Zur Biographie: Ida Oppenheim

 In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 31 vom 03.08.1888, S. 305f / Ausgabe 32 vom 10.08.1888, S. 313f / Ausgabe 35 vom 31.08.1888, S. 337f / Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 347f / Ausgabe 37 vom 14.09.1888, S. 355ff

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Tran-skription

Die Geschwister.
Novellette von Ida Oppenheim.



Da lag es von Mondschein umflossen, das kleine, weltvergessene Städtchen an Polens Grenze, so still und friedlich, als ob nie in seinen Mauern Sorge, Noth, Elend und Verfolgung den Einzug gehalten hätten.
In der Mitte des Marktplatzes floß ruhig der kleine Brunnen, dessen silberglänzendes Wasser
den sie umkosenden Mondestrahlen wunderlich geheimnißvolle Märchen und Geschichten zuflüsterte, die sie unten in der dunklen Tiefe vernommen. In den kleinen Häuschen schimmerten hie
und da winzige Lichtchen. Durch die mit Blei eingefaßten Scheiben sah man manche fleißige
Hand sich zu so später Stunde noch regen. Im Ghetto, das sich unmittelbar an den Marktplatz
schloß, war es völlig dunkel und still geworden. Die Leue dort hatten einen schlimmen Tag hinter
sich. Voll Aufregung verkündete am Morgen der Schulklopfer durch zwei starke Schläge, daß ein
Glied der Gemeinde in der Nacht gestorben war. Die rüstige Frau des Lehrers, die fleißige, unermüdliche Lehrer Lea war ihrem Gatten in eine bessere Welt gefolgt und ließ ihre beiden unversorgten Kinder hilflos zurück.
Das war ein harter Schlag für die arme Gemeinde, deren Mitglieder kaum für sich sorgen konnten.
Wie hatte das brave Weib geschafft und gearbeitet von früh bis spät in die Nacht, ohne Aufhören, ohne sich Ruhe zu gönnen. In einer kleinen Dachkammer hatte sie mit ihren Kindern Hunger
und Kälte gelitten, um nur nicht den Menschen zu Last zu fallen. Monate lang war sie für den leidenden Gatten thätig gewesen, hatte ihn gepflegt mit Geduld und Aufopferung all’ ihrer Kräfte. In
ihrer Herzensangst war sie zu einem wunderthätigen Rabbi geeilt und hatte dort ihre letzten Zehrpfennige niedergelegt, damit der fromme Mann für die Erhaltung ihres Ernährers beten sollte. Alles
war vergebens gewesen, keine Thräne, keine Gebete konnten das fliehende Leben halten. Er
starb nach langen, bangen Wochen und Monden. Die Lehrer Lea begrub den Gatten und arbeitete
für ihre Kinder. Die aufreibende Thätigkeit schadete ihrer Gesundheit, die sie längst zum Theile
eingebüßt. An einem Morgen war sie unfähig, sich zu erheben und rief mit schwacher Stimme ihren siebenjährigen Samuel zu sich und die fünfjährige Sarah. Legte ihre kalten, zitternden Hände
auf die Häupter ihrer Lieben und segnete sie.
„Habt Euch lieb, habt Euch lieb“, flüsterte sie ihnen mit erstickter Stimme zu und vereinte die
beiden Kinderhände in ihrer Rechten. Die Nachbarn kamen und gingen und brachten viele Tränklein kräftigen Thee, Erquickungen aller Art.
Lea lag mit dunkelleuchtenden Augen und brennenden Wangen auf dem dürftigen Lager. Die
kranke Brust hob und senkte sich schwer und ein hohler Husten ertönte dann und wann dumpf in
dem kleinen Gemache. Sie hielt die beiden Hände ihrer Lieblinge fest, und sah sie abwechselnd
an mit jenem Blicke unendlicher Liebe und Trauer, wie ihn nur ein Mutterauge haben kann.
Die ernsten Kinderaugen, die schon so früh Leid gesehen, senkten sich in die ihren. Sie verstanden nicht jene heiß zärtlichen Blicke der schon halb Verklärten, aber ein unendlich banges Gefühl
ließ die kleinen Herzen angstvoll schlagen. Sie schmiegten sich immer fester und fester an die
Sterbende, die immer wieder und wieder sich zu beleben schien beim Anblick ihrer Kleinen, für
die sie sorgen sollte, die sie brauchten und brauchen würden zu jeder Stunde und an jedem Tage.
Einen so schweren Kampf hatte wohl selten Jemand gekämpft, wie die Lehrer Lea auf ihrem elenden Lager. Mit eisernen Ketten umschlang sie der Tod, eiserne, unzerreißbare Ketten hielten sie
fest am Leben, das ja für sie nur Entbehrung, Mühe und Last bedeutet hatte. Ihre Kinder sollte sie lassen und sie ließ sie.
Bleiches Frühroth hatte ihre brechende Augen geküßt, der dämmernde Morgen fand zwei friedlich schlafende Waisen am Todenbett der Mutter. Die Leute, die um sie gewesen, gingen fast alle
heim. Nur einige ganz alte Frauen setzten sich zu Füßen des Bettes und sprachen leise miteinander, oft einen eigenthümlich sorgenden Blick auf die lieblich Schlummernden werfend. Am Tage
hatten lebhafte Debatten und Berathungen beim Rabbiner und Vorsteher stattgefunden. Man
mußte für die Waisen eine Heimat finden. Niemand war im Stande, die Kinder aufzunehmen, jeder
hatte soviel mit sich und den Seinen zu thun. Endlich erbot sich der Rabbi, gegen geringe Entschädigung den kleinen Samuel zu nehmen, um ihn mit seinen vier Söhnen zusammen zu erziehen. Sarah blieb beim Schulklopfer und wiegte dort das jüngste Kind der stets keifenden, zornigen Frau. Am Tage sagen sich die Geschwister selten. Am Abend jedoch wanderten beide hinaus
zum Friedhofe und saßen an den Gräbern ihrer Eltern. Samuel liebkoste das weinende Schwesterchen, das vor Sehnsucht nach ihm und der todten Mutter bleich und traurig aussah. Er erzählte
ihr Geschichten, brachte ihr Leckerbissen, ein Stücklein frisches Brod, einige Waldbeeren, eine
paar süße Kirschen, die er mit Noth und Mühe durch kleine Dienstleistungen aller Art sich errungen hatte. Der Knabe war von wunderbarer Schönheit, obgleich sein fast überschlanker Körper
durch das stundenlange Sitzen im Cheder geneigt war. Seine gelblich blasse Gesichtsfarbe, der
schwermüthige Blick seiner dunklen, großen von tiefschwarzen Wimpern umschatteten Augen,
die leicht gebogene Nase mit den beweglichen Flügeln, der fest geschlossene, schön geschwungene Mund und die langen seidenweichen Locken gaben ihm das Aussehen eines früh gereiften
genialen Jünglings aus altclassischer Zeit.
In den rothen Haaren seines Schwesterchens trieben die Sonnenstrahlen ein gar neckisches
Spiel da funkelte und blitzte es, daß man meinen konnte, flüssig Gold wäre auf das Haupt der
Kleinen ausgegossen. Ihre Augen wechselten immerfort die Farbe. Bald leuchteten sie grünlich,
bald stahlgrau, bald blau und bald schwarz. Man konnte sie mit jenen tiefen, schimmernden Teichen vergleichen, o geheimnißvoll leuchteten, so seltsam fragend sahen sie in die Welt. Ueber die
zarte Kindergestalt war unendlicher Liebreiz ausgegossen. Edel war ihre Haltung. Im neckischen
Spiel, im kindlich ernsten Gespräch zeigte sich eine Anmuth, die jedermann mit Staunen erfüllen
mußte.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 32 vom 10.08.1888, S. 313f


(Fortsetzung.)


Im Ghetto kümmerten die Leute sich wenig um die liebliche Blume, die so still aufwuchs und
selten ein freundliches Wort, einen liebevollen Blick erhielt.
Gar Manchen erschien ihr Dasein überflüssig und Vielen schien sie im Wege zu sein. Die Kinder
liebten die rothe Sarah, wie man sie nannte, weil sie stets freundlich, bescheiden und gern gefällig
war, wo sie nur immer konnte. Sie nahm beim Spiel stets den letzten Platz ein, war geduldig und
schlichtete jeden Streit. Viel Zeit gönnte ihr die Schulklopfersfrau nimmer. Sie mußte die kleinen
Kinder warten und sich nach Kräften im Haushalt beschäftigen. Oft waren die Hände glühend roth
und der zarte Körper bog sich unter der Last, die sie trug. Gott schützt Waisen, er ist Vater über
alle und läßt blühen und vergehen. Er schmückte Sarah mit noch immer neuem Liebreiz. Trotz
mancher Entbehrung, trotz herber Arbeit wuchs sie empor, kräftig und wohlgebildet wie keine zweite im Ghetto.
Da ereignete sich, daß mehrere Jahre nach dem Tode der Lehrer Lea ein reicher Mann aus dem
Süden Rußlands mit seiner kränklichen Frau das Städtchen passirte. Ein Unfall ließ beide im Hause des Rabbi übernachten. Dieser unterrichtete die Fremden von den Verhältnissen der kleinen
Gemeinde. Er klagte über die steten Bedrückungen und Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, wie sie nie sicher waren vor den rohen Bauern, ihren argen Feinden, wie sie ihr Leben so
mühsam fristeten, nur angewiesen auf den Handel in elenden, kleinen Nachbardörfchen. Dort
höhnte, verspottete, schlug und hetzte man Hunde auf sie, „die bei Allen verfluchten Juden.“
Wenn sie am Freitag todtmüde heimkehrten, dann empfingen sie daheim die Frauen und Kinder
mit Klagen aller Art und selten verlebten sie einen Sabbat oder Feiertag still und friedlich daheim.
Der Fremde ließ sich die Hausgenossen des Rabbi vorführen und betrachtete mit Wohlgefallen
den schönen, ernsten Samuel, der frei und offen, die an ihn gerichteten Fragen beantwortete. Er
rief den Knaben an seine Seite und streichelte liebkosend seine dunklen Locken. Der Rabbi ließ
seinen Zögling Proben seiner Kenntnisse im Talmud geben und der Fremde erstaunte über das
scharfsinnige Urtheil und die klare Auffassung des Jünglings. Eine halbe Stunde mochten sich die
Drei unterhalten haben, als der Fremde eine seltsame Unruhe an dem Knaben bemerkte. Freundlich ernst fragte er nach der Ursache. Samuel stammelte glühend roth einige Worte der Entschuldigung und sagte, „daß draußen sein Schwesterchen warte um mit ihm den gewohnten Abendgang zum Friedhof anzutreten.“
„Hohle Dein Schwesterchen,“ bat gerührt der Fremde und die rothe Sarah trat von Samuel geleitet ins Zimmer. Sittsam verneigte sich das Mädchen vor den Anwesenden und der Mann trat
unwillkürlich einen Schritt zurück, so überraschte und blendete ihn die wunderbar liebliche Erscheinung des Mädchens. Noch kindlich unreif waren die zartgeformten, rosigen Glieder, die
kaum bedeckt wurden von dem dürftigen, fast zu ärmlichen Anzug. Das kurze, vielfach geflickte
Röckchen ließ die Füßchen bis zu den Knöcheln frei und die Arme sahen weit aus dem engen
Jäckchen hervor, das die Besitzerin längst ausgewachsen hatte. Seine Augen hingen gebannt an
den feinen Zügen, an den goldblonden Haaren. Er hörte das schüchterne Flüstern ihrer weichen,
sanften Stimme und ein mächtiges Gefühl der Theilnahme, des innigsten Mitgefühls regte sich in ihm.
Hatte er doch vernommen von der gänzlichen Mittellosigkeit der Waisen, von der treuen Liebe
und dem herzlich zärtlichen Zusammenhalten der Geschwister. In ihm tauchte plötzlich der Gedanke, der Wunsch auf, das Mädchen mit sich zu nehmen, sie zu hüten und sie zu erziehen. Ihm
war das Glück versagt, ein eigenes Kind ans Herz zu drücken, so wollte er die Waise zu sich
nehmen, an Kindesstatt.
Heftig arbeiteten die Gedanken in seinem Hirn. Sie erhielten ihn noch lange wach am Abend.
Eingehend besprach er mit seiner Gattin den Plan, der so schnell in ihm gereift. Sie selber hatte
auch Sarah vom ersten Moment an liebgewonnen und billigte vollkommen den Vorschlag des
Gatten. Beglückte sie doch stets das, was ihn erfreute und bemühte sie sich immer, ihr Wünschen
und Wollen dem seinen anzupassen.
Wie eine Gottesfügung begrüßte der Rabbi den Vorschlag des Fremden. War er doch selbst
niemals ruhig und befriedigt gewesen, seitdem er das Mädchen unter so wenig guter Obhut wußte. Es schmerzte ihn, daß sie sich plagen und quälen mußte, für das so elende Unterkommen.
Fühlte er doch, daß die zarte Blüthe auf anderm Boden sich reicher und besser entfalten würde
als hier in Dürftigkeit und bittrer Noth.
Ueberall im Ghetto pries man das Glück der kleinen Sarah. Unglaublich schnell hatte sich das
Gerücht verbreitet. Geschwätzige Zungen trugen es im Nu von einem zum andern. Von vielen
ward sie beneidet. Sie, die seit ihrer frühesten Kindheit nur Entbehrung gekannt, sie sollte von
Reichthum, Pracht und Glanz umgeben werden.
Sie wird hinaus in die Fremde kommen, wird viel des Schönen und Angenehmen sehen und
lernen. „Bald wird sie das Ghetto und ihre einfache Herkunft vergessen,“ so redeten die Frauen
und die dunkeläugigen Mädchen, sie wisperten von schönen glänzenden Sachen, die Sarah tragen würde, von seidenen Kleidern, Gold, Geschmeide und einem reichen Bräutigam.
Verstohlen blickten sie Sarah an und meinten, daß sie sie dann im Glücke wenig achten und
ihrer nicht gedenken werde. Wohl Jede hätte gern mit dem Mädchen getauscht, welches seit der
Stunde, da man ihr die Aussicht für die Zukunft eröffnet hatte, nicht mehr froh und heiter erschien.
Als man ihr die Mittheilung machte, daß sie sich von ihrem Bruder trennen sollte, da hatte lilienhafte Blässe das Gesicht überzogen, ein heftiges Zittern durchflog den Körper, und die Augen
starrten gleich glühenden Kohlen den Fremden an, der ihr in liebevollster Weise zusprach, und sie
für sich zu gewinnen suchte.
Sie schlang die Arme fest um den geliebten Bruder und preßte ihre Lippen auf die seinen, ohne
ein Wort zu sagen. Ihr Schmerz fand keinen Ausdruck. Dennoch ließ sie die geringen Vorbereitungen, die zur Reise gemacht wurden, geschehen und bemühte sich freundlich um ihren neuen
Wohlthäter. Samuel flüsterte sie immer wieder zu: „Ich vergesse Dich nicht, mein Bruder, ich hole
Dich, wenn ich reich geworden bin, und genug habe für uns beide. Der Knabe nahm sie dann in
seine Arme, küßte sie mit leidenschaftlicher Innigkeit und versicherte ein über das andere Mal,
daß er bald, bald zu ihr kommen werde. Zuerst müsse er noch viel viel lernen, dann wollte er
wandern von Stadt zu Stadt und sie aufsuchen, sein süßes Schwesterlein. Und zum letzten Mal
hatten sich die Geschwister die Hände gedrückt, zum letzten Mal am Grabe der Eltern gestanden
und sich gelobt nie einander zu vergessen. Der Knabe trug äußerlich ruhig seinen Schmerz. Man
glaubte kaum, daß er sein Schwesterchen vermisse. Nie nannte er ihren Namen. Nur noch länger
saß er bei der Arbeit, bleicher wurden seine Wangen und müder sein Lächeln, das bald ganz verschwand. Seine einsamen Spatziergänge nach dem Friedhof dehnte er länger aus und wer ihn
dort gesehen hätte, der hätte nicht geglaubt, daß ein Jüngling kaum dem Kindesalter entwachsen,
so seinem Schmerze Ausdruck geben konnte, wie er.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 35 vom 31.08.1888, S. 337f


(Fortsetzung)


Da lag er denn und umfaßte den Hügel. Laut schluchzend rief er den Namen seines geliebten
Schwesterchens. Da küßte er die kleine, rothgoldene Locke, die er stets bei sich trug, da murmelte er leise immer wieder und wieder scheue Fragen, die er an sie richten wollte. Da schien er zu
lauschen, ob sich nicht bald ihre leichten Schritte vernehmen ließen. Und wenn dann niemand ihm
Antwort gab, wenn der Wind, das rauschende Bächlein und die eilenden Wolken seine Klagen
hörten, ohne ihn trösten zu können, ohne lindernden Balsam für sein Weh zu senden, dann preßte
er fest die Lippen zusammen, und schwur sich, nie Mühe und Entbehrung zu scheuen und dem
Ziele zuzustreben, das sein ganzes Denken und Sein erfüllte. In die Welt hinaus wollte er, lernen
studieren, um sie dann wiederzusehen, die er ganz allein liebte, die ihm alles war der Inbegriff des
Guten, Schönen und Liebenswürdigen. In den kalten Winternächten saß er dann stundenlang, zitternd vor Frost, in seiner elenden Dachkammer und lernte bei einem Stümpfchen Licht hochdeutsch lesen. Seine Wangen glühten und seine Augen leuchteten fieberhaft bei der Anstrengung.
Fabeln und Legenden, ja einzelne Gedichte fand er dann einmal tief versteckt unter den großen
Folianten des Rabbi, die er oft durchsuchte. Immer größere Fortschritte machte er, immer mehr
und mehr wußte er sich anzueignen, immer glühender wurde sein Begehren und immer zäher sein
Festhalten an seinem Plan, der ihm noch dunkel und unklar vorschwebte. Wenn das Lichtchen zu
später Stunde erlosch, dann warf er sich todtmüde und abgespannt auf sein Lager und schloß die
Augen. Im Traum sah er dann sein süßes Schwesterchen, ihn gleich einer Huldgestalt umschwebend. Sie belebte in ihm die Hoffnung immer wieder, sie fachte die Begeisterung an, für das Ziel,
das ihm als Endpunkt seines Wünschens und Wollens entgegenleuchtete. Der Rabbi liebte seinen
fleißigen Schüler und unterstützte dessen heißen Wissensdrang, indem er ihm heimlich Bücher
aller Art verschaffte. Niemals durfte emand im Ghetto profane Lectüre pflegen, auch heute sind
noch deutsche Bücher in manchen Kreisen Polens und Rußlands verpönt.
Unermüdlich arbeitete Samuel, ohne sich Ruhe noch Rast zu gönnen, täglich hoffend, daß ein
Briefblatt ihm Kunde bringen wird von der fernen Schwester. Doch wann langte je ein Brief im
Ghetto an. Wohl niemand hatte noch solch ein Wunderding empfangen. Abgeschlossen von der
Welt lag das kleine Städtchen, nur dann und wann drang Nachricht zu den Bewohnern, wie es da
draußen in der Welt, in der bunten zugehe. Sie schüttelten wohl nach so seltsamen, ihnen wunderbar erscheinenden Berichten höchst überrascht die Köpfe, sie konnten sie nicht fassen diese
curiosen Geschichten, die sich in der Ferne zutrugen.
Endlich kam der Augenblick, den Samuel längst ersehnt und gefürchtet, auf den er sich vorbereitet in vielen schlaflosen Nächten. Lange hatte er gebraucht, um den Gedanken, der fast unbewußt die Triebfeder seines Handelns gewesen, vor sich selbst klar und deutlich auszusprechen.
Zitternd stand er vor dem Rabbi und theilte ihm mit, daß er sein Ränzel schnüren wolle, um hinaus
in die Fremde zu gehen.
Der treue väterliche Freund hatte längst die Gedanken und Empfindungen errathen, die das
Herz und den Sinn seines Lieblingsschülers erfüllten. Mit Angst und zugleich mit hoher Befriedigung verfolgte er die wachsende Lernbegier, die stetig zunehmende Begeisterung des Jünglings
für alles Edle, Hohe und Schöne. Dennoch warnte er ihn ernst, indem er ihn aufmerksam machte
auf die endlosen, manigfaltigen Gefahren, die ihm drohten. Mit beredten Worten und überzeugender Genauigkeit sprach er ihm von den zahllosen Entbehrungen und Demüthigungen aller Art, denen er ausgesetzt sein würde. Er stellte ihm vor, wie sein Leben nichts sein werde, als eine unendliche Kette von Mühen und Drangsal, daß sein schwacher Körper erliegen müßte unter der Last
der Arbeit, daß er allein in der kalten Fremde dem Untergang preisgegeben sei, während ihm im
Heimatstädtchen ein ruhiges Los geboten wurde. Wohl nie glänzend und reich an vielen Abwechslungen, aber dem gleich, welches alle seine Glaubensbrüder in Ergebenheit trugen.
Samuel blieb fest in seinem Vorhaben. Zu lange hatte in ihm der Gedanke gegährt und stets
Nahrung erhalten durch die Sehnsucht nach seiner Schwester. Sein Geist hatte früh die Schwingen entfaltet und ließ ihn nachdenken über Vieles, was all Denen verschlossen blieb, die mit ihm
aufwuchsen. Samuel empfing nach wenigen Tagen der Unterredung den Segen seines Freundes
und Wohlthäters und wanderte hinaus in die Welt, erfüllt von edlen, hohen Gedanken, gewappnet
mit Willensstärke und Todesmuth, gleich einem Krieger, der dem feindlichen Geschütz mit Kühnheit und Unerschrockenheit entgegensieht.
Nichts, nichts wurde dem armen Judenjungen erspart. Keine Entbehrung, keine Sorge, keine
Demüthigung, kein Erschlaffen des Körpers, kein Schwinden der Elasticität und Empfänglichkeit
des Geistes blieben aus, um ihm eine Zeitlang den Muth zu rauben und die Hoffnung schwinden
zu sehen, die als leuchtender Stern sein kummervolles Dasein erhellte.
Von Stufe zu Stufe erklomm er unter dem entsetzlichsten Elend, den ärgsten Leiden mühsam
die hohe Leiter des Wissens. Noth, Hunger und Krankheit warfen ihn oft auf Monate auf das Lager. Dennoch vermochten sie nicht den Gottesfunken in ihm auszulöschen, das Streben nach
geistiger Erkenntniß zu ertödten. Seinen Namen mußte er aufgeben. Ja, er wußte eigentlich selber
nicht, wie er geheißen. Die Juden in Polen hatten keine Familiennamen. Sie nannten sich gewöhnlich nach den Beschäftigungen, denen sie sich widmeten. Man kannte im Ghetto den Schulklopfer
Aron und die Melamit Rebekka, die Lehrer Lea und den Lehrer Samuel, Heymann den Schneider
und Saul den Nachtwächter. Klugheit Licht und hohe Gönner bewirkten ihm die Erlaubniß, seinen
Aufenthalt in der Residenz zu nehmen, wo er an der Universität seinen Studien oblag. Seine einnehmende Persönlichkeit, die trotz aller Entbehrung wenig gelitten hatte, öffnete ihm die Thüren
der Reichen und sein bescheidenes Wesen, sein feines Benehmen, seine ungewöhnliche Begabung und seine staunenswerthe Energie erwarben ihm Freunde in der Gelehrtenwelt.
Der leidenden Menschheit zu helfen, das war das Ideal seines Lebens, das seine Aufgabe, die er sich gestellt.
Gottes Segen ruhte auf seinem Wirken und Schaffen. Von großen Erfolge wurden seine Arbeiten gekrönt; einige wichtige Erfindungen auf dem Gebiete der inneren Medicin machten ihn bei
Fachgenossen bekannt. Bald erlangte er die Gewogenheit eines Kreises angesehener Männer, die
ihn überall einführten und empfahlen. Durch seinen alten scharfen Blick, durch sein tiefes Wissen,
durch seine wunderbar richtige Diagnose, die er stellte, ward er bald einer der gesuchtesten Aerzte der Residenz. Alt und Jung, Arm und Reich strömten zu ihm. Von nah und fern eilte man herbei,
um ihn zu Rathe zu ziehen. Obgleich segensreiche Thätigkeit, zunehmende Achtung und Wohlhabenheit ihm Befriedigung gewährten, blieb er ernst und schwermüthig: Es lastete der Druck vergangener Leidensjahre auf ihm und zugleich die unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach seiner geliebten Schwester. „Wo sie wohl weilen mochte“, das fragte er sich Tag und Nacht. Alle Aufrufe,
die er erlassen, waren erfolglos geblieben. Niemand brachte ihm Kunde von der Einzigen, nach
der sein Herz verlangte.
Ob sie ihn vergessen hatte? Ob sie gestorben, verdorben ist? Solche und ähnliche Fragen marterten sein Hirn und ließen ihm nie Ruhe.
Wenn sein Beruf ihn oft am Tage und Stunden vergessen ließ, was er verloren glaubte, dann
erinnerte er sich umsomehr an Festtagen an diejenige, mit der er zusammen eine freudlose Kindheit verlebt, die allein erhellt gewesen durch die innige, gegenseitige Liebe und Hoffnung auf
kommende bessere Tage. Wenn er dann das Lämpchen am Sterbetag seiner Eltern anzündete
und mit trüben Augen und unendlichem Weh im Herzen Derer gedachte, die so früh von ihm genommen. Dann empfand er eine seltsame Unruhe, den peinigenden Gedanken, daß er der
Schwester einziger Beschützer auf Erden, sie nicht hätte in die weite Ferne ziehen lassen sollen.
In solchen Stunden nahm er sie dann hervor, die rothgoldene Locke, die er stets am Herzen
trug und benetzte sie mit heißen Küssen und Thränen. Jene kleine Locke, sie wußte zu erzählen,
wie hoch und heilig, wie innig treu Geschwisterliebe ist.
So vergingen Jahre des angestrengtesten, erfolgreichen Schaffens. Aus dem feurigen Jüngling
war ein ernster früh gereifter, erfahrener Mann geworden, der unermüdlich bestrebt war, zu helfen
und Noth zu lindern, wo, und in welcher Gestalt sie auftrat. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
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(Fortsetzung folgt)


Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 347f


(Fortsetzung)


Sie war nicht gestorben, die rothe Sarah. Sie hatte auch nicht den treuen Bruder vergessen
und das kleine weltvergessene Städtchen, das Ghetto mit den düstern schmalen Häusern und
dem kleinen Friedhof. Heiße, bittre Thränen hatte sie oft geweint. Oft den Namen des Bruders geflüstert, im Wachen und im Traum. Ueberschütteten sie die zärtlichen Pflegeeltern mit allem Guten
und Schönen, boten sie ihr alle Annehmlichkeit in steter Liebe und Aufopferung, dann sehnte sie
sich noch mehr, noch heißer nach dem, der allein auf der Welt ihr ganz gehörte, dann war die
Freude ihr vereitelt, durch die ewige Ungewißheit, in der sie lebte! Auch sie hatte geforscht und
gefragt und keine Mittel und Wege gescheut, um den Bruder wieder zu finden.
Mit ihren Pflegeeltern reiste sie nach der alten Heimat, um dort nähere Erkundigungen einzuziehen. Niemand konnte ihr Auskunft geben. Er ist in die Fremde gegangen, so erzählten die älteren Männer, und wird draußen untergegangen sein, oder sich längst losgesagt haben von dem
Glauben der Väter; denn nie hatte man Kunde von ihm vernommen. Der alte Rabbi, der vielleicht
mehr hätte berichten können, war einem ehrenvollen Rufe in eine größere Gemeinde Galiziens gefolgt. Dort sollte er Leiter einer Talmudschule geworden sein. Zu ihm zu fahren, wäre wohl erfolglos gewesen, da man kaum annehmen konnte, daß er mehr von Samuel’s Existenz unterrichtet sei als die andern.
Sarah verschloß die heiße Sehnsucht nach dem Bruder tief in ihrer Brust. Sie gewöhnte sich an
ihn zu denken, wie an einen geliebten Todten. All ihr Thun und Lassen deutete darauf hin. Sie war
von rührender Dankbarkeit gegen ihre Pflegeeltern und bemühte sich fort und fort, ihnen ihre Liebe zu bezeugen. Nach und nach wurde sie ruhiger und fröhlicher. Die Gedanken an ihn wurden
scheinbar verdrängt durch die allzuschöne Gegenwart, in der sie lebte Sie war der Sonnenschein
des Ehepaares geworden, dessen Namen sie angenommen hatte. Ihnen hatte Gott eine Tochter
geschenkt, eine so liebliche, schöne und engelsgute, daß sie Gott priesen, für die gnädige Fügung, der sie das Kind verdankten.
Sarah wurde der Trost des liebenden Vaters, der seine ewig kränkelnde Gattin begrub, nachdem sie sich nur wenige Jahre an der lieblichen Tochter erfreut hatte. Das junge Mädchen bestrebte sich unausgesetzt, dem Trauernden das Leben behaglich und bequem zu machen. Sie
half ihm den Schmerz um die Verlorene mit Sanftmuth und Ergebenheit tragen, sie brachte Heiterkeit und strahlenden Frohsinn in die vereinsamten Räume.
David Lilienkorn hielt es nicht länger auf der wunderschönen Besitzung Süd-Rußlands, in welcher er die angenehmste und zugleich traurigste Zeit seines Lebens verbracht, aus. Sein wundes
Herz wollte Vergessen suchen in der Ferne. Auch sollte Sarah die Welt kennen lernen und sich
besonders deutsche Sitte und Bildung aneignen, für die er die allerhöchste Achtung und Verehrung hatte. Ungern verließ das Mädchen die stille, sonnige Stätte, die Zeuge gewesen von vielen
harmlos stillen, glücklichen Stunden ihrer Kindheit, dennoch folgte sie willig und gern dem treuen
Vater, für dessen Wohl sie besorgt, dessen Wünsche stets die ihren waren.
In üppiger Schönheit war die zarte Mädchenknospe erblüht, bewundert von allen, die sie sahen, geliebt von denen die ihr reiches Gemüth kannten.
Einen Wunsch, einen innigen, heißen trug David Lilienkorn tief im Herzen, den er sich selbst
noch scheute Ausdruck zu geben.
Seinem geliebten Kinde, seiner Sarah, wollte er eine Heimat schaffen am Herze eines treuen,
redlichen Mannes, der sein Kleinod zu schätzen wissen würde, der sie führen und leiten sollte,
wenn Gott ihn einmal abrufen würde.
Einen solchen Schützer und Hüter wollte er suchen und daß es ihm schwer fallen würde, das
wußte David nur zu wohl. Heimlich schmückte er den Erwählten seines Lieblings mit allen Tugenden, die einen Mann zieren und auszeichneten. Nichts dünkte ihn zu hoch, zu unerreichbar für sie.
Schon seit längerer Zeit fühlte er, daß sich eine eigentümliche Schwäche seiner bemächtigte.
Ihm war die Krone seines Hauses genommen und ob er auch süßen Ersatz hatte, so konnte ihm
nichts die treue Gefährtin ersetzen, mit der er gemeinsam Glück und Leid getragen, die er geliebt
und hochgehalten, die stets sein besseres Ich gewesen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
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Sarah Lilienkorn hatte sich längst in der Residenz B. behaglich eingerichtet mit ihren Vater und
genoß all das, was ihr geboten wurde.
David suchte sie auf alle Art zu zerstreuen, mit vollen Zügen schlürfte sie den Becher der Freude. Die fremde Wunderblume zog bald einen Schwarm Verehrer zu sich, die in dem gastlichen
Hause des alten Herrn freundliche Aufnahme fanden. Viele begehrten wohl heiß die Hand des jungen, reichen und schönen Mädchens, und oft machte der Vater ihr Anträge im Namen derer, die
sich an ihn gewandt. Sarah hatte für all solche Pläne und Vorschläge nur ein helles Lachen. Sie
wollte ihre Jugend, ihre Freiheit voll und ganz genießen. Sie hing sich nach solchen Unterredungen schmeichelnd an den Arm des Vaters und wußte ihm so süß und lieb zu sprechen von der
Zufriedenheit und Glückseligkeit, die sie an seiner Seite fühlte, daß David nur zu gern die Ausführung seines Wunsches verschob. Liebte er sie doch auch zu sehr, um sie zu beeinflußen. Er wußte
das ihr reiches nur einem Würdigen sich eignen würde. Sie galt überall als die rechte Tochter des
reichen Russen. Niemand kannte ihre Herkunft und der Alte hatte weder Gelegenheit noch Lust,
das Geheimniß zu offenbaren.


(Schluß folgt.)


Ausgabe 37 vom 14.09.1888, S. 355ff


(Schluß.)


Doctor Samuel Lehr, so nannte sich der Lehrer Samuel, wurde zufällig durch einen Collegen zur
Consultation David Lilienkorn’s gerufen, der plötzlich sehr schwer krank geworden.
Zu ihm war auch die Kunde gedrungen von der schönen reichen Russin, der alle Herzen voll
Entzücken entgegenschlugen, um die sich Männer der höchsten Intelligenz schaarten, da ihre seltenen Fähigkeiten, vor allem ihre Lebhaftigkeit und gediegenen Kenntnisse, ihre unvergleichliche
Anmuth und Würde alle zur Bewunderung hinrissen.
Samuel trat gefolgt von dem Freunde in das dunkel verhangene Schlafzimmer des Patienten.
Eine hohe, edle Gestalt trat ihm entgegen. Er sah in ein paar räthselhaft schillernde Augen, umrahmt von dunklen Wimpern, sah eine Fluth roth goldener Löckchen, die eine marmorweiße, von
feinen Adern durchzogene Stirn umkosten, sah einen rothen Mund, so klein, gleich einer Erdbeere
geformt und fühlte den leisen Druck einer warmen, weichen Hand, die die seine zum Gruß einen
Moment umschlossen hielt. Was war’s, das ihm mit einem Male den Athem raubte, das ein so
wunderbar ängstlich freudiges Gefühl in seinem Herzen sich regen ließ? Sollte ihm, dem ernsten
Manne, der so viele schöne Frauen schon gesehen, hier diese seine Fassung rauben? Dennoch
konnte er sich des Zaubers nicht erwehren, der sich seiner bemächtigte. Sekundenlang blieb er
im Anblick der reizenden Mädchengestalt versunken, die ihm die holdeste Verkörperung eines lockenden Fantasiegebildes schien, das ihn unbewußt umschwebte und verschwommen und undeutlich jene süßen, unvergessenen Gesichtszüge seiner kleinen Schwester trug.
Bei dem flüchtigen Berühren der zarten Finger fühlte er mit einem Male einen heißen Strom
zum Herzen sich drängen. Ihm war’s als sei plötzlich alles hell und licht geworden um ihn her, und
mit Mühe gelang es ihm, seine Fragen an den Kranken zu richten, dem er sich inzwischen genähert hatte.
Wochen vergingen, in denen Sarah und Samuel sich täglich sahen und sprachen. Ein gleiches
Gefühl beherrschte beide seit dem ersten Moment, als sie einander gegenüber getreten.
Sarah liebte den Doctor heiß und leidenschaftlich. Mit jener Gluth eines unentweihten, reinen
Herzens. Sie ließ sich tragen von dem überseligen Gefühle, das sich ihrer bemächtige. Voll und
ganz ließ sie den Zauber auf sich wirken, den sein Aeußeres, sein Wesen sein Charakter auf sie übten.
Sie lebte in der Stunde in der sie ihn sah, und sein Bild geleitete sie Tag und Nacht, im Denken, im Traum.
David Lilienkorn auf seinem Schmerzenslager gewahrte nicht die Veränderung seines Lieblings.
Er sah nicht, daß ein gewisser, heilig süßer Glorienschein von ihr ausstrahlte. Er bemerkte nicht
die verrätherische Gluth, die die zarte Wange übergoß beim Eintritt des jungen Arztes, nicht den
feuchten, eigen schimmernden Blick ihrer Augen. Ihn berührte so wohlthuend ihr liebevolles Sorgen, das stete Bemühen um ihn und die wachsende Theilnahme des Arztes. Er ließ sich lieben
und hegen mit jenem Egoismus aller Kranken, die Sorgfalt und unermüdliche Pflege und Umsicht
für hre Person für ganz selbstverständlich erachten.
Immer fühlte er sich geistig belebt und körperlich erfrischt und gekräftigt, wenn der Arzt mit
Sarah an seinem Bette saßen; so anregend wußte der junge Mann zu plaudern, ihn zu erheitern
und zu zerstreuen. Bald wurde auch von ihm der Besuch des Arztes freudig ersehnt, er war der
Lichtpunkt der einzige Genuß, den sich der Kranke gönnen durfte. Je mehr er Samuel kennen
lernte, desto mehr fühlte er sich zu ihm hingezogen er wurde ihm mit der Zeit ein geliebter Freund,
dem er viel vertraute, dem er einen Einblick in sein Seelenleben gestattete, dem er viele theure
Erinnerungen enthüllte, die er bisher treu gehütet.
Lebhaft știeg in ihm der Gedanke auf, Sarah mit dem Manne verbunden zu sehen, den er am
höchsten achtete und liebte von allen denen, mit denen er in Berührung gekommen. Und als das
junge Mädchen eines Abends an seinem Lager kniete und ihm unter heißen Thränen des Glückes
gestand, daß sie geliebt werde und wieder liebe, daß ihr ganzes Herz Samuel gehörte, der es vom
ersten Augenblicke gewonnen, daß sie in seiner Liebe nicht nur reich und glücklich sei, sondern,
daß sie fühle, daß er ihr alles alles ersetzen werde, selbst den Bruder, den sie noch immer nicht
vergessen konnte, nach dem sie sich heiß gesehnt bis zu dieser Stunde: Da hob David Lilienkorn
die schwachen Hände zum Himmel empor und dankte Gott, daß er es ihn hatte erleben lassen,
sein Kind dem Manne zu eigen zu geben, den er für den Würdigsten stets erachtet, den er jetzt
schon wie einen Sohn liebte und schätzte. Nun wollte er gern sterben, die letzte Pflicht auf Erden
seinem Kinde eine Heimat zu geben, sie sollte sich in so beglückender Weise erfüllen. War er
denn wirklich werth einer solchen Gnade des Himmels?
Wie sehnte er sich darnach den Herzensbund seiner Kinder zu segnen. Dennoch wollte er zuerst den Doktor über Sarah’s Familienverhältnisse aufklären. Er fühlte, daß diese Formalitäten erfüllt sein mußten, bevor er sich ganz an dem Glücke der Liebenden freuen konnte.
Samuel stand wenige Minuten vor dem bedeutsamsten Gange seines Lebens nicht ungeduldig
in seinem Arbeitszimmer. Gedankenvoll blickte er auf ein kleines, eben entzündetes Oellämpchen
in einer geschützten Nische. Thränen traten in seine Augen. Vor seiner Seele stiegen düstere und
glückliche Stunden seiner Kinderzeit auf und die bunten an Elend und Sorge so reichen Jahre seiner Vergangenheit. Heute vor zwanzig Jahren hatte er seine Mutter begraben müssen. Ihrem Andenken weihte er alter Sitte gemäß das kleine Lämpchen. Wie verlassen, wie einsam war er ge10
wesen. Wie hatte er wenige Jahre später sein einziges Glück, seine Schwester hingeben müssen.
Und heute, wo ihm ein wirklich wahrhaft leuchtender Glücksstern aufgehen sollte, da er sich mit
einem über alles geliebten Mädchen verloben sollte, heute empfand er doppelt heiße Sehnsucht
nach der Schwester, die so ganz und voll hätte theilnehmen können an seinem Glück, an seiner
Wonne. Wie hätte er ihr jetzt das Leben erst lieb und werth machen können, wie hätte seine süße
Braut, ein Schauer durchflog ihn bei dem Gedanken und eine feine Röthe färbte sein bleiches Gesicht, wie hätte sie sich gemeinsam bemüht, ihr Eltern und Verwandte zu ersetzen, wie hätten sie
beide sie gehegt und geliebt.
Er zog die rothgoldene Locke hervor und die Sonnenstrahlen netzten ein Goldgewebe nm die
feinen Haare. Wie ihm so bange wurde mit einem Male, täuschte ihn das Rothgold, das dem so
seltsam glich, welches das Haupt seiner Sarah schmückte.
Hastig verbarg er die Locke an seiner Brust und stürmte hinaus, um schnell sein Ziel zu erreichen, wo ihn ein strahlendes Lächeln, der innige, erste Kuß seiner Braut erwarteten. Freudig erregt, doch scheu und schüchtern empfing Sarah den Geliebten.
Hell glänzten die Augen des alten Lilienkorn als er den jungen Mann eintreten sah. Heftig zitterte die bleiche, abgezehrte Hand in der starken, kräftigen Samuels. Der Kranke lud den Arzt zum
Sitzen ein, während Sarah stumm und auf einem kleinen Sessel zu Füßen des Bettes kniete.
Der Vater hatte ihr heute so seltsam unklare Andeutungen gegeben, sie fürchtete die Eröffnungen, die er machen würde.
Ihre Augen starrten in das trübe Licht des Jahreslämpchens, das sie heute zum Andenken an
die rechte Mutter angezündet.
Der Kranke ließ sich matt in die Kissen zurücksinken und begann mit schwacher Stimme dem
lauschenden Paare, die Geschichte zweier Waisen zu erzählen, die in einem weltvergessenen
Städtchen an Polens Grenze ein elendes Dasein führten. Samuel war gleich beim Beginn der Erzählung unruhig geworden und hatte mit steigender Erregung gelauscht. Plötzlich schlug er die
Hände vors Gesicht, und rief seiner nicht mehr mächtig: „O, nennt mir den Namen jener Kinder
nennt mir das Städtchen“. Der Kranke fuhr erschreckt auf, eine jähe Angst schnürte sein Herz zusammen, er sah in das bleiche, entstellte Gesicht des jungen Mannes und murmelte abgebrochen
mit halb erstickender Stimme; „Man nannte die Mutter Lehrer Lea, das Mädchen die rothe Sarah
und den Knaben – – Weiter kam der Alte nicht, ein zwiefach gellender Schrei ließ ihn erbeben und
er sah Sarah ohnmächtig in den Armen ihres Bruders.
„Mein Schwesterchen, mein süßes Schwesterchen“, flüsterte Samuel unter heißen Thränen,
heute habe ich Dich gefunden nach langen, langen Jahren. Der Qual, der Sehnsucht, heute am
Todestage unserer Mutter.
Er küßte die duftigen Haare, die blassen Lippen der Wiedergefundenen, die er geliebt mit einer
anderen Liebe, die heißer begehrt, verlangt und empfängt, die an Tiefe und Gluth dennoch kaum
den Sieg trägt über die zarte, heilige, opferfähige Geschwisterliebe.
Der alte David blickte stumm auf die beiden Vereinten. „Gott wie unerforschlich sind Deine
Wege“, sagte er leise. „Gib ihnen Kraft zu überwinden und zu ertragen. Sarah schlug die Augen
auf, jene Sterne, die Samuel nie aufgehört hatten zu leuchten, und lächelte halb verzweifelt und
dennoch muthig.


„Mein Bruder“. –
Der alte David gesundete noch für eine kurze Frist, um zu sehen, wie edle Naturen überwinden
und sich fügen lernen einer höheren Macht. Als er heimgerufen wurde, ging er mit dem Bewußtsein, daß Sarah eine Heimat gefunden hatte am Herzen ihres treuen Bruders, dessen Licht und
Sonnenschein sie gewesen und sie stets bleiben würde. Die Geschwister hingen an einander mit
einer Neigung, die gestählt worden war im Kampfe des Lebens. Sie erfüllte sie ganz und voll. Sie
vereinte sie mehr und mehr in dem Streben gemeinsam Gutes zu wirken und zu schaffen. Half
Samuel den Kranken und linderte ihre Schmerzen, so trug Sarah Trost und Frieden in die Hütten
der Kranken und Armen. Alle Herzen die Leid drückte, fanden bei ihr Rath und Beistand.
Im kleinen weltvergessenen Städtchen an Polens Grenze ragt noch heute ein hohes, stattliches
Haus empor, das all denen, die krank, mühselig und beladen sind, zum Aufenthalt dient. Die Gräber der Eltern zieren schöne Steine. Bleibende Denkmäler haben die Kinder ihnen in ihren Herzen
aufgerichtet, indem sie in ihrem Sinne leben und wirken, ihr Andenken zu jeder Stunde zu ehren,
sich würdig zeigen in all ihrem Thun und Handeln.
Ihr gemeinsames Streben und Wirken, ihre selbstlose Opferbereitwilligkeit, ihr wunschloses
Dahinleben bewies, welch ein starkes, heiliges, unzerreißbares Liebesband Geschwister vereinigt,
unverleugbar, selbst Trennung, Noth und Tod überdauernd.


 

Zur Biographie: Ida Oppenheim

 In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 39. Jahrgang, Ausgabe 48 vom 01.12.1899, S. 485f / Ausgabe 49 vom 08.12.1899, S. 496 / Ausgabe 50 vom 15.12.1899, S. 506

Link zum Text
Tran-skription

Ihre Krone.
Chanukaerzählung von Ida Oppenheim.


Der Tag der Freiheit war gekommen. Die Juden jubelten auf; sie wurden ihren Mitbrüdern
gleichgestellt und erlangten endlich ihre Menschenrechte. Alle Schmach, alle Kränkungen, alle
Zurücksetzungen waren vergessen. Wie wollten sie sie lieben, all’ ihre Brüder! Wie wollten sie sich
würdig zeigen als treue Unterthanen und mit Gut und Blut für ihr Vaterland kämpfen. Frei sollten
sie sein, nicht mehr eingeschlossen in den dunklen Ghettomauern. Es war ein Taumel des Glücks,
der alle, Groß und Klein, umfaßte.
Mitten in dem Jubel und der Glückseligkeit brach in einer angesehenen frommen Gemeinde
Mährens der Scharlach aus, und die böse Krankheit raffte viele Kinder in wenigen Tagen dahin.
Man ordnete einen Festtag an, verrichtete Gebete im Tempel, beschenkte die Armen, aber der
Todesengel nahm unbarmherzig die holden Kinder in sein stilles Reich.
Der würdige Rabbi, Samuel, saß mit einem alten, ehrwürdigen Dajen und einem fremden Rabbi,
David, in seinem Studierzimmer, eifrig vertieft im Disput über talmudische Fragen, als sich die
Thür plötzlich öffnete und eine Frau hereinstürzte.
„Rabbi, betet und helft, mein Moses, mein einziges Kind stirbt. Hier nehmt alles, was ich habe!“
Und dabei schüttete sie einen ganzen Beutel voll goldener und silbenen Münzen auf den Tisch, riß
eine schwere Kette vom Halse und entfernte die großen Ohrgehänge und rief: „Nehmt alles hin;
ich will keinen Schmuck mehr tragen, nur rettet mir mein Kind. Die Sünde ist in unserer Gemeinde,
die Khilla muß entsühnt werden! Denn nicht nur mein Kind, sondern alle Kinder werden dann sterben! Riwka Kalisch hat sich das Scheitel ausgezogen! Schleppt sie, Rabbi, bei den Haaren her
und und – –“
Die Stimme versagte ihr, und sie sank ohnmächtig zu den Füßen des Erstaunten nieder.
Der Rabbi rief eine alte Dienerin, die starr vor Entsetzen dastand, bei dem Gedanken, daß sich
überhaupt ein Weib gewagt hatte, den Rabbi in seinem Studierzimmer selbst aufzusuchen. Langsam suchte sie die Ohnmächtige aufzurichten, die sich auch dann erholte.
Verwirrt sah Frau Rahel um sich. Sie schien sich zu besinnen, wo sie sich befand, und endlich
stammelte sie flehend: „Verzeiht mir, vezeiht! Der Schmerz, der Schmerz! Ich werde wahnsinnig!
Lebt es noch, mein Kind, sagt?! Oder werde ich es nicht mehr antreffen?!
„Frau Rahel“, entgegnete der Rabbi ruhig, „wir alle kennen Euch als eine fromme, achtbare
Frau unserer Gemeinde. Das Leid hat Euch zu großer Sünde verleitet. Gott in seiner Gnade und
Barmherzigkeit wird Euch vergeben und Euch Euer Kind von neuem schenken. Gehet heim und
pflegt es! Dort ist Euer Platz; nicht das Ihr andere anklagt und verantwortlich macht für das, was
Fügung des Ewigen ist! Wie, Ihr wollt Richter sein statt Gott?! Fühlt Ihr Euch sündenrein oder ist
es je ein Mensch? Bis jetzt ward Ihr glücklich! Geliebt von einem braven Gatten, verehrt von Eurer
Familie, Mutter eines schönen Knaben, lebtet Ihr in Wohlstand; nun wollt Ihr murren gegen Gott,
der Euch die erste Prüfung sendet, und andere dafür verantwortlich machen.“
Demüthig beugte sich die Frau und flüsterte: „Ihr habt recht edler Rabbi. Legt noch einmal Eure
Hände segnend auf mein Haupt, wie damals, als ich, ein glücklich Kind, dem theuren Gatten angetraut wurde, und nie werden sich meine Lippen jemals der Verleumdung öffnen!“
„Dieses Gelübde“, antwortete der Seelsorger, „wiegt all’ Euer Gold auf, gehet getrost heim und
hofft und vertraut!“
Die Dienerin führte die Unglückliche heraus.
Im Zimmer war es still; die Männer standen noch unter dem Eindruck des eben Erlebten.
Rabbi Samuel war jünger als seine beiden Freunde, eine edle, schöne, männliche, Ehrfurcht
gebietende Erscheinung. Die hohe Denkerstirn, das eigenartig milde Leuchten seiner Augen fesselte jeden Mann und seine Schüler behaupteten, sein Blick träfe bis in’s Herz. Er war ihnen auch
Lehrer und Vater, den Armen ein Helfer und allen ein Freund und Berather. Alle waren unter dem
Blick seiner Augen wie gebannt. Er strafte oft mehr als Worte, und ihm ordneten sich auch oft seine beiden gelehrten Beisitzer unter. Rabbi Samuel wandte sich ihnen zu: „Verzeiht, wenn ich die
Frage mir erlaube: Soll man um Riwka schicken? Sagt Eure Meinung.“
Der eine antwortete: „Man soll sie her berufen; man soll ihr Fasten auferlegen, da sie es allein
gewagt, in dieser frommen Gemeinde, sich zu überheben und ihr Haar frei und offen zu tragen.
Durch ihr Beispiel verführt sie andere. Eine verheiratete Frau soll dem Gesetze nach einen Scheitel
tragen. Sie soll bescheiden, einfach nur ihrem Hause, ihrem Mann und ihren Kindern leben. Durch
nichts darf sie die Aufmerksamkeit fremder Augen auf sich ziehen und ihre Gedanken von ihren
Pflichten ablenken. Der schönste Schmuck einer Frau ist nicht ihre äußere Schönheit, ihr Haar;
Bescheidenheit, Frömmigkeit, Demuth, Treue und Fleiß zierten bis jetzt die Frauen und Töchter
unseres Volkes, die Mutter unserer Kinder, die sie in ihrem Sinne zu erziehen sich bestrebten. Die
kleinste Uebertretung eines Gebotes ahndet sich schwer, denn es steht geschrieben: „Haltet meine Gebote, auch die kleinsten, denn alle gab ich zu Eurem Wohle!“ Dies ist meine Meinung.“
Rabbi David erhob sich und sprach: „Ich pflichte der Ansicht meines Freundes bei, wenn ich
auch das Vergehen nicht so streng beurtheile wie er. Ist das Tragen des Scheitels doch kein Gesetz, daß es als solches heilig gehalten werden kann. Wir wissen, daß diese Sitte aus dem Orient
gekommen und andere Bedeutung hatte. Seitdem wir aus dem heiligen Lande fortgemußt, Jerusalem zerstört wurde und wir zerstreut in alle Winde, ein Wundervolk geworden, da mußten wir
uns der herrschenden Sitte derjenigen fügen, in deren Mitte wir lebten. Dennoch ist es unsere
Aufgabe, uns überall als Israeliten zu bewähren, die Gesetze zu halten und nicht von dem Althergebrachten abzuweichen. Auch jetzt, wo uns ein anderes Licht aufgegangen, wo wir gleiche
Rechte mit den andern genießen sollen, wo die Thore des Ghetto’s sich geöffnet, auch jetzt müssen wir festhalten an dem Gesetz der Grundlage der Weltordnung, die es für alle Zeiten für uns bleiben wird.
Ist die Uebertretung der Frau so groß, daß man sie als eine Versündigung hinstellen darf, die
Schuld daran ist, daß Sterblichkeit über die Kinder gekommen? Nähren wir nicht damit den Aberglauben, den Haß, Neid und die Verfolgung? In unserer Mitte soll solches nicht Fuß fassen! Wir
wollen die Frau rufen, ihr in Güte zureden, daß sie das Haar sich abschneidet, mit einer tiefen
Haube ihr Haupt verhüllt. Gott wird helfen, seine schirmende Hand ausstrecken und die Gefahr von den Kindern ablenken.“
Tief aufathmend wollte der Rabbi sich setzen, als ihm der andere in’s Wort fiel in erregtem Eifer:
„Ihr seid zu nachsichtig, das ist der Anfang zu allem Bösen! Immer nachgeben und immer
nachlassen! Langsam fällt eines nach dem andern! Die Ceremonien, die gleichsam eine Mauer um
uns gebildet, sie fallen eine nach der anderen! Dann rüttelt man auch an den heiligen Satzungen!
Ernst wird man uns, die Wächter des Gesetztes fragen: „Wo wart Ihr, als man dieses und das vernachlässigte? Wie habt ihr das Gesetz erhalten?“ O, ich sehe es kommen, daß unsere Kinder und
Enkel mit der sogenannten Freiheit ihre heiligsten Güter vernachlässigen. Ein Beispiel muß gegeben werden! Die Frau muß gezwungen werden, vor unseren Augen sich das Haar schneiden zu lassen!“
„Beruhigt euch, meine Freunde“, sagte Rabbi Samuel. „Ich habe eure beiden Meinungen gehört. Nun wollen wir vereint bestimmen, zu unserer eigenen Beruhigung und zum Frieden der Gemeinde. Vorerst müssen wir nur einzig und allein den vor uns liegenden Fall besprechen. Ich frage:
Ist das Scheitel oder das falsche Haar, das den Schmuck des eigenen Haares ersetzen soll, nicht
ein Irrthum. Wenn dichte Schleier im Orient das Frauenantlitz verhüllten, so hat man niemals gewollt, daß der Schönheit Einhalt gethan wird. Das Haar ist ja für jeden eine Zierde und besonders
für die Frau. Die Sitte hatte zur Zeit wohl Berechtigung, doch nirgends wird dieselbe als Gesetz
und das Uebertreten derselben als Todsünde erachtet. Laßt mich allein mit Riwka reden! Jetzt
wollen wir in den Tempel gehen zum Abendgebet und Thillem sagen für die kranken Kinder. Morgen um diese Zeit wollen wir uns wieder versammeln.“
Es war im November. Trübe Nebel umhüllten die Luft. Der Himmel hing schwer voll grauer Wolken. Nacht war es überall. Im Ghetto sah man einzelne Häuser schwach beleuchtet. Dann und
wann huschte scheu eine Gestalt über die Straße. Alles bangte für den kommenden Morgen, der vielleicht neue Opfer fordern würde.
Ein dunkle Frauengestalt, fest in Tücher gehüllt, schritt dem Hause des Rabbi zu. Nach leisem Klopfen trat sie in das Arbeitszimmer.
Er hatte den Talmud aufgeschlagen und studierte eifrig. Mit einem freundlich-ernsten Blick
grüßte er die Eintretende, die sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigte.
„Ihr habt mich rufen lassen, Rabbi!“ Sie hob ihre Augen und ihre gebeugte Gestalt und stand
nun in eigenartiger Schönheit vor ihrem Lehrer. Der kleine zarte Kopf mit dem edel geschnittenen
Gesicht konnte kaum die Fülle ihres schwarzen Haares bergen, die sich in dicken Zöpfen um ihr
Haupt gelegt. Der Rabbi selbst, der sie nur vorübergehend oft gesehen, war geblendet von ihrer
Erscheinung. Es war ihm schwer das rechte Wort zu finden.
„Ihr seid eine treue Gattin“, redete er sie an, indem er ihr winkte, sich niederzusetzen.
Sie sah ihn fragend an.
„Ihr seid noch nicht lange in der Gemeinde und habt Euch schon allenthalben Liebe erworben.
Habt Ihr nie einen Scheitel getragen? Wißt Ihr nicht, daß eigenes Haar zu tragen, bei uns verboten ist?“
Sie richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf:
„Warum diese Frage, edler Rabbi? Habe ich irgend etwas gethan, was Euch mißfällt? Und mein
Haar – ich habe es nie anders getragen!“
„Wißt Ihr denn nicht, daß allen jüdischen Frauen geboten ist, das Haar am Tage der Hochzeit
abzuschneiden? Ihr habt dieses nicht geachtet. Man macht Euch deshalb verantwortlich, daß Ihr
durch diese Sünde Unglück über unsere Gemeinde gebracht. Man glaubt, daß Ihr dadurch die
Krankheit der Kinder verschuldet!“
Von tiefem Schmerz gebeugt, senkte die Frau das Haupt.
„Ich werde beschuldigt, solches Unheil hervorgerufen zu haben?“ kam es tonlos über ihre Lippen. „Sagt, edler Rabbi, was soll ich thun, um dieses abwenden zu können?
„Ihr müßt Euch Euer Haar abschneiden, um die Leute zu beruhigen, die in ihrem Unglück unberechenbar und abergläubisch geworden sind.“
Wie eine Statue, bleich, hochaufgerichtet, stand die Frau da und löste langsam das Haar von
ihrem Haupte, das in zwei schweren Flechten bis zur Erde herunterfiel.
„Soll dies gleich geschehen, Rabbi?“ fragte sie. „Ich bin bereit. Ich bin es gewöhnt von Kindheit an, jedes Opfer zu bringen, wenn es gilt, jemand zu helfen. O, daß ich doch all’ die lieben
Kinder damit retten könnte! Abraham hat seinen einzigen Sohn Gott zum Opfer bringen wollen!
Was bin ich, daß ich einen Moment zaudern sollte, um dieses Geringe zu thun! Sie sollen um meinetwillen nicht einen Augenblick länger leiden! O, säumet nicht, Rabbi, nehmt sie fort, diese Haare, scheert das Haupt kahl, damit das Haar keines andern Hauptes gekrümmt werde. Ich hatte es
lieb, weil es alle bewunderten; vielleicht war ich gar stolz darauf! Legt mir noch eine Buse auf! Was
soll ich noch thun? Ist meine Sünde so groß?“


(Schluß folgt.)


Ausgabe 49 vom 08.12.1899, S. 496


(Fortsetzung.)


„Seid ruhig, edle Frau,“ antwortete der Rabbi tief gerührt. „Ihr habt Euch in nichts vergangen.
Ihr seid würdig unserer Erzmütter. Ich hätte gewünscht, daß Eure edle Bereitwilligkeit, Euren hohen Sinn, die ganze Gemeinde, ja, ganz Israel gehört hätte! So lange unser Stamm solche Frauen
und Mütter hat, so lange brauchen wir nicht an einem Fortbestand zu zweifeln! Ihr bewähret Euch
im Unglück, Ihr werdet Euch auch im goldenen Lichte der Freiheit bewähren! Recht habt Ihr, daß
Ihr Vater Abraham als Beispiel angeführt, und ich sage Euch, wie Gott sein Opfer nicht verlangt,
so wird auch das Eure nicht verlangt. Behaltet Euren Haarschmuck, diese schöne Zierde der
Frauen! Einen Edelstein tragt Ihr in Eurem Herzen! Ueberlaßt jetzt mir die Sache! Ich will dieses
Haar vor allen verantworten! Sagt mir, wie es kam, daß man bei Eurer Trauung dieses alten Brauch
nicht angewendet?“
„Wie soll ich Euch, edler Rabbi, danken. Trost und Beruhigung ist mir Eure Rede; ich hoffe,
Gott wird die schweren Prüfungen abwenden von der Gemeinde und Ihr werdet Glauben finden
und die Abergläubischen beruhigen, und durch Eure milde Nachsicht und Geduld in rechte Bahnen leiten, wie Ihr sie mir jetzt bewiesen,“ sagte sie, indem sie unter heißen Thränen die Hand
Rabbi Samuels küßte. „Und nun hört die Geschichte meiner Vergangenheit: Unsere Großeltern
wurden aus Spanien vertrieben und siedelten sich im südlichen Frankreich an. Sie lebten dort in
Ruhe und hatten sich das Vertrauen ihrer Mitbürger erworben. Mein Großvater war Juwelenhändler gewesen. Mein Vater richtete in Holland eine Diamantschleiferei ein. Er wurde das Faktotum
eines großen Besitzers und Fabriksherrn, und wir wohnten unweit seines Schlosses. Wir durften
mit den Kindern des Herrn spielen und wurden vollständig ihnen gleichgestellt. Meine Eltern lebten in stiller Zurückgezogenheit ganz in ihrem Glauben, und da sie durch zunehmende Wohlhabenheit und durch die innige Freundschaft mit ihrem Brotherrn sich den Neid der andern Beamten auf sich zogen, wurden Pläne ersonnen, um die Verhältnis zu lösen, und da man nichts fand, griff man endlich zur Gewalt. Es war zur Zeit des Chanuka-Festes. Mein Vater hatte die kleinen Lichter entzündet und sang mit der Mutter, mit den drei Brüdern und mir das schöne Lied: „Moaus zur
jischu ossi“, und ich tanzte und jubelte und erzählte recht geschwätzig nach kleiner Mädchenart
die Geschichte von den Makkabäern, als bleich und athemlos ein Diener in’s Zimmer stürzte und
uns in fliegender Hast mittheilte, daß das Haus in Brand stehe. Ehe wir uns noch recht fassen
konnten, klirrten die Fensterscheiben, vermummte Gestalten liefen an’s Fenster, faßten meinen
Vater und verlangten die Herausgabe aller Schätze. Was weiter geschah, ist mir nicht mehr erinnerlich.
Ich befand mich, als ich erwachte, in einem schönen Zimmer. Neben meinem Bette saß meine
Mutter. Sie hatte einen Schirm vor den Augen und fragte zärtlich: „Siehst du mich, mein
Kind?“ „Ja“, sagte ich verwundert und erstaunt. „Ich aber sehe dich nicht, mein Kind, ich fühle
blos deine liebe Nähe.“ Ich verstand das nicht. „Wo ist der Vater, wo sind die Brüder?“ fragte ich
hastig. Ehe mir noch Antwort wurde, trat der Arzt des Fabriksherrn ein: „Mein Kind, Gottlob, du
bist gerettet. Bald sollst du auch den Vater sehen! Meine Mutter gab keinen Laut von sich; nur
fester hielt sie meine Hände, und als ich noch weiter fragen wollte, warum wir hier sind und nicht
daheim, nicht bei dem Vater und den Brüdern, da stöhnte sie leise auf: „Es ist Gottes Wille, mein
Kind!“ – Der Arzt gab mir ein Pulver und bald schlief ich ein. – Als ich erwachte, waren wir noch in
demselben Raum; der Vater bei mir, tief gebeugt, der Mutter Augen waren groß und offen, die lieben, milden Augen, die mir stets so freundlich geleuchtet, waren erloschen. Jetzt faßte ich erst
das Entsetzliche: meine Mutter war blind geworden. Ich erfuhr dann, daß die Brüder im Kampfe
gefallen waren, sie hatten die Eltern schützen wollen; man hat sie vor ihren Augen gemordet. Wir
lebten unter fremdem Namen in Paris. Meine Eltern widmeten sich ganz meiner Erziehung.
Als ich 16 Jahre alt war, übernahm mein Vater die Verwaltung eines Gutes in Ungarn, das dem
Herrn durch Erbschaft zugefallen war. Ich pflegte meine Mutter und verließ sie nie. Sie war meine
beste Freundin und Lehrerin; wir lebten ganz still und zurückgezogen ohne irgend welchen Umgang, und nur zu den Festen kamen einige Leute zum Gottesdienst zu uns. Der Neffe meiner Vaters zog zu uns, um ihn unser jetziges Eigenthum bewirtschaften zu helfen. Er war jung verheiratet
und hatte drei schöne Knaben. Wir verlebten zusammen zwei schöne Jahre des Friedens und des
Glücks. Da starb die Frau bei der Geburt des 4. Sohnes. Der junge Mann war gebrochen. Die
Pflicht ließ ihn endlich wieder aufleben, und wir hatten die Sorge um die Kinder, die sich an uns
ketteten und von niemand anders versorgt werden wollten als von meiner Mutter und mir.


(Schluß folgt.)

Ausgabe 50 vom 15.12.1899, S. 506

(Schluß.)


An einem Chanukaabend saßen wir beisammen, vereint umdie Lichtchen der Menorha. Da kam
der Vater der Kinder zu mir und sagte: „Ich habe eben die theuren Eltern um deine Hand gebeten;
sie wiesen mich an dich. Willst du mich, die Kinder und die Eltern beglücken. Ich war damals noch
so jung und sollte so schwere Pflichten übernehmen. Ich fand zuerst kein Wort der Erwiderung.
Als ich den greisen Vater vor mir sah, die blinde Mutter, die armen verwaisten Kinder und den
ernsten Mann, und ich vergegenwärtigte mir meine traurige Jugend mit all’ den Kämpfen, da
glaubte ich ein Anrecht zu haben auf Glück, auf ein volles, echtes Menschenglück. Doch in demselben Augenblicke tönte eine Stimme in meinem Innern: „Gott hat dich dieser Aufgabe gewürdigt, – erfülle sie!“
„Ich will!“ sagte ich nach kurzem Zögern und legte meine Hand in die meines Werbers.
O, dieser berauschende Augenblick, indem ich das Glück in aller Augen aufleuchten sah!
„In Stille wurde unsere Vermählung im Hause gefeiert. – Als man mich zum Bedecken führte,
stand ich mit aufgelöstem Haar zitternd und bangend vor dem Rabbi. Es war mir so weh, daß
man mir diesen Schmuck rauben sollte, aber ich wagte keinen Widerspruch.
Da trat meine Mutter vor und bat: „Laßt meiner Tochter das Haar; es war ihre und meine Freude. In den langen Jahren meiner Blindheit konnte ich die schweren, weichen Flechten fassen und
meine Sehnsucht stillen, die mein Herz oft zu brechen drohte, daß ich das Antlitz meines geliebten
Kindes nicht mehr sehen konnte. Sie war mein Herzenstrost; im Geiste sehe ich sie mit dieser
Krone, die ihr Gott gegeben. Sie wird sich ihrer stets würdig zeigen; ich kenne ihr reines, schlichtes Kinderherz.“
Sie legte die Hände auf mein Haupt: „Mein Gott, segne dieses Kind, laß’ Licht um sie werden,
die der Blinden Stütze war, die den Waisen eine Mutter sein wird, dem Gatten eine treue Frau!“
Der Vater legte seine Hände auf mein Haupt und deckte das goldene Tuch über mein Antlitz.
Jahre sind es her, und ich kann sagen, daß ich meine Pflicht erfüllt. Meine Söhne sind tüchtige
Menschen geworden und auch meine Tochter hoffe ich bescheiden und sittsam zu erziehen. Wir
leben jetzt allein und zurückgezogen. Mein Mann widmet die letzten Jahre seines Lebens dem
Studium der Thora. Meine Gedanken kehren oft in die Vergangenheit zurück. Ich höre tröstend,
wie aus weiter Ferne die letzten Worte meiner sterbenden Mutter: „Gelobt seist Du Gott, daß Du
die Gnade hattest, mich zu prüfen. Licht und hell ist es um mich; Dein Segen strahlt meinen Kindern und Enkeln!“
Tief gerührt hörte der Rabbi zu. Es war spät geworden. Frau Riwka erhob sich, und er reichte ihr die Hand.
„Behaltet Eure Krone!“ sagte er innig. Daß es doch in Israel stets solche Töchter und Mütter
gäbe, dann werden auch die Söhne würdig ihrer Ahnen sein.“
Im Ghetto fing es nun an, besser zu werden. Die Kinder genasen und man richtete sich zum
Chanuka-Feste. Ein dreifacher Festtag kam heran. Der heilige Sabbat, der Beginn des ChanukaFestes, und das Genesungsfest, das die Eltern ihren ihnen erhalten gebliebenen Lieblingen feierten. Froh und dankbaren Herzens rüstete man sich zur würdigen Feier.
Der Rabbi saß mit seinen Freunden beisammen und erzählte ihnen die Geschichte der Frau.
Sie waren doch beide befriedigt, daß die Sache so in den Sand verlief. Sie bewunderten die edle
Frau und kamen darin überein, daß Israel es wohl nothwendig hatte, in erster Linie die Augen aufzuheben zu solchen Frauen, zu solchen Müttern ihrer Kinder. Denn sie sind es ja, die die ersten
edelsten Keime in das Kinderherz pflanzen, die Söhne und Töchter erziehen. Die größte Aufgabe
liegt in ihren Händen. Kinder, von edlen Müttern erzogen, die durch den Glauben in sich gefestigt
dastehen, deren Herz gebildet ist, Ehrfurcht empfindet vor Gott, für alles Große, Edle und Schöne
erglüht, die werden dann Männer, die sich nicht durch das Licht der Freiheit blenden lassen, die
nicht vergessen, woher sie stammen und was sie dem edlen geistigen Ursprung zu verdanken
haben. Religion und Wissen vereinigen sich, Religion und Unwissenheit bekämpfen sich. Geistesund Herzensbildung gepaart, führen in heißem Streben zu hohen edlen Zielen!“
So sprach der Rabbi begeistert. Seine Freunde sahen ihm stumm in das verklärte Antlitz.
„Meine Predigt am Sabbat soll noch tiefer das Gesagte beleuchten! Nicht war, Ihr stimmt mir
bei und werdet mir Recht geben?“
Der große Sabbat nahte. Alles strömmte in den Tempel Der ehrwürdige Rabbi spendete Gaben
für die Armen und gedachte in einem Segensspruch besonders der Frau Riwka und ihrem Gatten.
Die ganze Gemeinde rief das Amen dazu. Die Frauen, die unter den vergitterten Fenstern saßen,
sahen alle auf sie, die erröthend ihr schönes Haupt senkte und ihr Gebetbuch mit Freudenthränen
netzte. Der edle Rabbi gab ihr Genugthuung, und die bösen Zungen mußten schweigen. Sie behielt in Ehren ihren Schmuck und durfte frei und offen ihr Haar tragen.
Als der Rabbi dann seine Predigt endigte, rief er begeistert „Israel braucht Mütter, fromme,
pflichttreue Mütter! Dann werden sich die Söhne zu allen Zeiten, in allen Lagen siegreich bewähren, wie es einst unsere großen Vorfahren gethan, die Makkabäer!“
Der Tag war ein Freudentag für die ganze Gemeinde. Aus jedem Hause strahlten hell die kleinen Lichtchen, und jubelnd vereinten sich Alle an dem Lobgesang zur Ehre des Höchsten.
Ein halbes Jahrhundert ist seitdem verflossen.
Die Freiheit hat am Anfang desselben ihre Pforten aufgethan. Langsam ging ihre strahlende
Sonne unter; jetzt droht sie ganz zu verlöschen. Unsere Ahnen haben stark und kräftig allen Unbill
Trotz geboten und hielten in tiefster Erniedrigung, in der Verfolgung die Fahne ihres Glaubens
hoch und hofften sicher an ihren Sieg.
Und sie siegten und werden auch immer siegen, wie die Wahrheit, die sich langsam ihren Weg
bahnt. Doch die Mahnung des alten Rabbi: „Israel braucht Mütter!“ – – sie darf auch heute nicht
außer Acht gelassen? sie müßte heute mehr denn je beherzigt werden. Das Haus und die Schule
müssen zusammen wirken um jene Helden zu erziehen, die einst mit Gut und Blut ihre heiligen
Rechte, ihr Gotteshaus vertheidigt haben. Wenn solche Makkabäer in unserer Mitte erwachsen,
dann werden endlich die ewigen Lichter der Freiheit aufstrahlen und sich mit dem göttlichen Funken des Glaubens, der Liebe, der Freiheit und der Brüderlichkeit vereinen.