zu bekämpfen. Sie besteht in dem Versuch, den Gegner mittelst Tatsachen und Schlüssen zu beweisen, dass er uns Unrecht tue, wenn er uns für etwas von ihm Verschiedenes halte. Dieser Versuch ist erstens vergeblich; denn wir können höchstens beweisen, dass wir in unseren christlichen Mitbürgern Menschen sehen, die mit uns gleicher Art sind, nicht aber ihnen dieselbe Ansicht von uns beibringen. Es ist auch unmöglich, eine Empfindung, welche sich auf dem Grunde einer Weltanschauung oder eines Lebensgefühles entwickelt hat, mit logischen Schlüssen zu beseitigen. Der Versuch ist aber zweitens auch verwerflich, denn er verrät, dass die meisten unter uns in der Tat hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind. Von uns als den Unterdrückten müsste der Anstoss zu nationaler Zusammenfassung ausgehen, wir müssten die ersten sein, die den Gegensatz zu unserer nicht¬ jüdischen Umwelt empfinden, wenn wir den Geist unseres Jahrhunderts richtig verstanden hätten. Individualismus der Nationen heisst die Parole; bei ihr unbedingt ist die Entwicklung und der Fortschritt. Dass wir sie nicht hören und für unser Judentum nicht annehmen, trotzdem wir geradezu mit der Nase darauf gestossen werden; dass wir immer noch dagegen rufen: „Ihr irrt euch, wir sind nichts Besonderes!“  das ist eine Schmach, und sie einmal tief gefühlt zu haben, ist der erste Schritt, sie zu tilgen.

Das also ist die Aufgabe: Das deutsche Judentum zu einer Individualität zusammenzuschliessen; die Gesamtheit der deutschen Juden zu einer Persönlichkeit zu machen, damit wir sie als solche empfinden lernen.

 Ich spreche mit gutem Bedacht nur von den deutschen Juden und nicht von der internationalen Judenheit, da ich eine Zusammenfassung der letzteren bei der besonderen Art von Vereinheitlichung, die ich im Sinne habe, augenblicklich noch nicht für möglich halte. Die Juden der einzelnen Länder sind zu sehr von den verschiedenen Kulturgehalten ihrer Heimat erfüllt, als dass sich schon jetzt die Einheit über die politischen Grenzen hinaus herstellen liesse. Der Versuch, sich mitten in der christlichen Umwelt zu einer Individualität zusammenzuschliessen, würde unnötig erschwert werden, wenn es gälte, sich sämtlichen europäischen Kulturen gleichzeitig entgegenzustellen. Lösen wir die Aufgabe für uns Deutsche, und überlassen wir es den Juden der anderen Länder, sie für sich zu lösen. Ist dieses Ziel erreicht, dann wird es an der Zeit sein, eine Einheit über den Einheiten zu erstreben.

Welcher Weg einzuschlagen sei, darüber kann in unserer Zeit der Sozialpolitik ein Zweifel nicht bestehen: Er heisst Organisation. Man hat die Bedeutung dieses Mittels auch bei uns längst erkannt und wendet es immer bewusster auf das Judentum an. Dass es bisher mit grossem Erfolge geschehen sei, dürfte bestritten werden. Gerade die sogenannte Intelligenz, deren Gleichgültigkeit noch nicht um eines Haares Breite erschüttert worden, die vielmehr, mit dem Überlegenheitsbewusstsein des behaglichen Assimilanten begabt, von dem, was vorgeht, zum grössten Teil nicht einmal eine Ahnung hat, beweist schlagend, wie wenig bisher erreicht worden ist.

Ob Organisation für sich überhaupt Erfolg haben kann, erscheint mir sehr zweifelhaft, solange nicht vorher die Grundlage geschaffen wird, auf der allein eine politische Zusammenfassung aller Bildungskreise möglich ist: Die geistige Organisation.

II.

Als im Jahre 1806 Kaiser Franz von Österreich die Deutsche Krone niederlegte und es mit dem heiligen römischen Reiche Deutscher Nation ein für alle Male vorbei war, da wurde damit keineswegs auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zerstört, sondern flammte im Gegenteil, nun die politische Einheit fehlte, nur umso heller auf und loderte fort, bis die äussere Wirklichkeit mit dem inneren Empfinden wieder übereinstimmte. Einem Volke zwar ist es leicht, diese Einheitsempfindung zu wahren, wenn es nämlich eine gemeinsame Sprache spricht. Nun ist aber die Sprache an sich nur etwas Äusserliches und hat ihre einigende Wirkung offenbar nur dadurch, dass sie eine Gemeinsamkeit der Interessen ermöglicht und herstellt. Die gemeinsame Sprache ist nur die Grundlage und der Anstoss für eine geistige Organisation. Das aber, was beim Fehlen des äusseren Bandes dennoch die Glieder eines Volkes zu einer Gesamtheit macht oder als solche erhält, wie in dem angeführten naheliegenden Beispiel aus der Geschichte, ist eben die geistige Organisation.

Den Juden in Deutschland nun fehlt die Verbindung von aussen her; denn ihre gemeinsame deutsche Sprache teilen sie gerade mit den Gegnern. Die Religion aber, obgleich sie nur ihnen eigen ist und sie von ihren Mitbürgern deutlich sondert, wirkt heute nicht mehr als einigendes Prinzip, weil unsere Zeit unreligiös ist. Da wir ferner nicht mehr im Ghetto wohnen, noch auch ein gelbes Abzeichen am Kleide tragen, so ist es für uns freilich besonders schwierig, den Anschluss aneinander zu finden. Gelänge es nun, trotzdem eine lebendige geistige Organisation unter den deutschen Juden herzustellen, so könnte der Erfolg nicht ausbleiben, und der politische Zusammenschluss zu einer eigenen Individualität müsste erfolgen. Oder besser, — um nicht missverstanden zu werden, — die geistige Organisation selbst wäre schon der politische Zusammenschluss, sie wäre die Erfüllung der individualistischen Zeittendenz, sie wäre eben das, was wir oben als unsere Aufgabe bezeichnet haben. Ob dem alsdann eine politische Aktion entsprechen werde und welche, können wir weder wissen, noch braucht es uns heute schon zu kümmern.

 Es handelt sich also darum, bewusst und künstlich jene Einheit der geistigen Interessen unter den deutschen Juden hervorzubringen, welche bei anderen Nationen natürlich und unbewusst durch die blosse Sprachgemeinschaft hergestellt wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig, Mittel und Wege zu finden, um alle geistigen und kulturellen Bestrebungen und Leistungen der deutschen Juden den Glaubensgenossen als speziell jüdische Arbeit ins Bewusstsein zu rufen. Es gilt, eine Institution zu schaffen, die es ermöglicht, den jüdischen Anteil am kulturellen Fortschritt jederzeit zu übersehen und zu einem lebendigen Bewusstseinsinhalt aller deutschen Juden zu machen. Nun sind freilich unsere Kulturinteressen von denen unserer Umgebung im Grossen und Ganzen keineswegs verschieden, und es scheint, als ob mit dieser Einrichtung nicht viel geholfen wäre. Aber eben das Fehlen besonderer jüdischer Kulturinteressen ist mit dem Fehlen einer geistigen Einheit identisch. Geistige Organisation der Juden herstellen, heisst nichts anderes, als gesonderte jüdische Kulturinteressen schaffen. Oder endlich: Die Tendenz unserer Zeit zur Individualisierung der Nationen stellt uns Juden eben die Aufgabe, ein jüdisches geistiges Arbeitsgebiet zu finden, welches sich dem unserer christlichen Mitbürger deutlich unterschieden gegenüber und zur Seite stellt.

Erörtern wir zunächst die Möglichkeit dieser jüdischen Kulturinteressen auf dem Gebiete der Wissenschaft, so wird man sagen, dass es eine jüdische Wissenschaft nur geben könne, insofern sie Wissenschaft vom Judentume sei. In der Tat eröffnet sich hier ein wichtiges Arbeitsfeld, das, gehörig bestellt, die reichsten Früchte zu tragen verspricht. Und zwar hat die Wissenschaft vom Judentum, wie mir scheint, die grosse Aufgabe, endlich einmal die Bedeutung der Juden für die Entwicklung der gesamten menschlichen Kultur zu erforschen und darzustellen. Eine Weltgeschichte unter dem Zeichen des Judentums muss und wird einmal geschrieben werden.

Dieses Sondergebiet indessen wird für sich allein von keinerlei Bedeutung für die Individualisierung der Juden sein, wenn es nicht gelingt, eine jüdische Wissenschaft auch in anderem Sinne zu gründen. Es gibt freilich keine jüdische Wahrheit, die von derjenigen anderer Nationen verschieden wäre. Wohl aber gibt es oder kann es geben wissenschaftliche Forschungsgebiete oder Methoden, welche aus inneren oder äusseren Gründen den Juden reserviert bleiben. So ist z. B. die vergleichende Sprachwissenschaft und die Neuphilologie überhaupt eine ausgeprägt deutsche Wissenschaft, vielleicht infolge des äusseren Umstandes, dass ihre Gründer zufällig Deutsche waren und natürlich am meisten in Deutschland Schule machten. Vielleicht aber ist ein innerer Zusammenhang wirksam, indem die besondere Methode dieser Disziplin Fähigkeiten erfordert, welche den Deutschen vor allen anderen eigen sind. In diesem Sinne also könnte auch eine jüdische Wissenschaft entstehen, und es ist unsere Aufgabe, daraufhin zu wirken. Freilich lässt sich unser Gebiet nicht mit bewusster Überlegung finden noch etwa nach gegenseitiger Verabredung festlegen. Alles, was wir tun können, ist, dass wir die gesamte, von Juden geleistete wissenschaftliche Arbeit in irgendeiner Institution zusammenfassen und als jüdische Leistung zum Bewusstsein bringen. Wenn überhaupt eine jüdische Wissenschaft möglich ist, so wird sie sich dann von selbst entwickeln. Es wird sich nämlich auf Grund dieser Zusammenfassung herausstellen, dass gewisse Gebiete besonders oft und mit besonderem Erfolg von Juden bearbeitet sind. Es werden daraufhin die Juden auf nichtjüdischer Seite einen Ruf als Spezialisten für dieses Gebiet oder diese Methode erwerben, dagegen wird auf unserer Seite der Ehrgeiz geschürt, diesen Ruf zu rechtfertigen. Es wird alsdann ein Vorzug sein oder wenigstens einen bestimmten Sinn haben, wenn jemand als Jude in der Wissenschaft auftritt. Bei den ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten unseres Volkes bin ich überzeugt, dass es nirgends so leicht sich zu einer Individualität entwickeln kann, wie auf dem Gebiete der Wissenschaft.

 Wir reihen hieran, bevor wir zur Betrachtung der Kunst übergehen, die Kritik. Hier gibt es schon fast so etwas wie ein jüdisches Sondergebiet. Oder besser: Die Kritik überhaupt ist beinahe zum jüdischen Sondergebiet geworden. Es wird diese Tatsache bis jetzt freilich als ein Vorwurf von der Gegenseite behauptet. Jedoch mag das Judentum in der Kritik sich in sympathischer oder unsympathischer Weise äussern: daran lässt sich nicht zweifeln, dass, wo überhaupt Eigentümlichkeiten zu bemerken sind, sie zu einem Vorzug entwickelt werden können. Haben wir also eine besondere Art jüdischer Kritik, so lässt sich daraus Nutzen ziehen. Nur ist notwendig, dass der jüdische Kritiker sich auch als Juden gibt und als solcher erkannt wird. Auch hier wieder handelt es sich darum, eine Institution zu schaffen, mit deren Hilfe das Wirken der jüdischen Kritiker zu übersehen ist. Auf diese Weise kann sich eine jüdische Publizistenschule entwickeln, deren unterscheidende Kennzeichen sicher auch ihr besonderer Ruhm sein werden. Alsdann wird man es sich zur Ehre anrechnen, jüdischer Kritiker zu sein, während heute gerade diese Kreise zu den fanatischsten Assimilanten gehören. Oder ist es nicht bezeichnend, dass just aus ihrer Mitte ein Protestruf gegen die jungjüdische Literatur erschollen ist? Aber die Herren sind wahrlich in einer peinlichen Lage. Sie waren so stolz darauf, dass sie, die Enkel von Ghettojuden, heute, ohne eine Spur der urväterlichen Beengtheit an sich zu tragen, ihrer Zeit mit der modernsten Kultur vorangingen; wie muss ihnen zu Mute sein, wenn plötzlich die allermodernste Kultur eben im Ghetto erblüht? Das haben sie freilich nicht erwartet.

Jedoch wenden wir uns zur Kunst und damit zu demjenigen Teil geistigen Schaffens, von welchem zu guter Letzt das Heil zu erwarten ist.

 Bereits Richard Wagner schrieb einen hasserfüllten Aufsatz gegen das Judentum in der Musik. Daraus können wir zum Mindesten die eine wichtige Tatsache entnehmen, dass er aus der Musik der Juden das Nationale herausgehört hat. Es gibt also jüdische Musik, und das ist kein Wunder, da wir doch französische, russische, italienische deutlich unterscheiden. Die jüdischen Eigentümlichkeiten der tönenden Kunst zu Werten zu steigern, das freilich ist die Aufgabe; wenn sie aber erfüllt worden, so ist kein Zweifel, dass man sie auch als Werte empfinden und anerkennen wird; denn in der Kunst ist das Suchen und Finden von Ausdrucksformen für eine Individualität stets das letzte Ziel und der höchste Gewinn allen Strebens.

Vielleicht ist bei der Musik, als der am wenigsten stofflichen Kunst, der Hinweis auf ein jüdisches Stoffgebiet nicht unwillkommen. Ich meine nämlich, dass die jüdische Musik einen starken Aufschwung nehmen würde, wenn sich jüdische Komponisten entschlössen, für alte gottesdienstliche Zeremonien neue Melodien zu erfinden. Man könnte dieses im grössten Stile betreiben und z. B. die Liturgie des Versöhnungstages einheitlich durchkomponieren. Erinnern wir uns, wie Bach mit seinen Passionen eine protestantische Musik geschaffen hat. Das Ideal einer jüdischen Messe, wenn der Ausdruck gestattet ist, schwebt mir vor. Freilich weiss ich, dass es nicht von heute zu morgen erreicht werden kann, und dass die Erfüllung überhaupt nicht von Zeitungsartikeln, sondern von dem musikalischen Genie zu erwarten ist. Möge es unserem Volke beschert werden!

 Was soll ich von den übrigen Künsten sagen, das sich nicht jeder Nachdenkende aus dem Vorstehenden selbst ableiten könnte? Nur bei der Dichtung will ich verweilen; denn sie ist für unsere Zwecke das wichtigste Kampfmittel, nämlich dasjenige, welches am meisten propagierende Kraft hat.

 Wir können über die Möglichkeit einer jüdischen Kunst nirgends gewisser sein als im Gebiete der Literatur; denn wir Deutsche haben einen grossen jüdischen Dichter bereits gehabt; ich spreche von Heinrich Heine.

Es würde schwer halten, die Frage treffend zu beantworten, was an Heines Kunst denn jüdisch sei. Dass jüdische Kunst nicht identisch ist mit jüdischen Stoffen, das wird jedem geläufig sein, der sich je mit ästhetischen Dingen beschäftigt hat. Goethes „Iphigenie“ und Schillers „Jungfrau von Orleans“ sind darum nicht weniger deutsche Werke, weil jenes in Griechenland und dieses in Frankreich spielt. Es sind also der „Rabbi von Bacharach“ oder der „Jehuda ben Halewi“ ebensowenig für das Jüdische in Heines Kunst heranzuziehen, wie die „Disputation“, die „Bäder von Lucca“ oder dergleichen etwas dagegen beweisen. Die Aufgabe, Heines Werke auf ihre jüdischen Elemente hin zu untersuchen, so verlockend sie ist, liegt hier nicht auf unserem Wege. Wir brauchen das auch nicht, denn wir haben für die Existenz dieser Elemente einen bequemen und schlagenden Beweis: Den Hass der Gegner. Nehmen wir nicht Teil an der fruchtlosen Übertreibung, aus dem, was sich zum Schaden Heines des Juden regt, schlechtweg auf den Tiefstand der deutschen Kultur zu schliessen. Halten wir uns an die ehrlichen unter seinen Widersachern, und glauben wir ihnen aufs Wort, dass Heine ihnen unsympathisch sei wegen seiner undeutschen, nationaljüdischen Eigenschaften. Wir dürfen es ihnen gerne glauben, denn es ist sein Ruhm. Dass er die Religion gewechselt hat, wer wollte es wagen, mit ihm darüber zu rechten? Jeder Künstler braucht, mehr als jeder andere Mensch, für seine individuellen Kämpfe den Grund eines unerschütterten Nationalstolzes. Darf man sich wundern, dass er diesen Stolz in seinem Judentum nicht fand? Wieviele gibt es denn, die heute in diesem Gefühle fest sind? Darf man sich wundern, dass er ihn zu finden hoffte, indem er auf die Seite der Bevorzugten übertrat? Er ist dennoch Jude geblieben; die Zahl seiner Feinde bezeugt es. Wir aber sollen ihn endlich als den Unsrigen anerkennen! Wir sollen uns seiner freuen als des ersten grossen jüdischen Dichters in Deutschland. Beklagen wir es, dass es ihm nicht vergönnt war, auch in seinem Bewusstsein ungeteilt Jude zu sein. Aber hören wir endlich auf, von den Deutschen zu verlangen, sie sollen ihm ein Denkmal setzen. Wehe ihm und uns, wenn sie sich dazu bereit fänden! Dann wäre er wirklich ein Abtrünniger gewesen.

Heines Stellung zu seinem Volke jedoch ist nicht ohne üble Folgen geblieben, oder vielmehr, die guten Folgen, die seine Bedeutung hätte haben können, sind dadurch zu nichte gemacht worden.

Das Individualitätsbewusstsein eines Volkes, die geistige Organisation, nach der wir streben, kann durch nichts so leicht und sicher hergestellt werden, wie durch einen grossen Dichter. So haben unzweifelhaft Goethe und Schiller um die Einigung des Deutschen Reiches ein mindestens ebenso grosses Verdienst wie Bismarck. Wenn jene nicht den Grund gelegt hätten, dieser hätte nimmer den Bau vollenden können. Und man darf getrost behaupten, dass das Bewusstsein und der Ehrgeiz, mit Goethe eines Volkes zu sein, die geistige Einheit und damit die Einheit überhaupt unter den deutschen Stämmen bewahren wird für alle Zeiten und über allen Wechsel der politischen Verhältnisse hinweg.

 Diese einigende Wirkung nun, die Heine seiner künstlerischen Bedeutung nach für die deutschen Juden hätte üben können, ist ausgeblieben wegen seines zwiespältigen Menschentumes und der daraus folgenden schwankenden Stellung zu seinem Volke. Einem anderen ist diese Mission vorbehalten. Wir erwarten diesen Einen, und die Erkenntnis, dass wir ihn brauchen, ist augenblicklich unsere tiefste Weisheit. Die Zeit und die Lage, so sahen wir, fordern die Individualisierung der deutschen Juden; die Grundlage ist der geistige Zusammenschluss; von allen geistigen Gebieten hat die grösste einigende Kraft die Kunst, und unter allen Künsten wieder die Dichtung. Vielleicht darf man den Kreis noch enger ziehen und die Erlösung letzten Endes vom Drama erwarten.

Ein Goethe der Juden in Deutschland — so möchte ich die Persönlichkeit bezeichnen, die uns not tut. Hätten wir sie, so hätten wir die geistige Organisation, so wären wir deutschen Juden eine Individualität, so würden wir uns als solche fühlen und als solche geachtet werden. Ich weiss, dass die klarste Erkenntnis von der Notwendigkeit dieser Erscheinung nicht im Stande ist, sie hervorzubringen; aber diese Einsicht kann uns den Boden bereiten helfen. Das Genie wird erst hervorgehen aus einer Generation von Gleichstrebenden. Es muss schon eine jüdische Literatur in Deutschland geben, damit ein grosser Dichter die günstigen Entwickelungsbedingungen findet.

An die Produktiven unter den deutschen Juden ergeht daher der Ruf. Ob sie etwas leisten, und ob sie dieses als Juden leisten und als Juden einen Ruf erwerben, davon allein hängt es ab, ob die Bestrebungen nach Wiedererweckung des jüdischen Volksbewusstseins in Deutschland Erfolg haben oder nicht. Und ich prophezeie: Gelingt es der jetzt lebenden und strebenden Generation nicht, zugleich als Juden und als Künstler, nicht nur unter den deutschen Juden, sondern unter den Deutschen überhaupt, sich durchzusetzen und einen Platz im modernen Geistesleben zu erobern, so verläuft die ganze sogenannte jüdische Renaissance spurlos im Sande. Gelingt es ihr aber, so hat das Nationaljudentum gesiegt, und die traurige Zeit der Assimilation ist vorüber.

III.

Indem ich nun dazu übergehe, aus den theoretischen Prämissen die praktischen Folgerungen zu ziehen, so bin ich auf den Vorwurf gefasst, dass das, was ich denn nun tatsächlich an realen Vorschlägen zu machen weiss, zu den langen Erörterungen in keinem rechten Verhältnisse stehe. Indessen hier handelt es sich nicht darum, dem staunenden Auge des entzückten Lesers schimmernde Luftschlösser einer schmeichelhaften Zukunft vorzugaukeln, sondern nüchtern Dinge anzuraten, welche Aussicht auf Verwirklichung haben. Wir wollen uns aber erinnern, dass wir erst am Anfang einer Entwickelung stehen und wollen den Bau nicht mit dem Dache beginnen.

Ich schlage also vor, ein Jahrbuch zu begründen, welches etwa den Titel tragen könnte: „Jahrbuch für jüdische Kultur in Deutschland,“ oder ähnlich. Dieses Jahrbuch hätte die Aufgabe, ein Compendium zu sein der gesamten geistigen Produktion der deutschen Juden. Es zerfiele in drei Teile. Der erste enthielte eine vollständige Bibliographie alles dessen, was von deutschen Juden in dem vorangehenden Jahre veröffentlicht worden ist. Wissenschaftliche und kritische Schriften müssten hier ebenso verzeichnet sein wie Werke der schönen Literatur; Leistungen in der Musik, in den bildenden Künsten, in der Architektur ebenso wie Erfolge der Technik, Entdeckungen, Erfindungen.

 Ob die Arbeiten jüdische Interessen zum Gegenstand haben, ist in dieser Bibliographie natürlich ganz gleichgiltig. In einem Anhang aber könnte man Veröffentlichungen über Juden und Judentum, von wem auch immer sie stammen, zusammenstellen.

Der zweite Teil soll kritischer Art sein. Ihm fällt die Aufgabe zu, die wichtigeren Erscheinungen zu rezensieren, von ihnen in grösserem Zusammenhange Bericht zu geben — da der Einzelne, der sich unterrichten will, unmöglich alles selbst lesen kann — und endlich das Geleistete von einer höheren Warte und in Verbindung mit dem gesamten deutschen und europäischen Kulturleben zu betrachten und zu würdigen.

Kein Fehler liegt hier so nahe und wäre zugleich so verhängnisvoll wie die Überschätzung der jüdischen Leistungen im Vergleich mit denen unserer Mitbürger. Er würde uns unweigerlich der Lächerlichkeit preisgeben und gerade die besten Kräfte fernhalten, statt sie heranzuziehen. Im Übrigen dürfte die Abfassung dieses Teils an Arbeit, Wissen und Können die grössten Anforderungen stellen; der Wert einer solchen fortlaufenden Geistesgeschichte aber kann unermesslich sein.

Endlich der dritte Teil; er liegt mir vor allem am Herzen und von ihm zumeist erwarte ich eine Wirkung nach aussen. Was der erste tabellarisch trocken zusammenstellte, was der zweite kritisch behandelte, das soll der dritte unmittelbar zeigen. Die bedeutendsten Kunstschöpfungen der deutschen Juden, welche im vergangenen Jahre entstanden sind, sollen hier dargeboten werden. Er soll mit Kunstblättern ausgestattet sein; den Hauptraum aber werden hier dichterische Werke einnehmen. Und zwar sollen nicht etwa Proben aus der literarischen Ernte aufgetischt werden, sondern die betreffenden Dichtungen sollen hier vollständig und zum ersten Male ans Licht treten. Dabei wird es sich leicht ereignen, dass der Raum eines Jahrbuches überschritten werden müsste. Es wird sich also empfehlen, Werke grösseren Umfanges für sich erscheinen zu lassen unter der Bezeichnung: „Herausgegeben vom Jahrbuch für jüdische Kultur.“ Verfügt der zu gründende Verlag über genügende Mittel, um diese Ausgaben besonders wohlfeil abgeben zu können, so wird der Sache selbst wie den Autoren damit nur gedient sein.

Dass bei der Entscheidung über die Aufnahme eines Werkes der höchste künstlerische Massstab angelegt werde, ist die erste Bedingung für den Erfolg, für jenen Erfolg nämlich, der nicht dem Geldbeutel des Verlegers, sondern der Idee der geistigen Organisation des Judentums zu gute kommt. Es handelt sich nicht darum, jedem dichtenden Nationaljuden zum Worte zu verhelfen sondern; die Aufgabe ist gerade, die begabten Indifferenten zu gewinnen. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Auswahl so getroffen wird, dass es eine Ehre ist, und zwar eine künstlerische Ehre, in dem jüdischen Jahrbuche zu erscheinen. Es geht also keineswegs an, dass die brave nationaljüdische Gesinnung einer Arbeit ihren ästhetischen Dilettantismus vergessen mache. Es liegt überhaupt nichts daran, ob jüdische oder nichtjüdische Stoffe behandelt werden. Die Beschränkung auf jene scheint mir der Fehler aller bisherigen ähnlichen Versuche zu sein. Es gilt, sich einen Platz in der Literatur zu erobern, und da kommt es lediglich auf die künstlerische Bedeutung und nicht auf den Partei- oder Tendenzwert an. Nur wenn sich wirklich die besten Produktiven der deutschen Juden in diesem Jahrbuch vereinigen, kann ein Zusammenschluss der Geister erfolgen, kann sich — wenn man den Ausdruck nicht missverstehen will, — eine Art jüdischer Dichterschule in Deutschland bilden. Man denke an die Sturm- und Drangzeit, an die Romantik, an das junge Deutschland, um sich zu vergegenwärtigen, was hier unter „Schule“ gemeint ist. Ich glaube, dass sich überall junge Kräfte regen, die zu dieser Partei der Geister hinstreben. Sollte dennoch der Ertrag an Gutem im Anfange spärlich sein, so veröffentliche man wenig, fehlt er ganz, so gebe man garnichts heraus. Was dieses Jahr nicht bringt, kann im nächsten oder übernächsten Jahre vorhanden sein. Bleiben die grossen Leistungen ganz aus, so wird man den Mangel nicht dadurch beseitigen, dass man Mittelmässiges für gut erklärt. Sollte die schöpferische Kraft unter den deutschen Juden nicht hinreichen, Kunst werte hervorzubringen, nun, so müssen wir schweigen; so haben wir uns in unserem Volke getäuscht.

 Mir ist aber nicht bange, dass es so kommen könnte.

Die Konstitution des Jahrbuches erfordert einen erfahrenen Leiter und einen Stab begabter, kenntnisreicher und arbeitswilliger Mitarbeiter. Sie fordert Opferwilligkeit; denn es wird nötig sein, sich gegen Gleichgültigkeit, Spott und alle Arten von Feindseligkeiten in geduldiger Kleinarbeit durchzusetzen. Sie erfordert aber vor allen Dingen Geld. Ohne eine finanzielle Fundierung, welche das Unternehmen aller Rücksichten auf den buchhändlerischen Erfolg überhebt, ist das Jahrbuch ein totgeborenes Kind. Ich vertraue aber auf die Grossherzigkeit, den Gemeinsinn und — die Geldkraft der deutschen Juden, sodass die Gründung, wenn sich nur sonst die rechten Männer finden, an dieser Klippe nicht scheitern wird. Das Jahrbuch ist nur ein Anfang. Es ist leicht, eine Reihe weiterer Gründungen und Institutionen sich vorzustellen und sich die Zukunft in lockenden Farben auszumalen. Ich überlasse es der Phantasie des Lesers; ich stelle es auch dem Belieben eines jeden anheim, wie er sich das politische Resultat denken will, nachdem die geistige Organisation erreicht sein wird. Ob es zu einer Staatenbildung kommt, wie der Zionismus hofft, ob eine organisierte Partei entsteht, wie die Sozialdemokratie es ist, ob sich eine gesellschaftliche Kaste bildet, wie sie heute der Offizierstand darstellt — möge jeder das erwarten, was ihm das liebste wäre. Es wird die Sorge der Enkel sein. Unsere Sorge aber ist es, den Anfang zu machen und den Grund zu legen.

Die Zeit des Individualismus wird vorbeigehen, wie bisher alle solche allgemeinen Lebensideale überwunden worden sind. Aber was in dieser Weltanschauung und aus ihr geleistet worden ist, das wird bleiben oder fortwirken auf die, die danach kommen, und wird ihnen helfen, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen der Geist ihrer Zeit stellt. Was aber versäumt worden, trotzdem es in der Zeit lag, das ist ein für allemal versäumt und bleibt eine Schuld, die sich nicht mehr tilgen lässt. Hüten wir uns, diese Schuld auf uns zu nehmen! Hüten wir uns, den Ruf nach Individualisierung, den unser Jahrhundert erschallen lässt, und den die Nationen um uns her vernehmen, für uns selbst zu überhören oder nicht zu verstehen! Und greifen wir dort zu, wo wir deutschen Juden das Zeitideal verwirklichen können: In der geistigen Organisation.