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[Text des Vortrags am Festabend der Bar Kochba am 22.1.1909 in Prag, Teil 1]

Als die Veranstalter dieses Abends mich fragten, über welches Thema ich sprechen will, sagte ich ohne Besinnen: Ueber den Abfall vom Judentum. Ich dachte, jetzt werde ich endlich sagen können, was ich auf dem Herzen habe, werde mich endlich über diese Dinge aussprechen können, die mir so viel Ekel, Verdruß, Beschämung bereitet haben. Je näher aber der Abend kam, desto deutlicher und ängstlicher kam es mir zu Bewußtsein, daß es sehr schwer ist, über den Abfall vom Judentum zu sprechen; das ist eine so persönliche Angelegenheit und in allen ihren Zusammenhängen so empfindlich, daß man eigentlich nur mit jemand darüber sprechen kann, mit dem man sehr intim ist. Wie soll ich da, in einer fremden Stadt, vor fremden Menschen darüber sprechen? Es besteht die Gefahr, daß in meine Rede ein entsetzlicher Ton von Vertraulichkeit kommt, den Sie vermutlich nicht wollen und den ich bestimmt nicht will. Zunächst werde ich also nicht sagen, was ich auf dem Herzen habe. Man kann ja auch das persönliche, augenblickliche und aktuelle bei dieser Frage vollständig beiseite lassen.

              Wichtig ist nur, ob der Abfall vom Judentum für das Judentum selbst etwas bedeutet, ob er ein Symptom für den Zustand des Judentums ist, oder nur ein Symptom für den Zustand einzelner Juden. Es ist natürlich beides der Fall. Aber dieser Abfall hat seine Gründe, die so wenig tief gehen und so an der Oberfläche sitzen, daß man sie aufzeigen muß. Ich habe einen Freund, der getauft ist – heutzutage hat jeder einen Freund, der getauft ist – und so oft wir beisammen sind und diese ruhmvolle Angelegenheit in seinem Leben gestreift wird, vermag ich es nicht zu verbergen, daß ich darüber noch immer nicht hinweggekommen bin; und dann lächelt er und sagt; „Wie kann man nur ein aufgeklärter und moderner Mensch sein und sich über die Taufe nicht hinwegsetzen!“  Ich aber muß ihm dann immer antworten: „Wie kann man ein aufgeklärter und moderner Mensch sein, und sich taufen lassen?“ Dieses Gespräch deckt einfach ein Mißverständnis auf. Der eine glaubt, er sei vollständig aufgeklärt und modern, wenn er sich taufen läßt, und der andere, weil er die Taufe perhorresziert.

              Es fragt sich eben, ist man modern, wenn man die Nützlichkeiten der Epoche spürt und ihnen folgt? Die Nützlichkeiten sind nicht immer die Notwendigkeiten; schon die Verwechslung ist fatal, wie sehr hereingefallen ist aber einer, der etwas für Nützlichkeiten hält, was dann gar nichts nützt.

              In welchen Schichten der Bevölkerung spielen sich nun diese Gespräche ab? Immer in der gesellschaftlichen Oberschicht, immer unter den wirtschaftlich Fortgeschrittenen. Taufen läßt sich jemand, der auf einem Punkte der inneren und äußerlich erkennbaren Kultur angelangt ist, wo er das Bedürfnis nach einem festen Boden in sich spürt. Diese Menschen fühlen: „Ich lebe in einer Kultur, aber ich fühle mich nicht eingewurzelt, ich – bin  ein Jude. Aber ich brauche einen festen Boden und suche Wurzeln zu schlagen.“ Das sucht nuin den Boden anderer Leute und wird zurückgewiesen; das will Wurzel schlagen und der Boden weigert sich die Wurzeln aufzunehmen. Das ist ein so beschämendes Gefühl, wie es nur ein Gärtner empfindet, der einen dürren und tückischen Boden bebaut, der ihm alle Keime vernichtet. Das Gefühl der Verlegenheit über etwas, was nicht gelingt, was immer daneben geht.

              Woher kommt nun der immer steigende Drang, vom Judentum abzufallen, und die Idee, man könne das Judentum loswerden, wie man aus einer Elektrischen aussteigen kann? Das kommt von dem Tage her, an dem wir eben emanzipiert wurden. Kaum hundert Jahre also ist es her, ungeheuer wenig in unserer Zeit, die so rasch vorwärtsstürmt, gegen unsere Jahrtausende lange Geschichte gehalten weniger als nichts. Wir sind eigentlich erst seit ein paar Stunden emanzipiert. Stellen Sie sich nun ein Volk vor, das nach einem Druck von 15 Jahrhunderten, voll unglaublicher Grausamkeit, das nun plötzlich entschnürt wird, plötzlich die Möglichkeit hat, in die Gesellschaft einzutreten. Es ist unmöglich, sich ein Volk vorzustellen, das nach diesem Druck noch existiert, geschweige denn ein Volk, das noch zu einer Kulturleistung fähig wäre. Stellen Sie sich aber ein Volk vor, das diesen Augenblick erlebt. Es ist nicht nur das größte Erlebnis dieses Volkes, es ist das größte Erlebnis, das man sich überhaupt ausdenken kann.

Vergegenwärtigen Sie sich die Stimmung der ganzen Zeit. Das Weltmotto war: Alle Menschen werden Brüder. Die Zeit, in der die Worte geschrieben wurde: Unser Schuldbuch sei vernichtet, diesen Kuß der ganzen Welt. Kosmopolit war das Wort der Mode. Unter den Klängen, unter diesen Hymnen schritt das Judentum aus dem Ghetto heraus. Die Juden haben zunächst wirklich daran geglaubt: Von jetzt ab werden alle Menschen dasselbe Recht haben. Für diese Befreiung glaubten sie sich nicht anders bedanken zu können, als indem sie alle ihre besonderen Merkmale verwischten, versteckten und aufgaben. Denken Sie sich einen Menschen, der jahrelang im Souterrain gewohnt hat, der meine Treppe gekehrt hat; und nun sage // ich eines Tages, der Mann ist ein Mensch wie ich, er hat dasselbe Recht wie ich; von heute an kommst du in meinen Salon. Sowie er hereinkommt, wird er sich in diesem Milieu unsicher, dumm und in mancher Beziehung lächerlich benehmen, er wird höchst ungeschickt sein. Entweder indem er einfach gesteht: ich kann mich nicht hineinfinden. Oder es beherrscht ihn der Wunsch: man soll mir’s nicht anmerken. Und das war die Situation der Leute, die aus den Gassen kamen, wo man es ihnen eben immer angemerkt hat. Sie haben Eigenschaften entwickelt, die der momentanen Verlegenheit entsprangen, und mit dem uns gegenüber gebräuchlichen Wohlwollen sagte man: das sind spezifisch jüdische Eigenschaften. Und wir selber glauben an dieses Wort und nehmen Reißaus mit einer Feigheit und einer Pünktlichkeit, wo wir jüdische Eigenschaften sehen, wie man nicht vor dem Satan flüchten kann. Dabei ist es für mich klar, aber vielleicht auch für Sie, und ich habe überhaupt nicht die Ambition Sie zu überzeugen, man kann überhaupt nicht überzeugen: Sie hören zu und dann geht jeder weg und denkt sich wieder das Seine, wie ich mir das meine denke. Für mich ist es einfach ergreifend, wie die Juden, den Liberalismus aufgenommen und ihren Söhnen und Enkeln übergeben haben. Sie haben es einfach in ihrem Zartgefühl vermeiden wollen, daß die ehemaligen Bedrücker an die peinliche Geschichte erinnert werden, daß sie einmal Bedrücker gewesen sind. Das ist wieder ein Beispiel für die „spezifisch jüdische“ Rachsucht. Wenn der Gegner, der uns fünfzehn Jahrhunderte geknechtet und getreten, auf allen Straßen gepeitscht und für fünfzig Gulden erschlagen hat, wenn der uns endlich losläßt, ist unser einziger Gedanke: ihn nur nicht daran erinnern!

Auf diesen Grundlagen basiert der Liberalismus, der heute Judenliberalismus geschimpft wird. Und die Juden haben sich für verpflichtet erachtet, diese Bedingung zu erfüllen und haben mit einer, beinahe möchte ich sagen „deutschen“ Treue daran festgehalten. Aber die Sache hat nicht gestimmt. Man kann nicht aus dem Judentum aussteigen wie aus einer Elektrischen. Und man kann nicht verlangen, daß ein Volk, daß Völker, die Jahrhunderte lang im Juden den Menschen zweiter Güte gesehen haben, vertragen, daß der Mann sich so benimmt, wie wenn der Mann gleich wäre. Das ist doch so natürlich. Denken Sie doch nur einmal an den Mann im Souterrain. Es ist all das eingetreten, was heute als Antisemitismus bezeichnet wird. (Doch darüber will nicht reden).

Und drei Geißeln haben uns überall entgegengehoben, drei Worte, unter denen jeder Jude in der Seele zusammenzuckt: Die Befreiung aus dem Ghetto, für die wir danken müssen, wie freigelassene Sklaven und dann: „ihr genießt Gastrecht“ – und das rief man immer gerade dann, wenn die Juden etwas bezeugt hatten, was ehrlicher, blutiger Patriotismus war; und endlich: „wir haben Euch die Kultur geschenkt.“ Hier sei eingeschaltet. Es gibt doch Juden, die etwas der Welt zu sagen haben, und so Wichtiges, daß sie es sagen müssen; und nun heißt es: du darfst reden, aber erst mußt du aufhören, Jude zu sein. Es gibt tausend Beispiele. Gustav Mahler hätte nie in die Oper kommen können, wenn er nicht den Umweg durch ein anderes Institut genommen hätte. Ich wollte das gar nicht lächerlich machen und meinte das gar nicht lustig. Daß Sie lachen, bringt mich auf die Geschichte Feilbogen. Sie war nur möglich, weil die Angehörigen unseres Volkes nach Rom gehen und dort nichts besseres zu sehen haben als den Hohepriester einer Religion, an die sie nicht glauben. Sie gehen in die Sixtina, mit der sie keine Zusammenhänge haben, aus Snobismus, weil sie glauben, daß es nobler ist, einen christlichen Priester zu sehen als einen jüdischen. Den Fall habe ich bis heute nicht verdaut, wie die ganze Judenheit geglaubt hat, sich wegen dieser Schweinerei entschuldigen zu müssen. Wir müssen uns nicht immer entschuldigen, wenn in einem Volk von acht Millionen einer eine Schweinerei macht.

*) Diese Rede wurde auch in der Zeitschrift Selbstwehr (Nr. 4/1910) abgedruckt (PHK).

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In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 46 vom 18.11.1910, S. 1ff

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Tran-skription

Es war an einem Donnerstag nach dem Markte. Die Bauern und die Händler, die sich den ganzen Tag zwischen den beladenen Wagen, Buden, Tieren und den mannigfaltigsten Waren rufend, schreiend, herumgetummelt hatten, zogen sich zurück. Mit ihnen verschwand auch der Lärm und nur der schwere, stickende Geruch, der aus den verödeten, schmutzigen Gassen aufstieg, verriet noch vom Leben und Treiben des Tages.

Es schlug Mitternacht; die trüben Petroleumlaternen wurden ausgelöscht und das Städtchen R. verschwand in der Dunkelheit. Die Knarren der Nachtwächter hallten in der Dunkelheit.

Nur bei David, dem Schneider, war noch Licht. Auf dem breiten Arbeitstisch, zwischen den Geräten, brannte die niedrige Blechlampe, die man noch häufig in Russisch-Polen sieht. Der bauchige Zylinder war stark eingeräuchert und oben ausgebrochen; darüber hing ein Stück gelbes Papier, das als Schirm diente.

Der greise Schneider saß gebückt über einer grauen Bauernkutte und nähte. Auf dem Kopfe trug er ein kleines Käppchen; seine in Eisendraht eingefaßte Brille, an einer Seite mit einem Bindfaden am Ohr befestigt, war bis zur Nasenspitze heruntergerutscht.

Es geschah oft genug, daß der alte David die Nacht von Donnerstag auf Freitag durcharbeitete. Doch diesmal schien er aus einem anderen Grunde zu wachen, denn langsam stach die Nadel in die graue Leinwand. Zuweilen legte er sogar die Arbeit in den Schoß, nahm das aufgeschlagene Psalmbuch, das neben ihm lag und überflog einige Seiten, mit den Augen diesmal über die Gläser hinwegschauend. Doch auch dabei blieb er nicht lange. Unwillkürlich, während seine Lippen langsam die heiligen Worte sprachen, richtete er seinen Blick nach dem kleinen Fenster und seine Gedanken wagten sich weit in die Dunkelheit hinaus. Sie irrten in unbekannte Gegenden, suchten und forschten, als verfolgten sie jemanden, bis ihn ein tiefer Seufzer aus seiner eigenen Brust aufweckte; dann setzte er das Nähen wieder fort.

Auch seine Frau, Lea, wachte. Sie saß auf der Bank neben dem Ofen und putzte eifrig die Messingleuchter, als ob sie heute gar nicht von sechs Uhr morgens bis zum Abend auf dem Markte gewesen wäre.

Eine Unruhe schien den ganzen Raum zu durchzittern. Die neue, weiße Gardine, welche die Stube in der Mitte teilte, das blitzernde Kupfergeschirr auf dem Regal vereinigten sich mit der Flamme der Lampe und füllten den Raum mit einem eigentümlichen, weichen, unbestimmten Lichte, in dem alles sein gewöhnliches Aussehen vertauscht in ein edleres, feierliches. Der Kater, der zusammengerollt auf dem Ofen schlief, fuhr zuweilen auf, sah sich um und sprang dann mit einem Satz auf den Boden; dort blieb er stehen, schaute nach der Tür und auf seinen Herrn, miaute und kletterte dann zurück auf seinen Platz. 1

So verstrich die halbe Nacht, ohne daß die beiden Alten ein Wort miteinander sprachen, und doch beschäftigte beide derselbe Gedanke. Beide bebten in derselben Ungeduld, beider Herzen begannen schneller zu schlagen, sobald sich das mindeste Geräusch hören ließ.

Sie erwarten ihren Jüngsten. Ein paar Tage vorher war ein Brief aus Berlin gekommen, in welchem Abraham mitteilte, daß er sein Studium beendet hätte und daß er zum Sonnabend nach R. kommen würde, um seine Eltern zu besuchen.

Der Apotheker, zu dem man den Brief hingetragen hatte, damit er die deutschen Wörter, die oben auf dem Briefbogen gedruckt waren, vorlese, sagte: Abraham sei ein Doktor, und dieses Wort machte die Armen Eltern schwindlig. Freilich, fügte der Apotheker noch das Wort „der Philosophie“ hinzu; sie verstanden ihn aber nicht, und was sollten sie auch damit. Ihr Kind ein Doktor! Mit Stolz sahen sie schon im Geiste, wie alle Kranken ihres Städtchens sich drängten; jeder will schneller an ihren Sohn herankommen und jeder segnet ihn laut und überschüttet auch sie mit tausend Wünschen.

David, der einst gehofft hatte, in seinen Sohn einen großen Rabbiner zu sehen, und der bisher noch immer einen Groll gegen ihn gehegt, weil er das Talmudstudium verlassen hatte, verzieh ihm jetzt und wartete ungeduldig, ihn endlich wieder in seine Arme schließen zu können. Endlich, bei Anbruch des Tages, hielt ein Wagen vor der Tür. Abraham war bei seinen Eltern.

Davids Gesicht verfinsterte sich, als er vernahm, daß Abraham kein Mediziner sei. Die Mitteilung zerstörte nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt aller Segenswünsche der Kranken zu sehen, sondern sie erweckte auch in ihm Zweifel und Sorgen. In der Nähe seines Kinder jedoch gelang es ihm, sie zeitweilig zu vergessen.

Die alte Lea war auch anfänglich betroffen, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn keine Kranken behandelte. Sie beruhigte sich jedoch bald. Sie sah ihr Kind in ihrem Hause und mehr brauchte sie nicht. Sie hörte ja wieder nach so langer Zeit den Namen „Mutter“, und begann ihr Atem zu stocken und ihre Lippen flüsterten leise: „Mein Kind, mein Kind!“ Und jedesmal, wenn dieses Wort an ihr Ohr klang, während er am breiten, weißgedeckten Tisch saß und in ein Buch vertieft war, schaute sie von der Küche aus so liebevoll, so innig auf ihn, bis Tränen in ihre Augen traten. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken: ihren Abraham. Die Zeit schien ihr ungewöhnlich schnell zu gehen. Früher pflegte sie manchmal das Schlagen der Uhr zu überhören, doch jetzt vernahm sie jedes Ticken und beklagte jede Minute, die verging, denn mit Angst sah sie den Dienstag sich nähern, an dem Abraham abfahren wollte.

David war durch seinen Gast nicht weniger beglückt, aber die Zweifel an der Zukunft seines Kindes verstörten ihm die Freude.

Abraham hatte sich mit ihm freilich deutlich darüber ausgesprochen; allein er hatte nicht alles begriffen. Gern hätte er manche Frage gestellt, aber er fürchtete, es könnte seinem Sohne wehtun, falls auch er solche Zweifel hegte. Abraham hatte erzählt, er sei an einer sehr bedeutenden Zeitschrift als Kunstkritiker angestellt und verdiene soviel, daß er auch seine Eltern unterstützen könne. Kunstkritiker sein, sagte er, hieße Bilder und andere Kunstwerke beurteilen.

Ueber dies alles grübelte David nach, während er, wie gewöhnlich an freien Tagen, vor einem Psalm= oder Mischnahbuch saß. Er beurteilt Bilder und andere Kunstwerke für die Zeitung! 2 Sein Geist blieb bei dem Wort „Bilder“ haften, dies begriff er. In R. gibt es auch Bilder zu verkaufen. Dieser Begriff ruft immer etwas Fremdes, Kaltes in ihm hervor. Er sah sie oft im Vorübergehen in dem Schaufenster des nichtjüdischen Buchhändlers. Darunter befanden sich aber auch solche, die von der christlichen Religionsgeschichte handelten, und er wandte den Blick ab, wenn er unwillkürlich dahingeschaut hatte. Und Abraham beurteilt Bilder! Mitleid mit seinem Kinde zerriß ihm das Herz. Dazu mußte er soviel lernen, soviel studieren! Und wie kann eine solche Beschäftigung wohl einträglich sein? Der Buchhändler handelt ja mit Bildern, besitzt so viele und ist dennoch so arm, daß er immer noch für den Rock schuldet, den er ihm gemacht hat.

Es war einer der heißen Frühherbsttage, an dem die schon entkräftete Natur eine Schwäche empfinden läßt, als könnte sie die glühenden Sonnenstrahlen nicht mehr ertragen. Man glaubt, daß die drückende Hitze nicht auf allem lastet, sondern daß die Sonne aus dem Innern alles Wesens herausglüht und allem einen müden, leidenden Ausdruck verleiht. Die lehmige Landstraße erscheint wie ein kupferner heißer Kessel, wie von innen erhitzt auch der gelbgebrannte Rasen, und aus dem kränklichen, schon blassen Grün der Bäume schauen die einzelnen gelben Blätter wie müde gequälte Augen.

In einem Bauernwagen, gebettet auf frischem Heu, fuhren die drei bis zum Njemen. Dann nahmen sie den Dampfer nach dem nächstliegenden Dorfe, wo Abraham die Eltern eines Freundes besuchen wollte.

Als sie auf dem Rückwege den Dampfer verließen, war die Sonne schon im Sinken. Schweigsam gingen sie heimwärts am Strom entlang, und da sie an einen Wald gelangten, der sich unmittelbar am Ufer erhob, ließen sie sich auf das Moos nieder, um ein wenig zu ruhen.

Kein Windhauch regte sich und doch erfüllte die Luft eine feuchte Kühle und erfrischte die ermattete Natur. Der Njemen floß ruhig dahin und schien bewegungslos, glatt wie ein Spiegel, nur in der Ferne hörte man ein schwaches Gemurmel. Und während er röter und glühender wurde, je näher er den Flammen im Westen kam, kroch eine schwache Dunkelheit langsam von Osten heran, die Glut immer dämpfend; sie vereinigte sich mit dem Dunkel, das zwischen den Bäumen hervorquoll, und breitete sich über den Boden aus, immer höher, immer dichter, die Stämme allmählich verschlingend. Die Berge in der Ferne wechselten ihre Purpurkappen in graue und traten schärfer am noch erleuchteten Himmel hervor.

Der friedliche Abschied des Tages weckte in dem alten Schneider ein bisher nicht gekanntes Gefühl. Zuerst hatte die ungewohnte Umgebung etwas Entfremdendes für ihn, als ob sie sich fern von seiner Empfindung halten wollte, und es war ihm zumute, wie einem Bettler in einem geschmückten Saal zwischen geputzten, ihm unbekannten Gästen. Doch allmählich kam alles in der Dämmerung seinem Gemüte näher und er fühlte auf einmal sein ganzes Wesen harmonisch mit der Natur vereint: alles war ihm lieb, alles war ihm teuer.

Die schweren Gedanken und Sorgen, die er wie eine zusammengeballte Last auf seinem Herzen fühlte, lösten sich auseinander. Sie schwebten nur noch vor seinem Geiste, aber sie quälten ihn nicht; er atmete leicht und frei. Ein Schauer durchströmte ihn und es war ihm feierlich zumute, wie am Jomkippurabend in der hellerleuchteten Synagoge.

Sein Geist blieb jedoch nicht lange bei der Wirklichkeit. Aus verworrenen Vorstellungen tauchte eine enge Dachstube auf, mit nackten Wänden; in der Mitte nur ein halb zerbrochener Tisch, darauf eine brennende Kerze. Sie beleuchtete das blasse, halb verhungerte Gesicht seines Abraham, das einem dicken, deutsch geschriebenen Buche zugewandt war.

Er erschrak über dieses Bild, fuhr auf und wandte sich schnell seinem Sohne zu, der sinnend zwischen ihm und seiner Frau saß. Sein Herz preßte sich zusammen, er fühlte, wie seine Augen heiß wurden, als müßte er weinen. Mit seiner zitternden, mageren Hand ergriff er die seines Kindes und drückte sie innig.

Abraham spürte die innere Erregung seines Vaters und empfand, daß dieser Moment geeignet sei, mit ihm über seinen Beruf zu sprechen.

„Vater,“ sagte er, „hast du mich in dieser Stunde lieber als sonst?“

„Ja, mein Kind, mein Herz ist übervoll.“

„Siehst du, Vater, so wirkt die Natur. In ihrer Nähe werden alle unsere Empfindungen groß und mächtig, daß wir hinauswachsen über uns selbst, sogar über unsere Leiden. Wir alle brauchen die Natur, wir alle empfinden sie, bewußt oder unbewußt.“

„Mein Kind, du hast mich mit deinem Besuch glücklich gemacht, aber wenn ich an deinen Beruf, an deine Zukunft denke … Nach so langem Studieren und Leiden wollte ich, daß du der Welt nützest, daß man dich nötig hätte.“

„Ich habe ja einen sehr guten Beruf, ich bin Kunstkritiker, wie ich es dir schon erzählt habe. Es ist wahr, daß nicht alle Menschen die Kunst brauchen, aber viele haben sie nötig wie die Natur selbst; sie ist ihrer Seele so wichtig, wie dem kranken Körper die Medizin. Vielleicht würdest du es verstehen, wenn ich dir ein solches Kunstwerk zeigen könnte. Fremd war dir auch die Natur und doch fühlst du jetzt, wie sie dich verändert und beglückt.“

David verstand auch jetzt nicht alles, was sein Sohn ihm sagte, doch heute empfand er eine Wahrheit, die er zwar nicht ganz begriff, von der aber sein Sohn überzeugt war.

Unterdessen war der Abend ganz herausgebrochen und löste alles in sich auf. Nur auf der Wasserfläche zitterte der Mond und bei dem matten Scheine las Abraham ein Zugeständnis und eine Beruhigung in den leuchtenden Blicken seines Vaters.

Ein leichter Wind rauschte durch die Bäume und brachte von ferne eine kräftige Stimme mit sich. Es war der Bauer, der mit dem Wagen sie abzuholen kam. (Isr. Familienbl.) 

➥ Zur Biographie: Max I. Salzberg

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 46 vom 18.11.1910, S. 1ff

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Es war an einem Donnerstag nach dem Markte. Die Bauern und die Händler, die sich den ganzen Tag zwischen den beladenen Wagen, Buden, Tieren und den mannigfaltigsten Waren rufend, schreiend, herumgetummelt hatten, zogen sich zurück. Mit ihnen verschwand auch der Lärm und nur der schwere, stickende Geruch, der aus den verödeten, schmutzigen Gassen aufstieg, verriet noch vom Leben und Treiben des Tages.

Es schlug Mitternacht; die trüben Petroleumlaternen wurden ausgelöscht und das Städtchen R. verschwand in der Dunkelheit. Die Knarren der Nachtwächter hallten in der Dunkelheit.

Nur bei David, dem Schneider, war noch Licht. Auf dem breiten Arbeitstisch, zwischen den Geräten, brannte die niedrige Blechlampe, die man noch häufig in Russisch-Polen sieht. Der bauchige Zylinder war stark eingeräuchert und oben ausgebrochen; darüber hing ein Stück gelbes Papier, das als Schirm diente.

Der greise Schneider saß gebückt über einer grauen Bauernkutte und nähte. Auf dem Kopfe trug er ein kleines Käppchen; seine in Eisendraht eingefaßte Brille, an einer Seite mit einem Bindfaden am Ohr befestigt, war bis zur Nasenspitze heruntergerutscht.

Es geschah oft genug, daß der alte David die Nacht von Donnerstag auf Freitag durcharbeitete. Doch diesmal schien er aus einem anderen Grunde zu wachen, denn langsam stach die Nadel in die graue Leinwand. Zuweilen legte er sogar die Arbeit in den Schoß, nahm das aufgeschlagene Psalmbuch, das neben ihm lag und überflog einige Seiten, mit den Augen diesmal über die Gläser hinwegschauend. Doch auch dabei blieb er nicht lange. Unwillkürlich, während seine Lippen langsam die heiligen Worte sprachen, richtete er seinen Blick nach dem kleinen Fenster und seine Gedanken wagten sich weit in die Dunkelheit hinaus. Sie irrten in unbekannte Gegenden, suchten und forschten, als verfolgten sie jemanden, bis ihn ein tiefer Seufzer aus seiner eigenen Brust aufweckte; dann setzte er das Nähen wieder fort.

Auch seine Frau, Lea, wachte. Sie saß auf der Bank neben dem Ofen und putzte eifrig die Messingleuchter, als ob sie heute gar nicht von sechs Uhr morgens bis zum Abend auf dem Markte gewesen wäre.

Eine Unruhe schien den ganzen Raum zu durchzittern. Die neue, weiße Gardine, welche die Stube in der Mitte teilte, das blitzernde Kupfergeschirr auf dem Regal vereinigten sich mit der Flamme der Lampe und füllten den Raum mit einem eigentümlichen, weichen, unbestimmten Lichte, in dem alles sein gewöhnliches Aussehen vertauscht in ein edleres, feierliches. Der Kater, der zusammengerollt auf dem Ofen schlief, fuhr zuweilen auf, sah sich um und sprang dann mit einem Satz auf den Boden; dort blieb er stehen, schaute nach der Tür und auf seinen Herrn, miaute und kletterte dann zurück auf seinen Platz.

So verstrich die halbe Nacht, ohne daß die beiden Alten ein Wort miteinander sprachen, und doch beschäftigte beide derselbe Gedanke. Beide bebten in derselben Ungeduld, beider Herzen begannen schneller zu schlagen, sobald sich das mindeste Geräusch hören ließ.

Sie erwarten ihren Jüngsten. Ein paar Tage vorher war ein Brief aus Berlin gekommen, in welchem Abraham mitteilte, daß er sein Studium beendet hätte und daß er zum Sonnabend nach R. kommen würde, um seine Eltern zu besuchen.

Der Apotheker, zu dem man den Brief hingetragen hatte, damit er die deutschen Wörter, die oben auf dem Briefbogen gedruckt waren, vorlese, sagte: Abraham sei ein Doktor, und dieses Wort machte die Armen Eltern schwindlig. Freilich, fügte der Apotheker noch das Wort „der Philosophie“ hinzu; sie verstanden ihn aber nicht, und was sollten sie auch damit. Ihr Kind ein Doktor! Mit Stolz sahen sie schon im Geiste, wie alle Kranken ihres Städtchens sich drängten; jeder will schneller an ihren Sohn herankommen und jeder segnet ihn laut und überschüttet auch sie mit tausend Wünschen.

David, der einst gehofft hatte, in seinen Sohn einen großen Rabbiner zu sehen, und der bisher noch immer einen Groll gegen ihn gehegt, weil er das Talmudstudium verlassen hatte, verzieh ihm jetzt und wartete ungeduldig, ihn endlich wieder in seine Arme schließen zu können.

Endlich, bei Anbruch des Tages, hielt ein Wagen vor der Tür. Abraham war bei seinen Eltern.

*

Davids Gesicht verfinsterte sich, als er vernahm, daß Abraham kein Mediziner sei. Die Mitteilung zerstörte nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt aller Segenswünsche der Kranken zu sehen, sondern sie erweckte auch in ihm Zweifel und Sorgen. In der Nähe seines Kinder jedoch gelang es ihm, sie zeitweilig zu vergessen.

Die alte Lea war auch anfänglich betroffen, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn keine Kranken behandelte. Sie beruhigte sich jedoch bald. Sie sah ihr Kind in ihrem Hause und mehr brauchte sie nicht. Sie hörte ja wieder nach so langer Zeit den Namen „Mutter“, und begann ihr Atem zu stocken und ihre Lippen flüsterten leise: „Mein Kind, mein Kind!“ Und jedesmal, wenn dieses Wort an ihr Ohr klang, während er am breiten, weißgedeckten Tisch saß und in ein Buch vertieft war, schaute sie von der Küche aus so liebevoll, so innig auf ihn, bis Tränen in ihre Augen traten. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken: ihren Abraham. Die Zeit schien ihr ungewöhnlich schnell zu gehen. Früher pflegte sie manchmal das Schlagen der Uhr zu überhören, doch jetzt vernahm sie jedes Ticken und beklagte jede Minute, die verging, denn mit Angst sah sie den Dienstag sich nähern, an dem Abraham abfahren wollte.

David war durch seinen Gast nicht weniger beglückt, aber die Zweifel an der Zukunft seines Kindes verstörten ihm die Freude. Abraham hatte sich mit ihm freilich deutlich darüber ausgesprochen; allein er hatte nicht alles begriffen. Gern hätte er manche Frage gestellt, aber er fürchtete, es könnte seinem Sohne wehtun, falls auch er solche Zweifel hegte.

Abraham hatte erzählt, er sei an einer sehr bedeutenden Zeitschrift als Kunstkritiker angestellt und verdiene soviel, daß er auch seine Eltern unterstützen könne. Kunstkritiker sein, sagte er, hieße Bilder und andere Kunstwerke beurteilen.

Ueber dies alles grübelte David nach, während er, wie gewöhnlich an freien Tagen, vor einem Psalm= oder Mischnahbuch saß. Er beurteilt Bilder und andere Kunstwerke für die Zeitung! Sein Geist blieb bei dem Wort „Bilder“ haften, dies begriff er. In R. gibt es auch Bilder zu verkaufen. Dieser Begriff ruft immer etwas Fremdes, Kaltes in ihm hervor. Er sah sie oft im Vorübergehen in dem Schaufenster des nichtjüdischen Buchhändlers. Darunter befanden sich aber auch solche, die von der christlichen Religionsgeschichte handelten, und er wandte den Blick ab, wenn er unwillkürlich dahingeschaut hatte. Und Abraham beurteilt Bilder! Mitleid mit seinem Kinde zerriß ihm das Herz. Dazu mußte er soviel lernen, soviel studieren! Und wie kann eine solche Beschäftigung wohl einträglich sein? Der Buchhändler handelt ja mit Bildern, besitzt so viele und ist dennoch so arm, daß er immer noch für den Rock schuldet, den er ihm gemacht hat.

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Es war einer der heißen Frühherbsttage, an dem die schon entkräftete Natur eine Schwäche

empfinden läßt, als könnte sie die glühenden Sonnenstrahlen nicht mehr ertragen. Man glaubt, daß die drückende Hitze nicht auf allem lastet, sondern daß die Sonne aus dem Innern alles Wesens herausglüht und allem einen müden, leidenden Ausdruck verleiht. Die lehmige Landstraße erscheint wie ein kupferner heißer Kessel, wie von innen erhitzt auch der gelbgebrannte Rasen, und aus dem kränklichen, schon blassen Grün der Bäume schauen die einzelnen gelben Blätter wie müde gequälte Augen.

In einem Bauernwagen, gebettet auf frischem Heu, fuhren die drei bis zum Njemen. Dann nahmen sie den Dampfer nach dem nächstliegenden Dorfe, wo Abraham die Eltern eines Freundes besuchen wollte.

Als sie auf dem Rückwege den Dampfer verließen, war die Sonne schon im Sinken. Schweigsam gingen sie heimwärts am Strom entlang, und da sie an einen Wald gelangten, der sich unmittelbar am Ufer erhob, ließen sie sich auf das Moos nieder, um ein wenig zu ruhen.

Kein Windhauch regte sich und doch erfüllte die Luft eine feuchte Kühle und erfrischte die ermattete Natur. Der Njemen floß ruhig dahin und schien bewegungslos, glatt wie ein Spiegel, nur in der Ferne hörte man ein schwaches Gemurmel. Und während er röter und glühender wurde, je näher er den Flammen im Westen kam, kroch eine schwache Dunkelheit langsam von Osten heran, die Glut immer dämpfend; sie vereinigte sich mit dem Dunkel, das zwischen den Bäumen hervorquoll, und breitete sich über den Boden aus, immer höher, immer dichter, die Stämme allmählich verschlingend. Die Berge in der Ferne wechselten ihre Purpurkappen in graue und traten schärfer am noch erleuchteten Himmel hervor.

Der friedliche Abschied des Tages weckte in dem alten Schneider ein bisher nicht gekanntes Gefühl. Zuerst hatte die ungewohnte Umgebung etwas Entfremdendes für ihn, als ob sie sich fern von seiner Empfindung halten wollte, und es war ihm zumute, wie einem Bettler in einem geschmückten Saal zwischen geputzten, ihm unbekannten Gästen. Doch allmählich kam alles in der Dämmerung seinem Gemüte näher und er fühlte auf einmal sein ganzes Wesen harmonisch mit der Natur vereint: alles war ihm lieb, alles war ihm teuer.

Die schweren Gedanken und Sorgen, die er wie eine zusammengeballte Last auf seinem Herzen fühlte, lösten sich auseinander. Sie schwebten nur noch vor seinem Geiste, aber sie quälten ihn nicht; er atmete leicht und frei. Ein Schauer durchströmte ihn und es war ihm feierlich zumute, wie am Jomkippurabend in der hellerleuchteten Synagoge.

Sein Geist blieb jedoch nicht lange bei der Wirklichkeit. Aus verworrenen Vorstellungen tauchte eine enge Dachstube auf, mit nackten Wänden; in der Mitte nur ein halb zerbrochener Tisch, darauf eine brennende Kerze. Sie beleuchtete das blasse, halb verhungerte Gesicht seines Abraham, das einem dicken, deutsch geschriebenen Buche zugewandt war.

Er erschrak über dieses Bild, fuhr auf und wandte sich schnell seinem Sohne zu, der sinnend zwischen ihm und seiner Frau saß. Sein Herz preßte sich zusammen, er fühlte, wie seine Augen heiß wurden, als müßte er weinen. Mit seiner zitternden, mageren Hand ergriff er die seines Kindes und drückte sie innig.

Abraham spürte die innere Erregung seines Vaters und empfand, daß dieser Moment geeignet sei, mit ihm über seinen Beruf zu sprechen.

„Vater,“ sagte er, „hast du mich in dieser Stunde lieber als sonst?“
„Ja, mein Kind, mein Herz ist übervoll.“
„Siehst du, Vater, so wirkt die Natur. In ihrer Nähe werden alle unsere Empfindungen groß und

mächtig, daß wir hinauswachsen über uns selbst, sogar über unsere Leiden. Wir alle brauchen die Natur, wir alle empfinden sie, bewußt oder unbewußt.“

„Mein Kind, du hast mich mit deinem Besuch glücklich gemacht, aber wenn ich an deinen Beruf, an deine Zukunft denke … Nach so langem Studieren und Leiden wollte ich, daß du der Welt nützest, daß man dich nötig hätte.“

„Ich habe ja einen sehr guten Beruf, ich bin Kunstkritiker, wie ich es dir schon erzählt habe. Es ist wahr, daß nicht alle Menschen die Kunst brauchen, aber viele haben sie nötig wie die Natur selbst; sie ist ihrer Seele so wichtig, wie dem kranken Körper die Medizin. Vielleicht würdest du es verstehen, wenn ich dir ein solches Kunstwerk zeigen könnte. Fremd war dir auch die Natur und doch fühlst du jetzt, wie sie dich verändert und beglückt.“

David verstand auch jetzt nicht alles, was sein Sohn ihm sagte, doch heute empfand er eine Wahrheit, die er zwar nicht ganz begriff, von der aber sein Sohn überzeugt war.

Unterdessen war der Abend ganz herausgebrochen und löste alles in sich auf. Nur auf der Wasserfläche zitterte der Mond und bei dem matten Scheine las Abraham ein Zugeständnis und eine Beruhigung in den leuchtenden Blicken seines Vaters.

Ein leichter Wind rauschte durch die Bäume und brachte von ferne eine kräftige Stimme mit sich. Es war der Bauer, der mit dem Wagen sie abzuholen kam. (Isr. Familienbl.)

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Transkription

Zur Biographie: Schalom Asch

In: Menorah, H. 9 (1927), S. 511-516.

 

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Zur Biographie: Schalom Asch

In: Selbstwehr, 11. Jahrgang, Ausgabe 17 vom 27.04.1917, S. 2f & Ausgabe 18 vom 04.05.1917, S. 2f

 

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Tran-skription

 [Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

 

Ausgabe 17 vom 27.04.1917, S. 2f

Durch den halbzerrissenen blauen Vorhang fallen Streifen Lichts auf das breite Bett, das das ganze kleine Stübchen ausfüllt. Das Licht fällt auf Leibels bleiches Gesicht, das ganz vergraben ist in Decken und Kissen; der Mund ist halb geöffnet, und die zwei Vorderzähne aus dem leeren Kiefer herausragend wie zerbrochene Scheiben aus einem Fenster. Und Leibels Augen sind zugedrückt, zwinkern, und sein Gesicht lächelt: Leibel träumt, er wäre in der alten Heimat.

Er wäre in der alten Heimat, und er wäre noch Leibel. Er geht durch eine Gasse daheim im Städtchen, die Juden winken ihm zu von der Schwelle ihrer Gewölbe, und er dankt nicht und geht weiter, und auf einmal trägt er eine Medaille an der Brust, auf einmal ist er Oberaufseher geworden. Nein, er ist Mosche, der Fuhrmann, geworden und er ist Aufseher über Achlofs Werkstätte, und er ordnet an, den einen auf 24 Stunden einzusperren, und einen anderen läßt er auf 8 Tage einsperren bei Wasser und Brot, und plötzlich geht er auf Leibel zu, der mit dem Bruder Henoch in einem Winkel sitzt und Hemden näht, und Leibel sieht, wie Leibel auf ihn zukommt und fängt an, rascher zu nähen, beugt den Kopf tief über das Hemd und näht und näht. Doch Leibel ist böse und schwingt seinen Stock – was tust du da, Leibel? Was stehst du? Was sitzt du? Wie heißt du? – – und Leibel ist erschrocken und kann nicht antworten, und Leibel befiehlt, man solle Leibel auf 24 Stunden einsperren bei Wasser und Brot. Leibel will sagen, daß er Leibel ist – und kann nicht reden. Und Leibel wundert sich, wie Leibel Leibel einsperren lassen kann. – „Leibel, Leibel, es hat schon 7 Uhr geschlagen“, weckt ihn jemand. „Leibel, du hörst nicht – Leibel!“ Leibel reißt die Augen auf und blickt sich verwundert um, wo er sich befinde, und er hört Chasches Stimme aus der anderen Stube.

„Nun, Leibel, willst du vielleicht, daß Moschele Fuhrmann dir wieder vom Lohn abzieht, willst du dich schon wieder verspäten?“

Die Mutter aber, die sich an den strengen Ton gegen Leibel immer noch nicht gewöhnen kann, weil seine Augen sie noch immer zu sehr an bessere Zeiten erinnern, steckt den Kopf durch den Vorhang, der die Küche vom Zimmer abschließt: „Leibel, es ist doch schon so spät, du wirst doch dann Verdruß haben.“

Und Leibel kommt es wieder zum Bewußtsein, daß es schon drei Jahre her ist, daß er aufgehört hat, Leibel zu sein und Zuschneider in Achlofs Werkstätte geworden ist. Schon drei Jahre, daß er sitzt und Hemden näht. Leibel näht Hemden. Er hatte gemeint, er werde nur ein paar Wochen nähen müssen, bis er im Lande ein bißchen bekannt geworden sein würde, in der Gasse, mit den Menschen; danach würde er sich schon heraushelfen, er würde es schon zu etwas bringen, er würde schon etwas werden, ein Handelsmann, und vielleicht selbst einmal so etwas wie ein Fabrikant, und so immer weiter. Was, er, Leibel, sollte sein Leben verbringen in Achlofs Werkstätte? – Aber Leibel hat sich nach und nach an die Werkstätte gewöhnen müssen, der Ehrgeiz hat nur noch geträumt, phantasiert – und Leibel hat schließlich Erbarmen gefühlt mit Weib und Mutter, die er allein in der Heimat gelassen hatte, Leibel hat die Familie herübergenommen, und Leibel näht noch immer Hemden und träumt bei Nacht von dem alten Leibel.

Aber der Traum ist bald ausgeträumt, denn Leibel sieht, daß der Tag schon dämmert. „O weh, so spät ist es schon,“ ruft Leibel aus und gießt flink Wasser über sein Gesicht, zieht sich an, hat keine Zeit mehr zu beten, die Frau läßt ihn kaum essen, die Mutter hat Mitleid: „Laß ihn das bissel Kaffee austrinken, er hat dann mehr Kraft zu arbeiten.“ Leibel ein Arbeiter, du lieber Gott!

„Schwiegermutter, es ist ihm niemand daran schuld, er hat sich das alles allein eingebrockt, alles allein,“ antwortet die Frau.

„Natürlich, der Tunichtgut, der gottverlassene Tunichtgut. Hätte man den Tunichtgut nicht in die Stube hereingestellt, wäre er doch zu gar nichts gekommen.“

„Schon wieder mit dem „Tunichtgut,“ schon wieder. Ich habs schon gehört – was willst du? Du hast dich über nichts zu beklagen, dächte ich, also was willst du?“

Die Mutter sieht Leibels flammende Augen und aus Gewohnheit erschrickt sie und möchte die Worte gern ungesagt machen; aber die Schwiegertochter kommt ihr zu Hilfe:

„Ganz recht, Schwiegermutter, ihr mögt ihn ruhig Tunichtgut nennen. Ihr braucht keine Angst zu haben. Aus ists mit dem Telephon, aus mit Leibele. – Leibel ist jetzt ein gewöhnlicher Arbeiter in Achlofs Werkstätte und Mosche Fuhrmann ist ein Herr, – da ist nichts weiter zu erschrecken.“

Leibel fühlt sich der Mutter gegenüber noch stark genug, aber gegen die Frau hat er hier in Amerika seine ganze Ueberlegenheit eingebüßt. Teils fühlt er sich schuldig ihr gegenüber, weil er sie um ihr Geld gebracht hat, und teils ist es noch etwas anderes. Seine Chasche ist herübergekommen nach Amerika und hat gesehen und gehört, wie ihre Nachbarin, eine fette, rumänische Jüdin, ihren Mann behandelt, wie alle Weiber in Amerika ihre Männer behandeln und sie hat bald gelernt, daß in Amerika »ladies first« sind und Leibel hat sein ganzes Ansehen bei ihr verloren. Leibel hat nicht mehr kommandiert, man hat ihn kommandiert und nicht Chasche mehr, sondern Leibel mußte nun wissen, wohin Chasche etwas abgeräumt hatte. „Leibel, wo steht der Besen?“ Leibel mußte Chasche Rechnung ablegen über jeden Groschen, den er ausgab, Leibel wußte selbst nicht, wie es gekommen war: auf einmal hatte er aufgehört, Leibel zu sein und Chasche war Leibel geworden. Und sowie Leibel einmal zu herrschen verstanden hatte, so hatte er nun bald gelernt, beherrscht zu werden – er traute sich kaum mehr, den Mund aufzumachen.

Er nimmt sein Butterbrot und seine Tasche, ruft ihnen ein Wort zu und geht.

 

Ausgabe 18 vom 04.05.1917, S. 2f

(Schluß folgt.)

 

(Schluß.)
Seit Leibel in Amerika ist und bei Achlof Hemden näht, hat er angefangen, nachzudenken. Er hat schon zuhause Neigung zum Nachdenken gehabt, aber hier in Amerika, wenn er den ganzen Tag bei der Maschine sitzt und Hemden näht, hat er Zeit, nachzusinnen und sein ganzes Leben zu überdenken. Er sitzt den ganzen Tag und denkt: eben noch Leibel gewesen, denkt er – und schon vorbei. Und warum ist es so? – sinnt und sinnt er und kommt zu keinem Ende. In Achlofs Werkstätte läßt es sich gut nachdenken, denn dort gibt es genug Material, nicht nur die Hände zu beschäftigen, sondern auch den Geist. In Achlofs Werkstätte hat sich ganz Kruschnewitz zusammengefunden. Immer wieder taucht ein neuer Hausvater aus Kruschnewitz dort auf, der zuhause Kaufmann gewesen war, Geschäftsmann, ein reicher Mann, ein Vorsteher, ein angesehener Mensch. Einer nach dem anderen sind sie hereingekommen in Achlofs Werkstätte, wie aufgestörte Geister, und haben Hemden genäht. Die ganze Misrach-Wand aus der Kruschnewitzer Schul hat sich schon in Achlofs Werkstätte zusammengefunden. Leibel schaut sich um: ihm gegenüber sitzt sein Nachbar, der Uhrmacher Weinstein, um dessentwillen das ganze Unglück geschehen ist – nun sitzen beide Nachbarn da und nähen Hemden. Ein bißchen weiter der Lederhändler, bei welchem er 1000 Rubel stehen gehabt hatte; Reb Jechiel, der Vorsteher, und Mosche Aron, der Zigarrenmacher, der Politiker des Städtchens. Alle sind sie da, und Aufseher über sie ist Mosche, der Fuhrmann. Dieselbe Hand, die in der Heimat die Pferde angetrieben hat, dieselbe Hand treibt jetzt die Hausväter von Kruschnewitz in Amerika an die Arbeit. Und so wie die Toten, die auf dem Friedhofe liegen, nichts anderes zu tun haben, als ihr früheres Leben zu überdenken, so denkt Kruschnewitz in der Werkstätte von Achlof an das vergangene Leben in Kruschnewitz zurück. An jeden elenden Stein am Kruschnewitzer Markte erinnert man sich da, jede Begebenheit aus vergangenen Zeiten wird durchgesprochen und hat man nichts Neues, erinnert man sich an Altes.

„Denkst du noch, Leibel, wie du mich einmal, als ich so dahinschlenderte, zu dir gerufen und mich gefragt hast, warum ich mich auf dem Markt herumtreibe? Als ob ich bei dir in Arbeit gewesen wäre?“ fragt Mordechai, der Schuster, welcher auch schon in Achlofs Werkstätte sitzt.

„Denkst du noch, Leibel, wie du mich einmal mit meiner Frau und dem Kinde vor der Tür meines Hauses sitzend angetroffen hast, und für nichts und wieder nichts bist du auf mich zugekommen und hast mich gefragt, ob ich dir die 1000 Rubel, die ich dir schuldig bin, vorbereitet habe, trotzdem ich dir Zinsen gezahlt habe und du das Geld nicht gebraucht hast, nur so, es hat dir nicht gepaßt, daß mein Kind ein Ei gegessen hat; siehst du, deinetwegen sitze ich heute in Amerika und nähe Hemden bei Achlof, denn hättest du mir dann nicht das Haus mit dem Ledergeschäft verkauft, so wäre ich noch bis zum heutigen Tage ein Kaufmann“ – sagt der Lederhändler.

Und Leibel erinnert sich an alles. Er weiß auch, daß es so gewesen ist und kann nicht verstehen, warum es so gewesen ist; so schlecht ist er gewesen. Wie hat er, Leibel, so schlecht sein können und warum hat er damals nicht gewußt, was er heute weiß?

Seit der Uhrmacher Weinstein herübergekommen und auch in Achlofs Werkstätte hereingeraten ist, haben sich die Landsleute bemüht, zwischen ihnen Frieden zu stiften. Aber bis jetzt ist ihnen dies nicht gelungen. Wie hat man sie nicht in der Versammlung der Kruschnewitzer Männer am Jom Kippur bearbeitet, sie sollen sich versöhnen. Es hat nichts geholfen. Der Uhrmacher Weinstein, der ein Starrkopf ist, hat geschrieen: ich soll mich versöhnen mit dem Kerl, der mich um mein Erbe gebracht und mich und meinen Sohn unglücklich gemacht hat? – Und Leibel hat geschrieen: Seinetwegen habe ich doch mein ganzes Vermögen verloren. Er hat mich angezeigt, und seinetwegen habe ich nach Amerika müssen.

Nur Moschele, der Fuhrmann, macht Frieden zwischen den beiden. Wenn sich die Landsleute zuviel von daheim unterhalten, kommt Moschele herein und schlägt mit der Hand auf: „Was Kruschnewitz, hier ist kein Kruschnewitz; werdet ihr arbeiten, so ists „allright“, wenn nicht, nehmt die Beine in die Hand und schaut, daß ihr herauskommt“, und er nähert sich Leibel, und wirft einen Blick auf den Stoß Hemden, der neben ihm liegt. „Das ist alles, was du heute gemacht hast? Was meinst du da, bist du Leibel? Da ist nicht Kruschnewitz.“ Und er zieht ihm von seinem Taglohn ab, und das gleiche Stückel spielt er dem Uhrmacher. So büßen sie beide.

Die Landsleute haben dem Fuhrmann einen Namen gegeben: „Leibel“. Und wenn Mosche, der Fuhrmann, seine Stimme erhebt und schreit: „Was Kruschnewitz! Vorwärts, vorwärts!“, sagen die Landsleute: „Leibel leibelt schon“.

Leibel hört das und erinnert sich an den Traum, den er gehabt hat, wie Leibel zu Leibel gekommen ist und Leibel Leibel gejagt und kommandiert hat, und er fängt an, den Traum zu verstehn. Und oftmals, wenn Leibel so bei der Arbeit sitzt und an die alte Heimat denkt, was er in der alten Heimat gewesen und was nun aus ihm geworden ist, ruft er den Bruder Henoch, mit dem er schon daheim gern philosophiert hat:

„Weißt du, Henoch, mir kommt es vor, als sei ich gestorben und wieder von neuem geboren worden. Das Leben dort in Kruschnewitz war das Leben eines andern Leibel, und jener Leibel ist gestorben und nun bin ich wieder geboren worden und bin ein Schneider, Arbeiter bei Achlof; ich bin nur falsch geboren worden. Und ihr alle hier, ganz Kruschnewitz ist gestorben und wieder geboren worden in Amerika als Schneider in Achlofs Werkstätte und Mosche, der Fuhrmann, treibt sie an.“

„Nein, Leibel, du bist nicht gestorben“, widerspricht der Bruder mit philosophischer Ueberlegung. „Und ich bin nicht gestorben, und ganz Kruschnewitz ist nicht gestorben. Der Leibel hat sich nur verändert. Dort in der Heimat warst du Leibel und hier ist Mosche Leibel. Was ist der Unterschied? Dort war es schlecht und hier ist es schlecht. Wo „Leibel“ ist, da ist es nicht gut.“

„Wird denn Leibel niemals sterben? ich bin doch schon gestorben.“

„Du ja, aber Leibel nicht; Leibel lebt ewig. In jedem Geschlecht, in jedem Leben lebt Leibel. Weil Leibel in uns lebt. In einem jeden von uns gibt es ein Stück Leibel, er wird stark nud [sic.] sättigt sich von unserem Blut. Und meinst du, bei dir, Leibel, ist Leibel schon tot?“ – fährt der Bruder fort. „Warte nur ein bißchen. Jetzt bist du geschlagen und gedrückt. Aber stehe du nur ein bißchen fester auf den Füßen hier in Amerika, laß es dir nur ein bißchen besser gehen; wenn du Mosche zu befehlen haben wirst und nicht Mosche dir, dann wirst du sehen, wie der alte „Leibel“ auf einmal wieder zum Vorschein kommen wird und mit noch größerer Stärke, noch größerer Frechheit, sodaß dich alle fürchten werden.“

Leibel denkt nach und schweigt, weil er einsieht, daß der Bruder die Wahrheit gesprochen hat.

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 9 vom 27.02.1925, S. 2f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Sokolow, der soeben seine Reise beendet, die nach den Triumphzügen Ussischkins und Weizmanns als die dritte Heerschau der letzten Monate über das aktionsbereite Judentum Europas gelten kann, – Sokolow schrieb eine Novelle „Der neue Jude“, die der Wiener Renaissanceverlag jetzt als Büchlein erscheinen läßt. Sie enthält den Werdegang eines Bochers, der tiefreligiös und von genialer Begabung, von allen Formeln politischer und ethischer Gegenwartsfragen unangefochten, zur Erkenntnis gelangt, daß „Jude sein“ wahre Religion wie wahre Volksarbeit in sich schließt und sein Leben als „persönlicher Zionist“ in Palästina aufbaut. Diese kleine Novelle enthält im Kerne all das, was Stärke und Schwäche der gegenwärtigen jüdischen Erzählung ausmacht, die seit der Umwandlung und Verkörperung des jüdischen Volksgedankens nur noch einen Gedanken hat: Das Leben des Juden, wie es ist, wie es war, sein sollte, sein wird. Die Sorge, die sich in diesen ständig variierten Themen äußert, ist recht sonderbar: einerseits erscheint sie geradezu wissenschaftlich bemüht, das Heute für die Kultushistorie des späteren. besseren Volkes aufbewahren zu wollen, andererseits ist sie oft tendenziös, eine Erweckungs- und Einkehrlektüre, die von rechtswegen durch eine Mission herausgegeben werden müßte.

Es ist das kein künstlerischer Fehler, aber ein besinnlicher. Die Literatur darf Prophet und Tyrtaeus sein, es ist ihre Pflicht, den Gefühlen der Gesamtheit einen höheren Ausdruck zu geben, sofern dieser ein persönlicher ist (nur dann ist er ein höherer). Und sie darf und muß nur das schildern, was sie sieht. Aber das Sonderbare ist, daß diese Literatur eben nur den Juden sieht, immer wieder ihn, die Anderen nur als seine äußeren Bedingtheiten, ohne daß sie ihr ein eigenes Interesse erwecken könnten. Das ist die Weiterentwicklung unseres Intellekts: beim ersten Auszug nahm man die Schätze der andern mit, so viel man von ihnen erraffen konnte. Beim zweiten Auszug trennte man sich von ihnen durch eine sorgfältige Zwischenschicht. „Rückkehr ins Judentum?“ Rückassimilierung an einen Begriff, der uns ebenso fremd ist, wie es uns der der Wüste war, an den wir uns zuerst assimilierten. Rückassimilation an sich selbst und als vorsichtige Zwischenschicht zwischen dem Gestern, das der Jude unter Fremden erlebte, und dem Morgen, das er unter Juden erleben soll, wird das Heute als eine Isolation, wo er sich beschauend mit sich allein ist, eingeschaltet. (Dieser Einstellung ermangelt nur jene Literatur, der die Vorbedingung der Assimilation des Gestern fehlt, die eine jüdische Vergangenheit hat: die der Ostjuden. Aber von der ist hier nicht die Rede.)

Wenn der Jude (des Westens) sich als Jude fühlen werde, so müßte er nicht eben an dem heutigen Zeitpunkte sich selbst erforschen, abschildern und moralisieren. Das Gegenteil wäre der Fall, ein letztes dankbares und inniges Beschäftigen mit den Anderen, denen er, ob räumlich oder geistig, morgen schon entfremdet sein wird. Ein letztes Zusammenfassen, Erfassen der Güter, mit denen er zum letzten Male so vertraut ist, so wie man aus einer schönen fremden Landschaft sich Andenken mit nach Hause nimmt. Aber der Jude ist seiner selbst nicht sicher. Solch letzte Steigerung dessen, was er bisher genoß, wäre eine Gefahr, sich aufs neue zu verlieren. Und dann ist das Eigene noch gar nicht erfaßt. Dieses Heute ist der Augenblick, wo das Fremde schon losgelassen, das Eigene noch nicht ergriffen wird. Und so faßt er mit beiden Händen danach.

Die Gegenwart des Juden wird mit einer fast feindseligen Objektivität in Lacretelles „Silbermann“ dargestellt. Der hochgesinnte junge Arier, der sich des Juden annimmt, weil er dessen geistige Ueberlegenheit im gleichem Maße bewundert, wie dessen bedrängte Lage seine ritterlichen Instinkte entflammt, fällt von dem Juden ab, durch die schäbigsten und menschlichsten Nöte getrieben. Das Buch schildert beide Jünglinge, den einen als Menschen, den andern als Rassetypus mit gleicher künstlerischer Sorgfalt. Der Jude nimmt allen geistigen Besitz der anderen in einer nachschöpferischen Weise auf (die, sehr gut geschildert, ein Zwischending zwischen Produktion und Reproduktion darstellt), ist tapfer, verbissen, prahlerisch und berechnend, erhebt den anderen auf den Fittig seiner erborgten Fähigkeit zur Höhe – das alles, dieses Spiel und Widerspiel, zeigt mehrmals den Juden allein, zeigt weniger ihn im Verhältnis zu seiner Umgebung, als seine Umgebung im Verhältnis zu ihm. Diese schonungslose Novelle ist sehr schön. Sie stellt schon einen höheren Grad der Selbstbetrachtung dar, jenen, der sich den andern zum Maßstab nimmt, nicht um zu dem optimistischen Schluß zu kommen, daß jener wenigstens nicht besser ist, sondern zu dem realistischen, daß sie „beide elend sind.“

Aber sonst ist für unsere Literatur dieser Zeit die Sehnsucht nach der positiven, nicht nach der objektiven Selbsterkenntnis typisch. Man sucht den Helden im Juden, den Helden, der nach Carlyles Definition den ritterlichen und persönlichen Wert in gleich ungewöhnlichem Maße besitzt. Daraus resultiert die Schilderung heroischer Judenkämpfe, die, so wie seinerzeit im Buche „Jiskor“ ziemlich lesebuchhaft in dem Büchlein Poljekins „Helden und Kämpfer“ (Renaissanceverlag) dargestellt wird. Es ist der Fehler unserer Sehnsucht, daß wir solche Schriften, seien sie literarisch auch noch so belanglos, nicht ohne Ergriffenheit lesen können. Wenn wir diesen Fehler überwinden, so sehen wir, wie wir uns selbst ins Romantische zu verlocken trachten, wie der Kampf des Morgen mit dem Zauberschleier der Aventiure verhüllt wird, um die Abenteurer- und die Heldenlust zu entfachen. Das ist die Art eines Volkes, das seine „Wiedergeburt“ so wörtlich nimmt, daß es sich jetzt in den Gymnasiastenjahren glaubt und an die edle Tatenlust der Halbwüchsigen appelliert. Aber Kunst ist es nicht. Aufrufe und Angelegenheiten der Flugblätter und Zeitungen. Literatur gibt das Gefühl des Einzelnen nur dann wieder, wenn es sein persönliches Gefühl ist. Tendenziöse Literatur muß sich in Acht nehmen, sonst kommt sie auf den Hund oder gar auf den Judenfresser Bartels, der neulich (in seinem „Deutsches Schrifttum“) seine „Deutschvölkischen Gedichte“ so charakterisierte: „Daß meine Sammlung dichterisch nicht mit Arndt und Dingelstedt zu vergleichen ist, weiß ich selbst genau, aber es gibt keine zweite, die die Entwicklung von 1923–24 so deutlich spiegelt …“

Ohne im Entferntesten zu glauben, daß jemals ein jüdischer Schriftsteller sich auf dem Niveau Bartelsscher „Gedichte“ befinden könnte, muß man doch vor der Gefahr warnen, die Entwicklung widerspiegeln zu wollen. Morgenröte ist kein kontinuierlicher Zustand; sie hat vorüberzugehen, um das volle Tageslicht auf die Dinge fallen zu lassen. Etwa so, wie das in Gronemanns beiden Büchern geschah, in „Tohuwabohu“, das die Erlebnisse der Juden, in „Hawdoloh und Zapfenstreich“, das die Erlebnisse des Juden darstellte, – nein, nicht darstellte, sondern bemerkte, mit jener scharfen und geistvollen, nachdenklichen und überlegenen Genialität, die die des Epigrammatikers ist.

Dort, wo unsere Literatur nicht auf das individuelle Empfinden zurückgeht, sondern wo der dichtende Mensch nur dichtender Jude ist, gibt es nur zwei reine Quellen der Kunst: vorerst den Osten. Nicht derart wie in Bernhards interessantem Schauspiel „Jagd Gottes“ (Volksbühnenverlag, Berlin), das einen, wie mir scheint, völlig westlichen Konflikt (den „Vaterkomplex“) ins Milieu einer ostjüdischen Gemeinde transponiert und damit, anscheinend absichtlich, nichts als eine ungeheure Verwirrung zustande bringt. Sondern jenes Ostjudentum, das Buber vermittelt und die Uebersetzungen jüdischer und hebräischer Dichtungen, um dessen Material sich Eliasberg bemühte und dessen Volkslieder Nadel und Kaufmann uns brachten (das größere Sammelwerk ostjüdischer Lieder von Günzburg und Marek, Petersburg 1901, ist leider dem deutschen Leser noch nicht leicht zugänglich).

Und als zweites die Forderung jüdischer Dichtung und Betrachtung auf anderen Zeiten, so wie dies dem „Weltverlag“ jetzt mit der Heraushabe der Confessio judaica Heines gelingt. (Die allerdings Eulen nach Athen trägt, denn welche Zeilen von Heinescher Hand gibt es, in der er sich nicht, nolens volens, als Jude bekannt hätte): oder die Nachdichtung biblischer Lyrik, wie sie in einem prächtigen Deutsch durch Manfred Sturman vollbracht wurde („Althebr. Lyrik“, Allgem. Verlagsanstalt, München).

Alles dieses und nur dieses ist jüdische Literatur, weil es Kunst ist, die selbstverständlich und aussichtslos jüdisch ist. Dort, wo die Absicht zum Jüdischen besteht, mag das Jüdische zustandekommen, nicht aber die Literatur.

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, 20. Jahrgang, Ausgabe 13-14 vom 29.03.1926, S. 13

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Die Schierigkeit, das Wesen des radikalen Zionismus darzulegen, ist identisch mit der Schwierigkeit, der zionistischen Ideologie das Supremat in unserer heutigen Arbeit zu sichern. Diese Schwierigkeit ist sehr groß, da die Behauptung, daß die zionistische Ideologie dieses Supremat verloren habe, als nicht diskutabel, fast als eine Beleidigung der Organisation empfunden wird. Während sich der Majoritätszionist ohne weitere Empfindlichkeit von seiner Leitung im Ijaraufruf sagen läßt, er müsse „in seinem Herzen begreifen lernen, was der Zionismus bedeute – und daß es keinen Ersatz für Zionismus und keine Abschwächung seiner Wahrheiten geben kann“, empfindet er die gleiche Feststellung im Programme der Radikalen als eine ungeheuerliche Verdächtigung. Deshalb greift er dort, wo der radikale Zionismus in Erscheinung tritt, – beim Kampfe gegen die Politik der Leitung, beim Kampfe um die Souveränität des Kongresses, beim Kampfe um das Jewish Agency-Projekt, – diese zufälligen Anlässe heraus, um den radikalen Zionismus damit zu motivieren. Er will nicht begreifen, daß diese alle nur zufällige, wenn auch bedeutungsvolle, verhängnisvolle Anlässe sind, an denen sich die Einstellung des radikalen Zionismus manifestiert: daß dieser selbst aber nicht Opposition gegen „Personen“ oder gegen ein Projekt bedeutet, sondern eine prinzipielle Anschauung ist, die keinen aktuellen Ursprung aus politischen Ereignissen nahm, sondern tief und wesentlich die zionistische Existenz aller ihrer Anhänger kennzeichnet. Der radikale Zionismus ist die Forderung nach dem unbedingten Supremat der zionistischen Ideologie innerhalb der zionistischen Bewegung; das ist keine neue und keine sensationelle Forderung. Sie wurde es erst dadurch, daß der Majoritätszionismus sich neben der theoretischen Anerkennung des ideologischen Supremats ein Aktionsprogramm anfertigte, das die weitesten Abweichungen von der Theorie gestattete. Dieses Aktionsprogramm, nach dessen Weisungen die Organisation geführt wird, machte die Bewegung zu einer Kette zusammenhangloser Ereignisse, zerlegte sie in einzelne Phasen, die jeweils von den Forderungen des Augenblicks und dem Streben nach dem Augenblickserfolgt geformt waren. Sie raubte ihnen die Kontinuität, die aus der Reihe aufeinanderfolgender Schritte die einheitliche Bewegung schafft: diese Kontinuität ist die Ideologie. Da sie fehlte, wurden die einzelnen Effekte unter dem einzigen Ziel größtmöglichsten Erfolges im Augenblick angestrebt; und wo immer dies das einzige Ziel ist, ist der einzige Weg dazu das Kompromiß, das alles um des Erfolges willen zu geben bereit ist. Die Organisation hatte nur einen Besitz zu vergeben: ihre Ideologie. Diese mußte, wo immer ein Kompromiß geschlossen wurde, zum Opfer gebracht werden; und sie wurde zum Opfer gebracht. Wie schrankenlos diese Kompromißbereitschaft war, zeigte sich in der Frage der Jewish Agency.

Da die Kontinuität der Arbeitsepisoden fehlte, mußte jede dieser Episoden sich vollziehen, als wäre sie allein vorhanden: mit Beanspruchung aller Kräfte. So sahen und sehen wir bei jeder zionistischen Aktion Befehl zur Anspannung aller Kräfte, die Vorstellung, daß es heute und nur heute um alles ginge, – der Zustand einer perpetuellen Krisis, in die keine Kraft von gestern kam und keine für morgen aufbehalten wurde, in der alles nur dem Heute galt.

Der radikale Zionismus hat kein realpolitisches Aktionsprogramm neben seinem prinzipiellen Programme. Er hat nur das eine Programm, die unverletzliche zionistische Ideologie als einziger Motor aller zionistischen Arbeit. Deshalb gibt es für ihn kein Kompromiß, denn Ideologie und Kompromiß sind antagonistische Begriffe. Ideologie ist essentiell Unbedingtheit; Kompromiß bedeutet Bedingtheit. Das eine ist der Tod des anderen.

Wo immer der radikale Zionismus praktisch erscheint, muß er demnach dem Wesen des heutigen Majoritätszionismus entgegengesetzt sein. Da er nichts mehr und nichts anderes als das Phänomen des Zionismus darstellt, gelingt es dem Beschauer, der gewohnt ist, sich alle Zionisten unter bestimmten Ettiketten zu einer Art Kongreßpanorama zu gruppieren, wo er sich von links nach rechts und in allen Farbennuancen des Zentrums von tiefschwarz bis stagelgrün leicht zu orientieren vermag, nicht, den Radikalen zu placieren. So glaubt er in ihm einen gelegentlichen Oppositionellen ad hoc, zur Jewish Agency und derlei, zu verstehen und begreift nicht, daß es nicht die Anlässe, daß es der Geist ist, welcher die Anlässe der Jewish Agency und derlei geschaffen hat, gegen den es hier geht.

Der radikale Zionismus ist keine Fraktion. Er hat kein ephemeres Kongreßmotiv und kein Separatsprogramm. Er ist die sichtbar gewordene gewaltige Strömung, die ehedem in der Organisation universell war und heute auf einen kleinen Teil der Organisation beschränkt ist, morgen aber wieder universell sein wird: der unbedingte, kompromißlose herzliche Zionismus.

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, Jüd. Volksblatt, Prag, XIX. Jg. Nr. 31(1925), S. 5 (Beilage)

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Breslau/Hirschberg/Lissa 1800.

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➥ Zur Biographie: Siegfried Schmitz

Aus: Wiener Morgenzeitung, Nr. 812, 3. Jahrgang

Wien, Sonntag, den 01. Mai 1921, S. 4–5.

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Das Drama hat im jüdischen Denkkreise eigentlich niemals Raum finden können. Vielleicht deshalb, weil die kultische Verbindung nicht gegeben war. Die dramatische Form fand lange Zeit – wahrscheinlich schon von der frühesten Zeit des Exils an – eigentlich nur am Purim Anwendung, jenem Tage, da sich auch sonst die Geschlossenheit des jüdischen Lebenskreises löst. Es schein, daß der eigentlich nur dem lyrisch-explosiven Ausdruck geneigte Jude für den dramatischen Ausdruck überhaupt kein Verständnis hatte. Böswillige könnten behaupten, daß dieses dramatische Verständnis trotz der Gewandtheit, mit welcher Juden seit ein paar Generationen in der Gestaltung, Ausführung und dem Erlebnis der dramatischen Form als dramatische Autoren, Schauspieler und als Publikum tätig sind, bis heute dem Juden abgeht. Der Jude betrachtet bis heute Theater und Drama als eine „badchonische“ Angelegenheit. Symptomatisch dafür ist, daß einer der Vorläufer der Goldfadenschen Singspieldichter in jüdischer Sprache, Schlojme Badchen“ war, welcher eine Art Burleske, betitelt „Moses oder die Befreiung der Juden aus Aegypten“, verfaßte. 

Goldfaden, mit dessen 1877 erfolgter Theatergründung in Jassy die Entwicklung des modernen jüdischen Theaters beginnt, hat, wie David Pinski in seinen „Studien über das jüdische Drama“ mit tiefer Einsicht bemerkt, den Badchen, den Improvisator des Ghetto, zum Ausgangspunkt genommen und ihn in die ihm innewohnenden Unterhaltungselemente zerlegt, die er auf verschiedene Personen aufteilte. Schon dieser Ausgangspunkt für die moderne jüdische Bühne und die näheren Begleitumstände, welche mit ihrer Gründung verbunden waren, beeinflussen die Wertung des jüdischen Theaters beim Publikum. Goldfaden spielte in Rumänien Theater vorwiegend für die Kriegslieferanten, die sich dort während des russisch-türkischen Krieges zusammengefunden hatten, und wie richtig er sein Publikum einschätzte, beweist sein Ausspruch: „Ich spiele für Moische, nicht für Moses.“ Und es ist ebenso bezeichnend, daß die Entwicklung des neuen jüdischen Theaters eigentlich in Amerika erfolgt ist, wo Goldfadens Singspiel in die Niederungen der burlesken Operette und der Zote gelangte und wo eigentlich sozusagen der Anschluß an die europäische Dramatik und das europäische Theater gefunden wurde. Dem Publikum ist es wohl zuzuschreiben, daß zunächst in Amerika jene Umarbeitung europäischer dramatischer Dichtung erfolgte, welche Shakespeares, Hebbels und Molières gültigste Gestalten in ein jüdisches Milieu übertrug und aus „Romeo und Julia“ „Zwei Brüder Lurie“ machte und Hamlets Monolog „Sein oder Nichtsein“ in eine Betrachtung über die damaligen Zustände in Rußland umwandelte. Dies beweist am besten, daß das jüdische Theaterpublikum die absolute Gültigkeit dramatischer Gestaltung nicht versteht, daß es nicht die waltenden Mächte, welche die Gestalten des Dramas führen, anerkennt und begreift, da es eine ganz andere Auffassung vom Geschehen der Welt hat als die, welche das Drama hervorbrachte.  

Auf diese aus der Geschlossenheit der jüdischen Weltanschauung sich ergebende dramatische Verständnislosigkeit ist es auch zurückzuführen, daß vielfach noch bis heute das jüdische Theaterpublikum fordert, daß die Bühnenvorgänge gut ausgehen. Man kann nicht einwenden, daß die Zusammensetzung des Publikums in den ersten Jahrzehnten des jüdischen Theaters hier besondere Wirkung gehabt habe. Das sogenannte niedrige Publikum bietet ja überall den Gradmesser für das dramatische Verständnis. Erst als sich in Amerika eine jüdische Bühne entwickelt hat, als Gordins Theatertalent durch das Kompromiß zwischen europäischer Dramatik und jüdischem Milieu den Boden für die Aufnahmsfähigkeit beim ostjüdischen Publikum geebnet hatte, begann die eigentliche neujüdische dramatische Dichtung in Europa, welche durch die Namen Pinski, Kobrin, Libin, Asch, Perez, Hirschbein u. a. gekennzeichnet ist. Bei dieser neuen Dramatik ist noch immer das rein Milieuhafte mitbestimmend. Und es ist wieder bezeichnend, daß sie ihr Theater zunächst in Amerika fand. 

In Europa haben erst die letzten Jahre eine künstlerische Entwicklung des jüdischen Theaters angebahnt, welche der neuen jüdischen Dramatik und dem Drama überhaupt den richtigen Rahmen zu geben imstande ist. Das Theater, welches Amerika bis heute bietet, kann künstlerisch durchaus nicht allzu hoch gewertet werden. Der künstlerische Aufstieg der jüdischen Bühne ist mit der Wilnaer Theatertruppe eng verbunden. Dort wurde der Versuch gemacht, den Stil für ein jüdisches Theater zu finden, der es vom badchonischen Element wegführt und nicht bloß europäisch, sondern auch jüdisch macht. Lange Zeit fand solches Bestreben beim jüdischen Theaterpublikum geringes Verständnis. Abgesehen von der eingangs erwähnten, durch Anlage bedingten schweren Einstellung des Juden auf Drama und Theater, trug auch die possenhafte Vergröberung, die lange Zeit auf dem jüdischen Theater herrschte, das ihrige dazu bei, um die neuen Versuche ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Und der Jude, welcher bis heute Drama und Theater als Unterhaltungssache betrachtet, vermochte nicht, zum Neuen das richtige Verhältnis zu finden. Erst in den allerletzten Jahren, als die jüdische Intelligenz des Ostens sich auf Fortentwicklung des jüdischen Wesens einstellte, kam sie zum Teile dem neuen Streben des jüdischen Theaters näher.  

In dieses letzte Jahrzehnt fällt eine parallel gerichtete Tätigkeit in einem eigenartigen jüdischen Zentrum, in Wien. In diesem Kreuzungspunkt des jüdischen Ostens mit dem Westen ging gerade bei Juden, welche aus dem Westen stammten und irgendwie im jüdischen Drama und Theater einen Anknüpfungspunkt an die neue jüdische Entwicklung spürten, der Anstoß zu jüdischem Theater in spezifisch jüdischem Stil aus. Die ersten Versuche dieser Art sind mit den Namen Hugo Zuckermann, Egon Brecher und einiger anderer junger Menschen mit Streben nach Erfassung jüdischen Wesens verbunden. Sie fanden kein Publikum in Wien. Denn in dieser Stadt der Kreuzungen und Uebergänge konnte ein auf eindeutige jüdische Form gerichtetes Streben nirgends Widerhall finden. Inzwischen brachte der Krieg eine wesentliche Aenderung der jüdischen Physiognomie Wiens. Sie wurde bestimmter, eindeutiger. Wien, das unter den Verhältnissen, wie sie sich für die Judenheit gebildet haben, bestimmt ist, ein Zentrum für das neue Judentum zu werden, bekommt ein jüdisches Profil, das ihm bislang in der Sphäre einer Zeit, da der jüdische soziale Uebergang alle Formen des jüdisch-geistigen Unterganges hervorgebracht hatte, immer mehr geschwunden war. Und so konnte es kommen, daß in den letzten drei Jahren wieder Kräfte ans Werk gingen, um das jüdische Theater fortzuentwickeln. Es entstand die „Freie Jüdische Volksbühne“. Und ihr gelang es vor einigen Monaten, ein, wenn auch sehr bescheidenes, jedoch eigenes Theater zu erhalten. In diesem Theater wird jüdische dramatische Literatur gespielt, und es vollzog sich etwas Eigenartiges: Was so lange gesucht wird, was überall fast aussichtslos schien, das entwickelte sich hier mit unglaublicher Raschheit: Ein nicht nur künstlerisch ernstes, sondern auch mit jüdischem Stil, wenigstens mit Ansätzen eines solchen, gespieltes jüdisches Theater erstand. Es scheint, daß gerade in Wien die Entwicklungsmöglichkeit für jüdisches Theater mit wirklich eigener Note besteht. Dieser Kreuzungspunkt, welcher dem jüdischen Wesen bisher so viel Unsegen gebracht hat, scheint die Möglichkeiten in sich zu bergen, den neugerichteten Kräften im Judentum zum Durchbruch zu verhelfen. Wer je Aufführungen der „Jüdischen Volksbühne“ in Wien gesehen hat, die schon an Sorgfalt die der meisten Wiener Theater übertreffen, muß fühlen, daß sich hier Kräfte regen, welche zu neuen, nicht geahnten Möglichkeiten führen. 

Aber nicht nur für einen jüdischen Theaterstil sind in Wien Entfaltungsmöglichkeiten gegeben, sondern gerade hier besteht die Möglichkeit, dem jüdischen Theater ein Publikum zu schaffen, welches es braucht. Für das althergebrachte Theater hat der Jude nicht allzu viel Verständnis. Der Jude der starren Tradition kann es nicht haben. Wien ist aber jüdisch unbefangener, es ist heute Kreuzungspunkt der Juden, welche jüdisches Wesen in neuen Formen erfassen wollen, und derjenigen, welche die alten Formen mit neuem Leben zu erfüllen bestrebt sind. Daraus ergeben sich nicht nur die Grundlagen für neue Formen jüdischen Theaters, sondern auch für ein neues jüdisches Publikum, das für eben diese neuen Formen empfänglich ist und mit dessen Hilfe sie weitergebildet werden können. Das jüdische Theater im allgemeinen braucht ein Publikum. Es hat es noch nicht. In Wien kann ein jüdisches Theater, wenn es, wie die „Freie Jüdische Volksbühne“, so ungeahnte neue Perspektiven der Entwicklung jüdischen Wesens bietet, sich ein Publikum schaffen. Ja, es ist Pflicht aller, die die Entwicklung neuen jüdischen Wesens wollen, für solches Theater Publikum zu sein. Denn sie finden darin Angelpunkte für das, wonach sie streben. Und ein wirklich interessiertes Publikum wird den neuen Stil des jüdischen Theaters, der hier so glücklich angebahnt wurde, weiterführen zu neuen schöpferischen Möglichkeiten. 

dargestellt in zwei Predigten über 2. B. M. 12,2; gehalten bei der Einweihung der neuen Hauptsynagoge zu Frankfurt a.M., am 23/24. März 1860. I. Die Erinnerung.

In: Der Israelitische Volkslehrer. Ein Organ für Synagoge, Schule, Leben und Wissenschaft des Judenthums 10/4 (1860), 121-136.

➥ Zur Biographie: Franz Steiner

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 15 vom 15.04.1910, S. 1f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

In der jüdischen Presse ist seit dem Erscheinen des sensationellen Artikels des bekannten Nationalökonomen und Zionisten Franz Oppenheimers über „Nationalbewußtsein und Stammesbewußtsein“ in der „Welt“ vom 18. Februar ein lebhafter und bedeutungsvoller Meinungskampf über Ost- und Westjudentum entbrannt, an dem sich in erster Reihe die hervorragendsten Köpfe der jungjüdischen Bewegung beteiligen, ein frischer und ernster wissenschaftlicher Kampf, der – wie nicht anders zu erwarten stand – die vielfältigsten und verschiedenartigsten Anschauungen über Volkstum, Sprache, Rasse und Milieu, Kultur und Sitte, über Judentum und Zionismus zutage gefördert hat und noch lange kein Ende absehen läßt. Die Vorhersage Oppenheimers trifft ein: das Ventil ist geöffnet, der Ueberdruck im Kessel beginnt abzuströmen.

Dieses Abströmen fing – ein Beweis, wie stark der Ueberdruck – explosionsartig an. Die Wiener Zionisten – stets im Opponieren groß – begannen mit einem geharnischten Protest gegen Oppenheimer. Feiwel in Berlin rückte mit einer sehr gedankenreichen, tiefgrabenden, aber nicht unvoreingenommenen und vielfach die Grenzen der wissenschaftlichen Disputation überschreitenden Abhandlung als erster gegen Oppenheimer zu Felde. Bald aber meldeten sich andere zum Worte, die zustimmten und ergänzten und die Frage des unleugbaren Gegensatzes oder mindestens des tiefgreifenden Unterschiedes zwischen dem jüdischen Osten und Westen immer mehr ausweiteten, vertieften und durchdachten, so daß die Erörterungen, die offenbar einem akuten, tiefempfundenen Bedürfnis entgegenkamen, sich zu einer großen Literatur von Wert und Bedeutung ausgewachsen haben.

Es ist unmöglich, in dem bescheidenen Rahmen unseres Blattes auch nur auszugsweise den interessanten Inhalt dieser Gutachten wiederzugeben. Wir mußten uns vielmehr schon seinerzeit darauf beschränken, nur einige wenige Stellen aus dem Hauptartikel Oppenheimers, der die ganze Debatte geweckt, viele meinen: „heraufbeschworen“ hat, zu zitieren. Anderseits ist die Frage eine so tiefeinschneidende, aktuelle und wichtige, daß es nicht angeht, darüber schweigend hinwegzugehen. Es sind uns schon eine Anzahl Aeußerungen über die Ost- und Westjudenfrage zugekommen, die wir, teils weil sie unreif, teils weil sie dem Rahmen und Wesen des Blattes nicht entsprachen, nicht veröffentlichen konnten. Wir haben uns aber, vielfach geäußerten Wünschen entsprechend, entschlossen, ganz kurze, präzis und sachlich gehaltene Gutachten, die von Autoren aus Böhmen über diese Frage einlaufen, von Fall zu Fall zu publizieren, wobei wir uns aber wegen Platzmangel eventuelle sinngemäße Streichungen vorbehalten müssen.

Für heute beginnen wir mit folgendem Gutachten:

Nationalbewußtsein u. Volksbewußtsein

(Gekürzt.)

Die Begriffseinteilung, die Oppenheimer zwischen Stammes-, Volks-, National- und Kulturbewußtsein macht, scheint mir unzureichend, unklar, ja unzutreffend. Es macht den Eindruck, als ob hier in einer rein persönlichen, sozusagen einer Herzensangelegenheit den Wissenschaftler – man verzeihe – die Wissenschaft ein wenig im Stiche gelassen hätte oder als ob der Aufsatz in Eile und unausgegoren in Druck gegangen sei. Denn die Distinktionen entbehren fast durchweg der festen, klaren Umrissenheit und gleiten oft verschwommen ineinander über. Oppenheimer meinte das Richtige, aber er sagt es so, daß es Widerspruch erregen muß. So scheint mir, daß das Mißverständnis auf Oppenheimers Seite liegt, wenn er sagt: „Die meisten von uns (Westlern), die allermeisten, nennen sich Nationaljuden auf Grund eines Mißverständnisses.“ Trotzdem wir Juden zweifellos im Osten und Westen soziologisch ganz verschieden determiniert sind, sind wir doch ebenso zweifellos in Ost wie West nicht nur Stammesjuden, sondern – sofern wir eben zionistisch, d. h. noch oder wieder jüdischnational gesinnt sind – auch Nationaljuden, wenn dieses Nationaljudentum auch mehr Nationalbewußtsein als ursprüngliches, instinktives Nationalgefühl ist.

Es geht nicht an, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein in einen solchen Gegensatz zu bringen, wie es Oppenheimer tut. Diese Distinktion, diese Gegensätzlichkeit ist eine erdachte, keine wirklich bestehende, ebenso wie sich Nationalbewußtsein nicht in Volks- und Kulturbewußtsein spalten läßt. Das, was Oppenheimer unter Stammesbewußtsein zusammenfaßt – „gemeinsame Abstammung, gemeinsames Blut, (ehemalig) gemeinsames Volkstum, gemeinsame Geschichte“ – ist schon auch Volksbewußtsein und Nationalbewußtsein, und das, was er unter Volksbewußtsein und Nationalbewußtsein verstanden wissen will – „Gemeinsamkeit der Sprache, der Sitte, der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen usw. und der geistigen Kultur“ – d. h. die gegenwärtige physische und psychologische Struktur des Volkes gehört insgesamt – sogar die Sprache läßt sich hier miteinbeziehen – unter den Begriff der Kultur. Nicht das Volksbewußtsein ist die psychische Wiederspiegelung des Milieus, sondern das Kulturbewußtsein, und nicht in der Verschiedenartigkeit des Nationalbewußtseins liegt der Unterschied zwischen Ost und West – das Nationalbewußtsein ist sogar im Westen, weil bewußter, auch betonter und ausgeprägter – sondern lediglich in der Kulturhöhe, und daraus braucht durchaus weder eine Anmaßung noch ein Hochmut des Westens dem Osten gegenüber deduziert werden.

Die Kulturhöhe allein ist das entscheidende Moment der Distinktion zwischen östlichem und westlichem Judentum und alle Beispiele, die Oppenheimer bringt, illustrieren durchgehends nur, daß Nationalbewußtsein und Kulturbewußtsein zwei verschiedene Dinge sind. Und hier muß man Oppenheimer vollkommen beipflichten: „Wir (Westler) können nicht Kulturjuden sein, denn die jüdische Kultur, wie sie aus den Ghetti des Ostens aus dem Mittelalter herübergerettet worden ist, steht unendlich tief unter der neuzeitlichen Kultur, deren Träger Deutsche, Franzosen, Engländer, Amerikaner usw. sind.“ Und wir sind tatsächlich zu 95% oder mindestens zu 75% aus westeuro- päischen Kulturelementen zusammengesetzt.

Das ist – so schmerzlich sie auch vielen klingen mag – eine Tatsache, und so sehr auch die Jargonliteratur geschätzt und bewundert werden mag, so sehr auch die Anfänge einer neuhebräi- schen Kultur und Literatur begrüßt werden müssen, wir modernen Westjuden können – von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr Kulturjuden sein, weil wir die hebräische Sprache, die hebräische Kultur nicht mehr in uns aufnehmen können oder nicht wollen. Uns ist die deutsche, französische Kultur usw. verwandter, näher geworden als die ostjüdische. Das gilt ebenso von Herzl, Nordau und – Oppenheimer, wie es für die überwiegende Majorität der Westler überhaupt gilt, und man müßte, wenn man Oppenheimer deswegen verdammen und als Nichtzionisten verschreien wollte, dann auch Herzl einen Nichtzionisten nennen, denn er war Kulturdeutscher. Aber so wie Herzl sich dagegen verwahrt hätte, nicht Nationaljude zu heißen, nicht jüdisches Volksbewußtsein gehabt zu haben, so beruht es meines Erachtens auf einem Mißverständnisse Oppenheimers, wenn er wegen seines deutschen Kulturbewußtseins sein jüdisches Nationalbewußtsein bezweifelt.

Ich möchte ein Beispiel anführen, ein recht triviales, aber darum um so schärfer in die Augen springendes, das, glaube ich, das ganze Verhältnis des Westens wie des Ostens zum jüdischen Volke und zum Zionismus charakterisiert: Der Jude des Westens ist der „aus der Art geschlagene“, d.h. aus der Enge des Vaterhauses in die Welt verschlagene Sohn des jüdischen Volkes, von der Familie schon als verloren geglaubt, anders in Art und Sitte, Sprache und Kleidung, als Eltern und Geschwister daheim, aber doch der echte, legitime Sohn. Und nun kehrt er als Zionist in sein Vaterhaus zurück, und siehe da: er ist nicht „verloren“, er verleugnet trotz seines besseren Gewandes seine Eltern nicht, nicht seine Brüder, sondern fühlt sich eines Sinnes mit ihnen vermöge des Stammes, des Blutes, der Rasse, der Nationalität nach, nur nicht der Kultur nach. Denn er kann unmöglich eine höhere Kultur, die er sich oft mühsam erworben hat, einer niederen oder erst in der Entwicklung begriffenen zuliebe aufgeben. Er fühlt sich eins nicht aus Gnade, nicht aus Rachmonith, nicht aus Mizweh, sondern auch tiefster Ueberzeugung und innerster Liebe zu seinem Blute, und weil er liebt, will er die Seinen befreien, ihnen helfen, sie in eine neue Kultur hinüberführen. Das ist der Standpunkt der westlichen Zionisten, und wahrhaftig – es ist nicht der schlechtere, minderwertige, es ist ganzer, nicht verwässerter, nicht Wohltätigkeitszionismus, sondern Zionismus aus Liebe und Treue.

Die Liebe zum jüdischen Volke eint Ost und West, und in dieser Hinsicht gibt es keinen zweifachen Zionismus und keine verschiedenen Standpunkte.

Und wieder hat Oppenheimer recht, wenn er sagt: „Nicht in der Diaspora, erst in Palästina kann und wird eine neue jüdische, vollwertige Kultur aufblühen und erst in Palästina kann der Westjude wieder Kulturjude werden, er oder, besser gesagt: sein Enkelkind.“ Daran glauben wir alle, Ost und West, an die jüdische Renaissance in Palästina, und wir glauben, daß es dann auch wieder eine Sprache geben wird: sie heißt hebräisch.

Und hier erst kann wieder von einer „Mission“ die Rede sein und hier können wir dann auch dem Mystiker Buber folgen, der den Sinn des Judentums nicht in der Vergangenheit sucht, sondern in der Zukunft, im jüdischen Palästina. Dort kann vielleicht der neue Messias erstehen – für die ganze Welt.

 

 

➥ Zur Biographie: Heymann Steinthal

Mit einer Vorbemerkung von Leo Baeck. In: Der Morgen 8 (1932-1933) H. 2, S. 141-146.

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➥ Zur Biographie: Sturmann Manfred

(Anläßlich des Erscheinens des letzten der nachgelassenen Romane Franz Kafkas: „Amerika.“)

In: Selbstwehr, Nr. 6, XXII. (22.) Jahrgang, 10. Feber 1928, S. 3–4.

I.

Es erübrigt sich heute, fast vier Jahre nach dem Tode Franz Kafkas, mit dem Nachdruck auf seine Bedeutung hinzuweisen, der 1924 noch notwendig war, um sich Gehör zu verschaffen. Allmählich ist die Gemeinde des Dichters gewachsen, die Kühlsten und Fernstehendsten haben bei den gewaltigen Gaben seines Nachlasses aufmerken müssen, und jene Wenigen, die noch zu seinen Lebzeiten und unmittelbar nach dem Tode des Unvergeßlichen immer wieder seine Größe klarzustellen und seine zukünftige Wirkungskraft zu prophezeien sich bemühten, jene Wenigen haben eine beglückende Bestätigung erfahren dürfen und nicht zuletzt die Gewißheit, daß Franz Kafka die Anerkennung und darüber hinaus den Ruhm finden wird, der ihm gebührt. Noch ist es nicht so weit. Wohl ist der Name Kafka im Kreise der literarisch Interessierten längst kein unbekannter mehr, wohl wachsen von Tag zu Tag die Stimmen, die den Vorstoß durch die Indifferenz weiterer Kreise intensivieren helfen –, noch aber hat leider dieser Vorstoß nicht jene Kraft erreicht, die allein letzte Verbreitung und damit die Unvergänglichkeit des Werkes gewährleistet.

Franz Kafka ist ein jüdischer Dichter nicht nur seiner Abstammung nach, sondern vor allem gemäß seiner geistigen Struktur und nach jener tragischen Besessenheit, mit welcher er versucht, sich dem Gefüge der Welt einzuordnen. Franz Kafka ist der Jude schlechthin. Es ist vielleicht gut zu sagen: Der Ewige Jude. Kafka, der das Maß beherrscht, wie kein zweiter Dichter dieses Jahrhunderts, steht selber ungemessen der Ordnung, dem Kosmos gegenüber. Nirgends gibt es einen verborgenen Winkel, in den er sich betten darf; was bei jedem Kuli eine Selbstverständlichkeit ist, wird bei ihm zur Utopie. Er müht sich, erniedrigt sich, zwingt sich mit heroischer Geduld zu immer erneutem Versuch. Aber es liegt doch gleichzeitig eine Hoffnungslosigkeit, eine Verzweiflung in dieser Bemühung, und indessen entblättert sich das Leben wie ein herbstlicher Baum. Das ist Kafkas Melodie, die seiner selbst und die seiner Dichtung; denn nirgends anders finden wir eine solche Einheit von Leben und Werk wie bei ihm. Diese Melodie klingt aus der noch zu Lebzeiten erschienenen Novelle Die Verwandlung, aus den Romanen Der Prozeß und Das Schloß und schließlich aus dem dritten Nachlaßband, der im Folgenden noch näher betrachtet werden wird.[1]

Bedarf es noch eines Beweises, daß diese seine Melodie eine jüdische ist? Ist Kafkas Thema nicht das jüdische Schicksal in letzter Prägnanz? Jenes der Ordnung-gegenüber-stehen, jene Sehnsucht, seine Art zur Norm zu machen, jene Bemühung, in die Reihe zu treten, nur um aufzuhören, ein Sonderfall zu sein? Wenn Josef K. im Prozeß sein Leben hingibt im Kampf mit einer geheimnisvollen Gerichtsbehörde, nur um den Grund zu erforschen, weshalb er verfolgt und verurteilt ist; wenn K. im Schloß seine letzten Energien verschwendet, nur um in einer fremdartigen Umgebung Durchschnittsmensch zu werden; wenn schließlich der sechzehnjährige Karl Roßmann im dritten Nachlaßband Amerika trotz allem Fleiße und aller Entbehrung in seinem Bestreben, sich der Ordnung des fremden Kontinents einzureihen, immer wieder versagt – wer spürte nicht über den Leiden dieser Einsamen den Schlagschatten des jüdischen Geschicks: Ein zweitausendjähriges Sehnen nach der Norm, nach einer natürlichen Daseinsform?

Ueberall in Kafkas Werk stehen die Menschen gleich Zuschauern um den Einzelfall, staunend zuweilen, doch oft auch mit Gelächter. „Es ist doch so einfach, da zu sein!“ denken sie. Kann die Parallele noch deutlicher sein: Wie der Held in Kafkas Werk den Zuschauern, so steht der Jude seiner Umgebung, so das Judentum den Völkern gegenüber, als Einzelfall, als betrachtens- und vielleicht bemitleidenswerte Extravaganz. Im Prozeß erzählt Kafka eine Legende, in der ein Mensch zum Türhüter des Gesetzes wandert und Einlaß begehrt. „Es ist möglich,“ sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Und der Arme wartet vor der Türe. Monde und Jahre. Er gibt den Versuch auf, hineinzudringen in das Gesetz, und wartet, bis man ihm die Türe öffnet. Indessen wird er alt, krank und kindisch. Ehe er stirbt, rafft er sich noch einmal zu einer Frage auf: „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß begehrt hat?“ Und der Türhüter antwortet: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

In diesen Tagen ist der dritte Nachlaßband, Amerika, erschienen. Mit diesem Werk – und den beiden anderen genannten Romanen Der Prozeß und Das Schloß – schließt sich Kafkas geniale Trilogie des Einsamen, des faustischen Wanderers, des um die letzte Weisheit Irrenden. Kein zweiter Dichter unter den Jüngeren vermochte mit so einfachen Mitteln Epen solcher Größe zu schaffen; keiner so über die Zeit hinauszuwachsen wie Kafka; keiner mit einer aus Einfachheit emporgesteigerten Sätzen Prosa zu formen, die in ihrer geordneten Klangfülle wie eine Wortsymphonie wirkt. Wer kann das Geheimnis deuten: Kafkas Sprache ist streng; jemand, der sie zum ersten Male liest, wäre versucht, sie als Kälte zu deuten. Dem aber ist nicht so. Diese Prosa ist zwar ausnahmslos frei von Lyrismen; sie ist herauskristallisiert aus der Idee, aus Kafkas tragischer Besessenheit eben. Aber wie der Kristall hart ist, und doch die Weichheit des Lichtes sich nicht versagt, so ist die Sprache Kafkas nach außen hart abgegrenzt, doch von allen Seiten her durchsichtig, spiegelt sie innerste Bewegtheit wieder, Liebe und Mitleid, und so verbindet sich zu seltener Einheit das zwiefache Maß Form und Gehalt.

II.

Amerika ist das weltlichste Buch Kafkas im wortwörtlichen Sinne. Das Buch nämlich, das der Welt am nächsten kommt. Während im Prozeß und im Schloß der Einsame der Welt gegenübersteht mit jener Sehnsucht, von der wir oben sprachen – ist Karl Roßmann im dritten Roman ein Knabe, der noch nicht um diese Stille weiß, der sich des Tragischen also noch nicht bewußt wurde.

Er will nichts als ein in geordneten Verhältnissen lebender Mensch werden, nur ein Arbeiter. Der Junge hat Pech gehabt. Er wurde von einem Dienstmädchen verführt und ist mit 16 Jahren Vater geworden. Die kleinbürgerlichen, durch das Mißgeschick kopflos gewordenen Eltern schicken ihn nach Amerika. Das ist in solchen Fällen am bequemsten. Das Dienstmädchen aber weiß, daß Karl einen Onkel in Amerika hat, sie schreibt an ihn, und so kommt es, daß der junge Auswanderer, noch ehe er das Schiff verläßt, im Hafen von New York von seinem Onkel gefunden wird. Es scheint nun alles gut zu enden. Karl hat Zeit, sich in einem reichen Hause auf die neue Welt vorzubereiten. Er wird verwöhnt, bekommt ein Klavier, einen Hauslehrer und Reitunterricht. Der Onkel ist ihm zwar mit väterlicher Liebe zugetan, aber so sehr Prinzipienmensch, daß er aus einem geringfügigen Anlaß den Neffen verstößt und der Hölle des fremden Landes preisgibt. Karls Schicksal wendet sich jäh. Er weilt eben noch in einem prunkvollen Landhause bei New York – da verstrickt sich die Situation: Plötzlich sind jene Menschen, die ihn eben noch gastlich bewirteten, seine Feinde, die Villa wird zum Labyrinth, die so sanft scheinende Tochter des Hauses zum Ungeheuer, mit dem er sich buchstäblich zu prügeln hat, und zu allem Ueberfluß wird ihn mitten in seiner Verwirrung ein Brief des Onkels übergeben, nach welchem er verstoßen ist und nie mehr in das Haus des Onkels zurückkehren darf. Karl sitzt auf der Straße. In einer Herberge lernt er zwei Strolche kennen. Delamarche und Robinson, – sie erinnern in allem an die beiden Gehilfen im Schloß – die ihn unter dem Vorwand, für ihn Arbeit zu suchen, mitschleppen und ihn doch nur ausnutzen bis es zum offenen Streit kommt. Karl verläßt die Weggenossen und findet im Hotel Occidental ein Unterkommen als Liftjunge. Sein Dienst ist maßlos schwer. Mit äußerster Anspannung nur kann er auf seinem Posten ausharren. Er beißt die Zähne zusammen, er muß sich durchkämpfen, um langsam aus der kleinen Anstellung aufzusteigen. Er gewöhnt sich recht und schlecht an die neue Umgebung und an das Zusammenleben mit den anderen Liftjungen des Hotels. Schon hat er von seinen Trinkgeldern ein hübsches Sümmchen erspart, in der einflußreichen Oberköchin eine Gönnerin und in der kleinen Sekretärin Therese eine reizende Freundin gefunden. Wieder hat es den Anschein, als stünden seine Sterne gut. Da aber taucht plötzlich Robinson auf, er ist hoffnungslos betrunken. Karls Situation ist unerträglich. Er bringt es nicht fertig, den Burschen hinauszuwerfen und läßt sich von seiner Gutherzigkeit verleiten, seinen Posten ohne Erlaubnis, für ein paar Minuten nur, zu verlassen, um den betrunkenen Robinson im Schlafsaal der Liftjungen in Sicherheit zu bringen. Das Versäumnis wird von seinem Vorgesetzten entdeckt, eine grundlose Diebstahlsverdächtigung kommt hinzu – Karl ist fristlos entlassen. Wieder hat er nur Feinde um sich. Sein einziger Wunsch in seiner namenlosen Enttäuschung ist, fortzukommen, er flieht, ohne die der Oberköchin zur Aufbewahrung anvertrauten Ersparnisse an sich zu nehmen. Karl ist wieder frei aber ärmer und verlassener als ein Hund. Es bleibt nichts anderes übrig: er schließt sich Robinson wieder an, der ihm Hilfe verhilft, aber Karl fällt dem zu einem gewissen Wohlstand gelangten Delamarche in die Hände, und die alte Feindschaft lodert wieder auf. Karls Lage ist unbeschreiblich: Es gibt blutige Schlägereien, er wird zum Knecht, zum Küchenjungen degradiert.

Hier bricht der fragmentarische Roman ab. Wir erfahren nichts mehr von den Leiden des mutigen Jungen. Dann aber, im letzten Kapitel, das Kafka Das Naturtheater von Oklahoma überschreibt, stoßen wir wieder auf Karls Fährte. Wir erfahren, daß er in diesem phantastischen Riesentheater eine Anstellung erhält. Das Schlußkapitel ist irgendwie heiterer gehalten, wir glauben annehmen zu dürfen, daß Karls Weg endlich aufwärts führt und wirklich, Max Brod deutet in seinem Nachwort darauf hin, daß es Kafkas Plan gewesen wäre, dieses Buch mit einer Verklärung abzuschließen: Karl Roßmann sollte sein Ziel erreichen, auf beiden Füßen stehen bleiben und hier, in diesem, ihn anfangs so feindlich anmutenden Lande endlich geruhigte Aufnahme und Einordnung finden.

Amerika übertrifft die früheren Werke Kafkas durch seine gesteigerte Bewegtheit. Es ist der Optimismus der Jugend, der hier hellere Farben spendet. Weil Karl Roßmann noch unbewußt vorwärts dringt und jener Hoffnungslosigkeit fern ist, in der sonst die Spannkraft des Kafkaschen Helden erlischt. Amerika ist wohl auch das phantasiereichste Buch des Dichters. Zuweilen gibt die Strenge nach unter der Glut des inneren Gesichtes: Kafka ist kaum über die Grenzen Böhmens hinausgekommen und vermag doch eine Vision Amerikas festzuhalten, als wäre er lange drüben gewesen. Seine Bilder wachsen ins Gigantische: Riesenhotel und Chaos der Straße, New Yorker Proletarierelend – und dann wieder die gewaltige Schilderung des Naturtheaters.

Nach dem Torso dieser Dichtung zu urteilen, hätte wie in dem jungen Karl Roßmann vielleicht auch in Kafka selber eine Verklärung stattgefunden, wenn nicht der Tod den Einundvierzigjährigen vorzeitig gefällt hätte. Aber wir haben immer nach der Lektüre eines Buches von Kafka das Gefühl, als brauchten wir Weihaben immer nach der Lektüre eines Buches auf, lest ein paar Zeilen darin und ihr wißt, wer Kafka gewesen ist! Jede Zeile zeugt von solcher Größe, daß die Spuren dieses Gestalters unverlöschbar sind. Es wird eine Zeit kommen, da man Kafka einstimmig unter die größten Epiker aller Zeiten zählen wird. Dann werden die Menschen, und vor allem wir Juden – wie er Einlaß begehrte in die Welt – Einlaß begehren in sein Werk. Und wir werden Einlaß finden, denn Kafkas Werk ruht auf einem sicher tragenden und breiten Pfeiler: auf seiner Güte.


[1] Der Novellenband Der Hungerkünstler und der Roman Der Prozeß erschienen im Verlag Die Schmiede, Berlin; alle übrigen Werke bei Kurt Wolff in München.

Zur Biographie: Margarete Susman

In: Das Flugblatt 4, 1918 [Quelle: http://www.margaretesusman.com]

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Wir deutschen Frauen waren bisher noch weit weniger poli­tisch, als es die deutschen Männer waren. Wohl war es bei den Frauen auch weniger zu verwundern, daß sie sich den politi­schen Fragen fernhielten, weil sie keine Stimme in ihnen hat­ten. Aber das kann bei weitem nicht zur Erklärung ihrer unpoli­tischen Haltung ausreichen; gab es doch in anderen Ländern Frauen, die leidenschaftlich um diese Stimme kämpften, wäh­rend die deutschen Frauen, auch gerade die der gebildeten Stände, mit verschwindend wenigen Ausnahmen gar nicht das Bedürfnis hatten, in den öffentlichen Fragen mitzureden. Die englischen Suffragetten wurden bei uns mit einem Achselzuc­ken abgetan, als närrische Mannweiber verspottet, und vollends die Frauen der französischen Revolution und die leidenschaft­lich und bis zum Märtyrertum politischen Russinnen erschie­nen uns Deutschen als fremde, schreckhafte und nicht mehr weibliche Typen.

So fand die deutschen Frauen der Krieg. So brach das Ent­setzliche, von Grund aus Fremde über sie herein, und sie hat­ten ihm nichts an Fragen, Erkenntnissen, Entscheidungen entgegenzuhalten – mit maßloser Gewalt schlug die Woge über ihnen zusammen und warf alle ihre bisherigen Begriffe von Recht und Pflicht, von Unschuld und Liebe mühelos über den Haufen. Was der Krieg in ihnen auslöste, war eine jäh und zusammenhangslos aufflammende, an alten Symbolen und übermächtigen Worten ungeprüften Inhalts sich entzündende Begeisterung und bei den besten eine dienende Bereitschaft, eine heiße Hingebung und schmerzliche Liebe angesichts der jäh heraufsteigenden Flut von Leiden und Verzweiflung. Eine Unsumme von reinstem Opfermut, helfender Güte, schwei­gendem Heldentum wurde im Dienst dieser furchtbaren Sa­che verbraucht; freiwillige Hilfskräfte gaben sich ihr in Mas­sen und aus reinem Herzen hin.

Nicht an reinen Herzen hat es in Deutschland gefehlt – es fehlte an dem System, in dem ihr Tun und Geben fruchtbar werden konnte zum Segen für die Gesamtheit; denn im be­stehenden System war die Möglichkeit der lebendigen Ver­antwortung der Einzelnen für das Ganze ausgeschaltet. Frei­willigkeit im Dienst des Geschehenden gab es in überströ­mender Menge; aber Freiheit: lebendige Entscheidung für oder gegen das Geschehen, gab es nicht; und konnte es nicht geben; denn jeder Schritt über das Geschehen hinaus war schon zuvor gebrandmarkt als Schande und Verrat. So wur­den die Frauen willenlos mitgerissen – dahin, wo man sie ha­ben wollte, wo man sie brauchte. Aber das Wort Krieg, das in der ersten Zeit mit Flammenschrift in ihren Tagen und Nächten gestanden hatte, verkohlte langsam zu trostlosem Schwarz. Und in wie zahllosen Frauenseelen mag im Lauf dieser vier langen Qualjahre immer deutlicher und brennen­der die Frage heraufgetaucht sein: Mußte dies sein? Kann das Unmenschliche sein müssen? Und darf es sein? Dürfen wir dieser Sache dienen? Aber sie konnten nicht hindurchdringen durch das dichte Geflecht von Vorurteilen, allgemei­nen Bindungen und falschen, machtvollen Ideologien, in das man ihr Leben eingepreßt hatte. Das innerste Menschliche, das freie Gewissen konnte die mächtige Umschnürung mit Vorläufigem nicht zersprengen; denn es war noch nicht er­starkt durch das, was ihm allein zu sich selber helfen kann: die Erziehung zur Freiheit. So blieben die Frauen eine dumpfe tragende Masse, auf deren Rücken sich all das Grauen­volle abspielte, und das einzige, worin ihr Weh und ihre Ge­wissensnot sich äußerte, waren Tränen.

Aber diese Tränen haben sie einen gewaltigen Ruck vor­wärtsgetrieben zur Politisierung. Sie lernten sehen, wie tief die Politik in ihr Leben einschnitt, ja, wie die politischen Ereignisse plötzlich die ihres eigenen Lebens wurden; immer mehr von ih­nen versuchten, sich den drückenden Schlaf aus den Augen zu reiben und endlich klar zu sehen, was mit ihnen und durch sie geschah. Sie konnten die toten Schlagworte nicht mehr hinnehmen, an denen sie ihr Liebstes, ihr Land und die ganze Welt zu Grunde gehen sahen. Sie fühlten sich in diesen Ölbergstunden des Menschlichen angeredet, aufgerufen mit den gewaltigen Anklageworten Christi: Könnet ihr denn nicht einen Augen­blick mit mir wachen? Und sie lernten immer klarer begreifen, daß äußerstes Wachsein jedes Einzelnen, lebendigste Ent­scheidung jeder Seele bereit sein muß und nottut, wo es um das Letzte, die Rettung des Menschentums selbst geht.

Gewiß waren es immer nur noch einzelne Wenige, die diese gewaltige Stimme schon lange klar aus dem verworrenen und so furchtbar verwirrenden Geschehen sich loslösen hörten, die begriffen, was von ihnen gefordert wurde. Zu fest waren die Bindungen durch das Bestehende, zu fern und vernichtend die Antworten, die auf die letzten Fragen drohend herauf tauchten. Aber selbst für die, die ihnen mit Ernst und Wahrheit zustreb­ten, war der Weg dahin durch politische Erkenntnis nicht ge­bahnt.

Und sicher ist es kein Zufall, daß gerade für die deutschen Frauen dieser Weg so ungangbar geblieben ist, daß Politik bei uns bis jetzt als ein dem weiblichen Wesen an sich Fremdes an­gesehen wurde. Von weither ist dies alte Vorurteil bedingt: es lag in unserer besonderen Auffassung des Wortes Politik, die ihrerseits wieder gestützt und getragen wurde von der eigen­tümlichen moralischen und geistigen Verfassung, zu der sich das deutsche Wesen seiner Grundtendenz nach bis in unsere Zeit hinein entwickelt hat. Diese Grundverfassung des deut­schen Wesens, aus der sich letzten Endes die gesamte Gestal­tung seines Lebens in der neueren Zeit herleiten läßt, ist das, was man die deutsche Innerlichkeit nennen möchte und was man kurz zusammenfassend als das verhängnisvolle Erbteil der großen schöpferischen deutschen Metaphysik in unschöpferi­schen Zeiten begreifen könnte. Denn diese metaphysische Kraft, die Kraft zur Idee, Deutschlands größte Gabe in schöpfe­rischen Zeiten, mußte ihrem Wesen nach in unschöpferischen Zeiten seine größte Gefahr werden – eine Gefahr, der Völker mit einfacheren, leichter lösbaren moralischen Aufgaben und Begriffen entgehen. Denn eben jene gewaltigen, hoch über al­ler Empirie lebenden Ideen der deutschen Metaphysik, die es den Menschen unmöglich machten, sich unmittelbar und ein­deutig an ihnen zu orientieren, weil dem Einzelnen keinerlei inhaltlich bestimmte oder bestimmbare Aufgabe, ja auch ei­gentlich kein Ort darin zugewiesen war: das gewaltig Überin­haltliche, Allgemeine, lediglich Richtung gebende und damit allem Bestimmten und Äußeren grundsätzlich Fernbleibende, das seit Luthers Isolierung des Einzelgewissens die ganze deutsche Metaphysik und Moral durchzieht, wiesen den Deutschen immer tiefer und ausschließlicher in sein Inneres. Und es kam wie es kommen mußte: im Maße als die schöpferische Kraft in Deutschland abnahm, im Maße also, als die gewaltigen Gedan­ken und Vorbilder, die nur durch ihre eigene Schöpferkraft den Abgrund zu überbrücken vermochten, nicht mehr lebendig er­lebt und erfüllt werden konnten, wuchsen Inneres und Äußeres immer hoffnungsloser auseinander. Das deutsche Volk, das sich mit Recht als das tiefste Volk Europas empfand – so weit es nämlich die Tiefe als eigentümliche Dimension seiner großen Geister angeht – begann immer mehr, sich bei seiner eigenen Tiefe auszuruhen, die ungeheure Aufgabe in dieser Tiefe zu vergessen und im bloßen Leben nach innen und für das Innen, im Verschmähen und Liegenlassen des Außen bereits die Er­füllung dieser Aufgabe zu sehen. So wurde die Innerlichkeit immer mehr eine Zuflucht der Gebildeten, der Studierstuben und vor allem auch der Frauen, die noch nie einen Zusammen­hang mit dem äußeren Leben gekannt hatten. Gewiß trieb die Innerlichkeit gerade bei den edelsten Frauen noch schöne, un­endlich reine Blüten; aber der Zusammenhang des Innern mit dem Außen, den unmittelbar nur der schöpferische, repräsenta­tive Mensch darstellt, der aber als Forderung der Sinn aller Mo­ral ist, ging immer hoffnungsloser verloren. Denn im selben Maße, als man sich in die Innerlichkeit zurückzog, verdarb das Außen, dem die lebendige Liebe der Menschen entzogen wurde und schwoll zu einer leeren, unförmlichen und übermä­ßigen Gewalt empor. Die nach innen gewandten Seelen ver­standen zuletzt nicht mehr, was geschah, sahen gar nicht, wie das Außen, das Geist von ihrem Geist hätte sein sollen, durch sie selber peisgegeben, blind, leer und seelenlos weitertrieb. Sie sahen da noch einen Altar für ihre heiligsten Opfer, wo längst ein kahler Machtwille menschenfremde Gesetze gab.

Und so geschah das Furchtbarste und Trostloseste: daß Deutschland der ganzen Welt als ein verlogenes Land erschien. Kein Mensch außerhalb Deutschlands konnte diesen Abgrund zwischen dem Geist der Einzelnen und den Taten der Gesamt­heit verstehen. Und noch unfaßlicher mußte es scheinen, wie dieser reine nachdenkliche Geist der Einzelnen, den man ver­ehrt hatte, sich plötzlich ohne Einschränkung hinter die politischen Gesamthandlungen stellen konnte. Und doch log gerade hiermit gewiß niemand in Deutschland, weil nur so verschwin­dend wenige sich dieser Kluft zwischen dem deutschen Geist und der deutschen Politik überhaupt bewußt wurden. Man ver­schob, verschleierte, duldete, nahm hin, weil man immer noch in diesem Deutschland das eigene Deutschland sah und sehen wollte. Und es wurde nicht nur von den Regierenden als Verrat betrachtet, wenn ein Mann oder eine Frau während des Krieges aufstand und verlangte, daß, was im deutschen Namen ge­schah, auch wirklich deutsches Wesen und Wollen ausdrücken solle.

Denn das war das Verhängnisvolle: Der überwältigenden Mehrzahl der Deutschen und vor allem auch der edleren deut­schen Frauen genügte es völlig, rein zu sein vor sich selbst, un­befleckt mit persönlicher Schuld. Und in wie vielen mag auch nur die eine furchtbare Frage aufgetaucht sein: Welches Recht haben wir Frauen voraus vor den Männern, daß uns die furchtbare Gewissensqual erspart bleibt, unsern Bruder töten zu müssen? Was gibt uns das Recht auf unsere Reinheit in ei­ner Welt, in der jene, die nicht schlechter sind als wir, sich hoffnungslos beflecken im Kampf des Einzelnen mit seiner unmenschlichen Pflicht? Soll darum unsere Sterbestunde leichter sein als die ihre? Wahrhaftig, diese Reinheit wird im Himmel und auf Erden nicht gewogen werden gegenüber dem, was wir alle ohne Ausnahme an Schuld der Gesamtheit auf uns geladen haben. Müßte nicht schon an dem einen Bei­spiel jeder, der vor diesem Schwersten persönlich bewahrt ge­blieben ist, müßten nicht vor allem die Frauen in ihrer Ge­samtheit hieran mit einem Schlage inne werden, wie wenig das Gewissen zu isolieren, wie unmittelbar es der Gesamtheit verhaftet ist, die für uns handelt?

Aber diese Einsicht war darum so schwer zu gewinnen, weil das Wort Politik durch die Entseelung des Außen einen so fal­schen Sinn gewonnen hatte, daß es fast wie eine Befleckung des rein Menschlichen erschien, sich mit ihr zu befassen. Man ver­stand bei uns unter Politik ein Ordnen äußerer Zusammen­hänge, zu dem wohl ein sicherer, fachmännisch kundiger Blick und eine feste Hand, aber keinerlei menschliche Qualität verlangt wurde. Ja, letzthin verstand man unter Politik nur noch ein Überlisten, ein Ergattern von Vorteilen, von Besitz und Macht, ein Feilschen um ein Stück Land, Erzlager und Koh­lenbecken – und zu allerletzt ein Feilschen darum mit Millio­nen lebendiger Seelen. Wer einmal offenen Auges in diesen Abgrund geblickt hat, dem mußte es gewiß sein, daß nur eine Umwälzung der gesamten Lebensgrundlagen aus ihm heraus zu einem neuen bessern Leben führen könne.

Und doch ist der Sinn des Wortes Politik einfach und klar ge­nug; Politik bedeutet nichts anderes als die Ordnung der menschlichen Beziehungen in großen Gemeinschaftsgebilden – der menschlichen Beziehungen in ihrer Totalität, der nieder­sten, wie der höchsten. Wie es geschehen konnte, daß mehr und mehr der verderbliche Wahn Platz griff, daß diese Beziehungen mit dem wachsenden Umfang der staatlichen Gebilde keine moralischen, d. h. menschlichen, sondern nur noch technische, wirtschaftliche seien und damit letzten Endes nur nackte Machtfragen, denen die dürftige Umschleierung mit einer fa­denscheinig gewordenen Moral um so häßlicher stand, darauf besitzt jedes Land seine besondere Antwort. Aber nirgends ist die Politik so kahl und aller menschlichen Gesichtspunkte bar geworden, wie im Lande der das Außen brach liegen lassenden Innerlichkeit. Nirgends ist der Gedanke der Freiheit in so erd­gelöster Reinheit über den Häuptern der Menschen empfangen wie in Deutschland, wo sie das reine Sollen bedeutete; nirgends ist der Gedanke der mit dem Sollen identischen Freiheit so mißbraucht und in den Staub gezogen worden wie im preu­ßisch–autokratischen Deutschland. Denn Deutschlands gewal­tigste Träume verliefen sich in die kraftlos gewordene Inner­lichkeit.

Was diesen Krieg verloren hat, das ist das unpolitische Deutschland – aber unpolitisch nicht etwa im Sinne einer nur ungeschickten und unerfahrenen Politik, sondern im Sinne der vom Menschlichen verlassenen leeren Machtorientierung und schwankenden Doppelzüngigkeit. Denn was man auch von den feindlichen Ländern sagen möge, wie hoch man ihren Anteil an der Gesamtschuld werten mag: das eine wird man ihnen allen zugeben müssen: daß die Politik eines jeden von ihnen die Wirklichkeit des Landes und damit auch die Seele seiner Men­schen irgendwie ausdrückt. So kommt es, daß, wenn auch kei­nes der Völker in diesem Kriege rein ist – wie wäre das ange­sichts einer so furchtbaren Wirklichkeit möglich? – doch die Politik der Anderen wenigstens nicht jedes menschlichen Ge­sichtspunktes bar war wie die unsere. Und so kommt es, daß – ­wie gewaltsam wir uns dagegen sträuben mögen – es schließ­lich das moralische Übergewicht war, das uns besiegte (sowie es schon das Moralische war, was Deutschland vor dem Kriege so furchtbar wie nie zuvor ein Land in der Welt vereinsamte). Aber das geschah nicht etwa, weil die einzelnen Engländer, Ameri­kaner oder gar Franzosen moralischer gewesen wären als die Deutschen, sondern weil sie politischer waren, d. h. weil mehr von ihrem Menschentum in ihrer Politik war.

Und ganz gewiß ist es kein Zufall, daß gerade die Frauen Englands und Amerikas, der Länder, in denen dies am deut­lichsten der Fall ist, im politischen Leben eine so völlig andere Rolle spielen und spielen wollen als die deutschen. Wie wir die Politik verstanden, konnten wir diese Teilnahme am politi­schen Leben unmöglich begreifen. Wir konnten nicht verste­hen, daß es jenen Frauen um nichts anderes ging als um die Be­stätigung ihres Menschentums. Denn wir wußten ja nicht, daß alles Menschentum im Leben der Gemeinschaft wurzelt und damit die lebendige Verantwortung des Einzelnen für das Ganze bedeutet.

Bei uns verlangten die Frauen von sich, daß ihr Tun persönlich gut, rechtlich, hilfreich und voll Liebe sei. Jede Verantwor­tung gegenüber den großen Geschehnissen des Gesamtlebens lag ihnen fern; hier war ihr Verhältnis das des dienenden Glaubens. Aber nur als religiöses Verhalten ist der G1aube sittlich; d. h. ein Glaube darf nur da stattfinden, wo ein unserm Verstande grundsätzlich Unzugängliches, ein Letztes, durch uns nicht weiter Aufzulösendes vorliegt. Allem andern gegenüber ist der Glaube Schwäche und Schuld. Denn es ist unsere menschliche Pflicht, die uns gewordenen Werkzeuge in dem übermächtigen Dunkel und Dickicht unseres Lebens zu gebrauchen, uns Wege zu hauen ins Unwegsame und das Licht unseres Verstandes den ganzen Umkreis erleuchten zu lassen, den sein Schein noch ir­gend zu erreichen vermag. Nicht eher dürfen wir den Schleier niedersinken lassen, als da wo er mit allen Kräften nicht mehr gehoben werden kann. Dann erst wird ein Wirkliches, kein nur Geträumtes, Selbsterschaffenes dahinter verehrt werden kön­nen.

Gewiß war es den deutschen Menschen der Gegenwart auch über die Maßen schwer gemacht worden, hier bis ans Ende zu gelangen, weil ein raffiniertes, bis in alle Einzelheiten des öf­fentlichen und privaten Lebens hinein ausgebildetes System die Menschen zur Verantwortungslosigkeit erzog. Aber eben dies ist es, was von heute an anders werden muß. Daß von nun an jeder Einzelne sich selbst für die Gesamtheit verantwortlich fühlen lerne, daß er aufblickend gewahre, welch ungeheurer Verrat an seinem Menschentum begangen worden ist, und wie er dadurch selbst zum Verräter am Menschlichen wurde, das ist der letzte, tiefste Sinn der deutschen Revolution. Es ist eine ge­waltige Umkehr, die da geschehen muß. Kein Mensch, der dem alten anhing, darf glauben, anders als durch ein innerstes Be­kehrungserlebnis, durch eine volle Erkenntnis der begangenen Schuld und den heiligen Willen, sie wieder gutmachen zu hel­fen, sich auf den Boden des Neuen stellen zu können.

Damit gilt es zu erfassen, daß der innerste Sinn der Revolu­tion Sühne ist. Das bedeutet, daß sie nicht für die Gegenwart, sondern erst für die Zukunft handelt, daß das Schicksal der Ge­genwärtigen auf jeden Fall in ihr bedroht und fragwürdig ist und daß nicht wir es sein dürfen, die ihre Früchte ernten wol­len. Zahllose Menschen unserer Generation und jüngere als wir ruhen im Boden; wie dürften wir Überlebenden uns da weh­ren, wie sie Saat für die Zukunft zu werden? Unsere Generation hat die Aufgabe des Sühnens und des Wiedereinrichtens. Dazu muß sie bereit sein.

Aber damit diese in ihrer Strenge ungeheuerliche Forde­rung auf den Schultern der schon so tief gebeugten Menschen nicht zu schwer werde, bedarf es vor allem der Kraft, die alles vermag, weil sie alles glaubt, alles hofft, alles duldet: es bedarf der Liebe. Nur sie, die nicht eifert, die das Böse nicht zurech­net, kann den über alles Verworrne, Häßliche und Halbe des Heute in die Zukunft hinübergespannten Bogen der Revolu­tion in seiner ernsten, fordernden Größe erkennen und ohne Haß und Verzweiflung sühnen lehren. Sie allein kann dem Heutigen den schärfsten Stachel nehmen, die brennenden Wunden mit heilendem Glauben verbinden und dem geängsteten Geschlecht den schmalen Weg weisen, auf dem es zwi­schen lauer Verstocktheit und verwüstendem Chaos fest und sicher hinübergeht zu einer bessern Welt.

Hier steht den Frauen der unmittelbarste Zugang zur Revo­lution offen. Nicht nur, weil die Liebe die Stelle ist, die der Krieg am tiefsten in ihnen verwundet hat – sondern auch, weil dies das Wort ist, auf das jede echte Frau wie auf das erste flam­mende Signal aus einer bessern Welt hört. Wenn die Frauen gewiß sein werden, daß die Revolution im Zeichen der Liebe steht, wird keine Frau sich von ihr ausschließen wollen. Aber es muß viel weiter kommen: es muß dahin kommen, daß die Frauen der Revolution nicht nur dienen wollen, weil und sofern sie im Zeichen der Liebe steht, sondern weil sie ihre eigene Liebe hineingeben, sie durch ihre Liebe erwärmen und zu sich selbst führen wollen. Dazu ist heute der Weg offen.

Die weitaus überwiegende Mehrzahl der deutschen Frauen ahnt freilich heute noch nicht, was ihnen mit der politischen Gleichberechtigung und durch sie werden soll: daß sie mit ihr nicht nur zu freien bewußten Menschen, sondern auch zu Men­schen ihrer eigensten Art erzogen werden sollen. Denn die glei­che Verantwortung für das öffentliche Leben soll ganz gewißnicht zu der so sehr gefürchteten Vermännlichung der Frauen führen; diese pflegt nur eine Art Mimikry tapferer einzelner Vorkämpferinnen in Zeiten zu sein, wo die Gleichberechtigung noch aussteht. Mit einer Vermännlichung der Frauen über­haupt ginge unserm Leben eine tiefe Kraftquelle verloren. Die Lahmlegung irgendeiner Kraft aber ist nie und nirgend Sinn und Absicht einer sozialistischen Bewegung – ganz im Gegen­teil ist es ihr Ziel, alle Kräfte lebendig zu sich zu entfalten, zu ih­rer äußersten Fruchtbarkeit zu steigern. Dies und nichts ande­res muß auch der Sinn der politischen Gleichberechtigung der Frauen sein. Was wir bedürfen, ist nicht eine bloße Vermeh­rung der Stimmen; es ist der Ausdruck eines bestimmten leben­digen Wollens, das bisher in unserm öffentlichen Leben fehlte.

Wie oft hatte man während des Krieges das – vielleicht damals noch täuschende – Gefühl: Hätten die Frauen in aller Welt Stimme gehabt, so hätten sie dies Unmenschliche verhindert. Und es schien einem, als müßten sich alle diese unterdrückten Stimmen zu einem gewaltigen, lang anhaltenden Schrei über die ganze Erde hin vereinigen. Dieser Schrei einer lebendig ausbrechenden Liebe, eines ins Herz getroffenen Menschen­tums fehlte bis heute in unserer Welt. Die Frauen waren stumme, willenlose Handlangerinnen des männlichen Willens. Jetzt aber gilt es, eine menschliche Welt zu schaffen und dazu auch die Frauen frei zu machen zu dem, was sie ihrem Wesen nach sind.

Gewiß als freie, verantwortungsvolle Seelen nichts anderes als was alle Menschen sind oder sein sollen. Aber dieselbe Freiheit wird in der Frau andere Kräfte freimachen als im Mann. Denn wenn ein letzter Wesensunterschied hier nicht aufgestellt werden kann, weil das Menschliche ein zutiefst Ge­meinsames ist, so tritt doch von diesem aus ein Vorletztes scharf auseinander. Man könnte es dem letzten identischen Gehalt gegenüber gleichsam einen Unterschied der Methode nennen. Die Frau wendet sich, ihr Leben anders an als der Mann. Wo der Mann sein Letztes stets irgendwie im Einzel­nen, Werkhaften, Formhaften und damit doch letzten Endes der Seele Äußeren festlegt, zieht die Frau das Letzte, auch wo sie durchaus überpersönlich fühlt und erlebt, immer tiefer in sich, in das unmittelbare, subjektive und ganze Menschentum hinein, kann es nur von hier aus, als aus seiner innersten Kraftquelle immer wieder erneuern und alles Einzelne allein an ihm begreifen. So ist sie innerlichst gezwungen, alles und jedes immer wieder am ursprünglich Menschlichen, an der Ganzheit ihres Lebens nachzuprüfen, umzuleben – und dies allein ist ihre spezifische weibliche Art von Schöpfertum.

Und ist es nicht dies vor allem andern, was unserer so unend­lich weit vom Menschentum entfernten Zeit nottut? Lange ge­nug hat das Licht des männlichen Wesens allein seine kühlen Strahlen in alle Einzelheiten und Ausläufer unseres Lebens ge­sandt; was wir jetzt vor allem andern brauchen, ist die lebendige Wärme eines unmittelbaren Lebens. Und wenn es der neuen Zeit gelingen wird, die Frau allmählich dazu zu erziehen, daß all die bisher so eng verschlossene Wärme ihres Wesens frei wird für den ganzen Umkreis des Gemeinschaftslebens – so wie sie es schon vielerorts für soziale Einzelaufgaben geworden war – dann wird ganz gewiß unser gesamtes Leben ein mensch­licheres Antlitz zeigen.

Dahin drängt alles. Wir sind so arm geworden an menschli­chen Werten, daß ein tiefes Frösteln durch die Welt geht. Wo­nach wir uns vor allem andern sehnen, das ist Menschlichkeit, Liebe, Glauben und damit im tiefsten, wundesten Winkel un­serer Herzen ein neues lebendiges religiöses Erleben. Aber hier liegt das dunkelste Problem und die allertiefste Not unserer Zeit. Gerade manche der besten Frauen scheuen auch vor der neuen Bewegung als einer religionsfeindlichen instinktiv zu­rück. Und es ist kein Zweifel, daß die sozialdemokratische Be­wegung das Religiöse im üblichen und vielleicht sogar zunächst in jedem Sinne gewaltsam von sich ausschließt. Einmal, weil sie überhaupt von allem nur Überkommenen, Festgeworde­nen, von allem, was nur noch Form, Name und Dekoration ist, befreien will, dann aber auch, weil sie als freie menschliche Tat selbst die Befreiung vom Himmel auf die Erde herabholen will.

Aber wo wäre auch etwas, an das sie noch lebendig anknüp­fen könnte? Lebten wir nicht ohnehin in einer tief irreligiösen Zeit? Wäre dieser grauenvolle Krieg, so wie er war, auf unserer Entwicklungsstufe überhaupt möglich gewesen, wenn nicht Gott und Christentum in unseren Seelen tief erstorben gewesen wären? Welche Kraft zum Göttlichen, zum ewig Menschlichen hielt diese Welt noch zusammen? Haben wir in dieser Zeit nicht den Heiland grauenvoll wie nur je gekreuzigt? Ist nicht sein blutüberströmtes Menschengesicht der eigentliche Ausdruck unserer Zeit? Eine gottleerere Welt ist nie gewesen, solange wir rückwärts schauen können. Und wenn nun, da wir wirklich neu werden wollen, die neue Zeit mit den Resten einer Halbreli­gion, die keine Kraft und Wahrheit mehr bewiesen hat, als mit einer gefahrvollen Lüge aufräumen will – wer wollte es ihr ver­denken?

Aber eine Hoffnung bleibt. Wie aus dem so lange und furchtbar geschändeten Menschentum jetzt von selbst der Mensch als die glühende Idee unserer Zeit herausspringt, so wird, wenn wir noch einmal wahrhaft lebendig werden kön­nen, auch die Tötung des Göttlichen gewaltsam ein neues Göttliches aus sich erzeugen. Denn Gott und Mensch gehören untrennbar zusammen, und das Auferstehen des einen wird auch die Auferstehung des andern sein.

Wenn es der neuen Zeit gelingen wird, das zu schaffen, was wir mit aller Inbrunst ersehnen: einen neuen Menschen, so wäre damit auch das religiöse Werk getan. Gewiß sind gerade wir von der Erfüllung dieser ewigen Aufgabe durch den tiefsten Abgrund getrennt. Aber nur aus gewaltigen Umwälzungen wurden stets die neuen Religionen geboren. Noch ungewiß der Kräfte, die sie wachrufen wird, wie jede noch so junge Bewe­gung, muß freilich auch diese durchaus zweifeln, ob so Gewal­tiges aus ihr hervorgehen könne. Aber die Grundlagen sind ge­geben. Sie sind es als die tatsächlichen Vorbedingungen durch die radikale Umwälzung, und sie sind es vor allem dadurch, daß mit dem Augenblick des Ausbruchs der Revolution ein rein Utopisches den Scheitel der Wirklichkeit berührt hat. Sollte nicht mit dieser bloßen Berührung schon unmittelbar ein bisher noch namenloses Religiöses in die Bewegung eingeströmt sein? Gerade wir Frauen sollten in ihr das Religiöse nicht vermissen; den wenn irgendwo, so ist dies sichtbar an der Geste, mit der die neue Zeit die Frau in sich empfängt. Zum ersten Mal wird un­ser Land nicht mehr allein die Stimme seiner Männer, es wird die Stimme seiner Menschen hören. Wenn wir uns den letzten menschlich –göttlichen Offenbarungen zuwenden und sehen, mit welchem brennenden Getroffensein, mit welcher namen­losen Liebe und Reue die von Christus zum ersten Mal rein als Menschen gewerteten Frauen zu seinen Füßen niedersinken, so muß uns klar werden, daß dies Geschenk ein religiöses, ja ein tief christliches Vermächtnis ist. Und von welcher nüchternen Klarheit es auch in unserer Zeit umgeben sein, wie kalt sein Name klingen mag – in dem Aufruf der Frauen zu allgemeinsa­men Aufgaben und Zielen: in der Versammlung aller Men­schen zum Menschentum lebt doch in jeder Form ein religiöser Sinn. Wir aber müssen sorgen, daß das unfaßlich kostbare Ge­schenk, das wir noch in ungeübten, zitternden Händen halten, in ihnen allmählich zu dem werde, was es zu sein bestimmt ist: zum Zeugnis unserer eigenen menschlichen Kraft.

 

Zur Biographie: Simon Szántó

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 17. Jahrgang, Ausgabe 29 vom 20.07.1877, S. 230f / Ausgabe 30 vom 27.07.1877, S. 239 / Ausgabe 31 vom 03.08.1877, S. 247f 

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Tran-skription

I.

Fragen, bunt und wirr, schwirren vor dieser Ueberschrift aus dem Lesekreise empor, Seemöven gleich, die der Sturm aufscheucht. Wie auch anders? Wer wird erziehliche Momente im Jargon finden, wer dem gefürchtetsten Feinde aller jüdischen Salons hier das Wort reden wollen? Was wäre Erziehung ohne Eleganz, was diese ohne Hochdeutsch? Was aber ist Hochdeutsch ohne Französisch, und was Französisch, so es jüdischdeutsch gesprochen wird? – So zürnt mir die ganze Damenwelt und zieht sich hinter die Flacons zurück. Zürnender noch entsenden ihr blitzendes Geschoß jene gewaltigen Söhne Teutoniens, die Machthaber der öffentlichen Meinung, die Religionen auf Aktien gründen und dem lieben Gott die Sympathien des Publikums durch Reclamen erringen möchten. Es sind die Männer von nie verlegenem Esprit, die von der Fibel bis zur Bibel, vom Wiegenlied bis zur Völkerbeglückung vor keiner Aufgabe zurückbeben; sie können Alles, wissen Alles – nur Eines nicht: – unpunktirten hebräischen Text lesen. Zaghaft wie der Priester Iliums rufen sie: Wir fürchten den Jargon, selbst wenn er Geschenke bringt. Dieser Jargon ist das große hölzerne Pferd, in dessen Bauche riesige hebräische Wörter unpunktirten Textes lauern; darum sei es versenkt, wie der Nibelungenhort, daß kein Zweifel an unserer Größe jemals hindernd dem Verschleiße unserer Porträts in den Weg trete. Mit dieser Partei – ich fühle es – habe ich’s nun gründlich verdorben; doch hoffe ich, mit der andern nicht besser zu stehen.

Denn vergebens nicken Eure welken Wipfel mir so freundlich zu, Ihr letzten Paar Zedern auf dem alten Libanon, die Ihr in guter Einfalt meinet, der Erzvater Abraham habe schon jüdischdeutsch gesprochen, und die Ihr darum Euere Kinder den deutschen Schulen entziehet, damit sie sich das liebe „Loschen“ nicht verderben. Ach! könntet Ihr so gut lesen, wie Ihr aus purer Gottesgelehrheit nicht zu schreiben verstehet, ich würde Euch sagen, wie es dem Nachtfalter ergehe, der in den lauten Morgen hinein sich verspätet und verirrt. Legt Euch schlafen, liebe Leute, denn es ist schon Tag geworden. Aber auch Euere Zufriedenheit falle nicht auf mein Haupt, geharnischte und promovirte Ritter des Rückschrittes, die Ihr in jungorthodoxer Aufgeräumtheit so muthwillig nach den Früchten des Fortschritts werfet, und für ein Verlornes so gerne den Muth der Meinung bewähret, weniger, weil Ihr die Meinung dafür, als den Muth dazu habt. Schon höre ich aus Eueren Reihen herablassend grüßende Stimmen zu mir herüber tönen. Die Einen voll grauer Gelehrsamkeit – Manuskripte sind ihr Thron, Notizen ihrer Füße Schemel, Bibliothekenstaub ihres Kleides Schmuck, Büchermotten ihre beflügelten Boten. Sie beweisen klar und deutlich, daß der Jargon seine geschichtliche Berechtigung habe, und von dem Wesen des Judenthums unzertrennlich sei.

Wann, rufen sie mit notizenschwerer und citatenmächtiger Entrüstung aus, wann sprach man je korrekt in Israel? Etwa zu Esra’s Zeiten, wo man vor lauter fremdländischen Müttern zu keiner Muttersprache gelangte? Sprach der unsterbliche R. Michel B. Josefes aus Krakau korrekt? Gehet hin und leset die wenigen deutschen Sätze, die er als Ansprachen bei Ehescheidungen formulirte, wie sie dem vierten Bande des SchulschauAruch beigedruckt sind, z. B. „Tomer dö host joi e Neder oder e Schwöe geton, oder andere selische Sachen as dö willst gebinget dröm welin mir dir mathir sein.“ Wo ist das Regel und Gesetz? Die Redefreiheit kennt nicht einmal grammatikalische Fessel, schließen sie triumphirend die gelungene Abhandlung. Fromm die Hände faltend, setzt sinnbildernd ein anderer hinzu: Sind diese Sprachschnitzer nicht wehmuthsvolle Cypressenblätter, die wir zum Andenken der Zerstörung Jerusalem’s mit in den Kranz der Rede flechten. Schrieben unsere Väter nicht so sinnig das Sprüchen auf jedes Haus: Schwarze Tint’ auf weißem Grunde, geb von Zions Fall Euch Kunde? Laß diese rührende Treue uns bewahren. Nein und abermals nein! ruft mit Energie dort ein Dritter. Nur keine Concessionen an den Zeitgeist! Religion unterliegt keiner Zeitgemäßheit; der Jargon aber ist ein Minhag, daher unzerstörbar, unverwüstlich wie Israel – was sage ich Israel? – „Jissroel“ muß es heißen! Rückwärts Jissroel, – das sei dein Fortschritt. – Gewiß! alle diese Parteihäupter könnte ich mir jetzt zu guten Freunden machen, müßte ich nur nicht wie jener Grieche sagen: Meine lieben Freunde, es gibt keinen Freund, am wenigsten da, wo es sich um Wahrheiten handelt. Wahr aber ist’s – doch halt! Während ich zu Sagunt berathe, geht mir Rom zu Grunde, und über den Wirbel der Parteien vergesse ich die brennendste Frage zu beantworten, eine Frage, die ihre volle Berechtigung hat.

Dort hinten nämlich stehet ein liebwerther Amtsbruder, ein letzter Vorposten deutscher Aufklärung, mit dem erhabenen Bewußtsein einer gründlichen Kenntniß sämmtlicher zehn Redetheile, einsam und ungekannt zwischen fleischgewordenen Sprachschnitzern, und sinnk rathlos und fragt staunend: Was um alle Welt bedeutet das Wort „Causerie?“ Aber wahrlich, es ist nicht meine Schuld, daß ich den wildfremden Ausdruck benütze, von den Nachbarn jenseits des Rheines erfunden. Diese begreifen darunter bald ein leeres Schwätzen und Plaudern, bald jenes leichte Hinschlüpfen im Gespräche, das sich unverlegen über die höchsten Interessen ergehet, Alles berührt, nirgends verweilt, überall zum Abschluß bringt und doch nirgends erschöpft. Wieder aber heißt Causerie die Gesammtheit jener landläufigen Redensarten, wohinter man im täglichen Verkehre Gedanken und Gedankenlosigkeit so leicht verbirgt. „Freuet mich, Sie kennen zu lernen,“ „auf Wiedersehen.“ Diese und ähnliche Formeln gehören in das Gebiet des Causerie, und sind so bestimmt ein Ausdruck der Gesinnungen, als das „gehorsamer Diener,“ womit wir uns begrüßen, einen rechtskräftigen Dienstvertrag begründet. Und dennoch geben diese abgegriffenen Redensarten ein sprechendes Zeugniß vom Charakter der Nation. Es ist nicht so zufällig, wenn der Franzose fragt: „Wie tragen Sie sich?“ der Engländer: „Wie thun sie thun?“ der Hebräer: „Ist Friede mit Dir?“ der Römer: „Wie bist du kräftig?“ der Grieche: „Was treibst Du?“ und der Deutsche: „Wie befinden Sie sich?“ Dem Ersten gehet geselliges Leben, dem Zweiten die praktische That über Alles. Der Dritte ringt nach der Friedenspalme, der Vierte schätzt Kraft und Ausdauer, der Fünfte lebensvolle Geschäftigkeit und der Deutsche sich in sich selbst zurecht zu finden. So spricht sich in der Causerie eines Volkes Sinnen weit unzweideutiger als selbst in Poesien und Volksliedern, in Sitten und Bräuchen aus. Denn die Poesie, als solche, eignet keinem Volke, darum muß des Letzteren Sein und Wesen erst wie das Salz aus dem Meerwasser gewonnen werden, d. h. die Poesie muß verduften, und der Bodensatz ist erst das Volksthümliche daran. Noch unzuverlässigere Führer auf diesem Gebiete sind Sitten und Bräuche. Denn Völker, wie kleine Kinder, erfinden weniger Manieren als sie nachahmen, und man weiß wieder nicht, was aus eigenem, was aus fremdem Geiste stammt. Aber die Causerie, die wächst aus dem Volke heraus, ist mit dessen Wesen Eines und kann dem Pädagogen nicht gleichgiltig sein, den das Interesse seines Berufes leitet, menschlichen Verirrungen und ihren Ursprüngen nachzuforschen.

So gerieth auch ich in das AntiquenCabinet des Judendeutsch, wo die abgegriffenen Münzen aller Länder und Zeiten durch sonderbare Fügung liegen geblieben sind, und Kuh und Bär in messianischer Weise auf einer Weide wandeln. – Indessen ging ich doch wie Saul nur Esel suchen und fand Kronen – eine Fülle von Geist, naturwüchsiger Beweglichkeit und sprühendem Mutterwitz. Ich suchte schrankenlose Willkür und fand Demuth, tief religiöses Empfinden, strenge Zucht und pädagogische Maßregel. Ist es dem Leser genehm, mache er mit mir einen Ritt zu diesem alten Gerülle, und er wird ohne übertriebene Vorliebe für wildromantische Partien, doch manchem das Lob nicht versagen können.

II.

Muß man den Mund doch, ich sollt meinen,

Nicht weiter aufthun zu einem Helfgott

Als zu einem Kreuzsakerlott.

Schiller, Wallenstein’s Lager.

Der jüdischdeutsche Jargon ist das Kind wilder Kämpfe, aus denen die deutsche Sprache als Krüppel zu den Juden heimgekehrt ist, und was Ihr unschön daran findet, sind zuweilen nur ehrende Narben und Stelzfüße, die an die seltsamste Wahlstätte streitender Gewalten mahnen. Denn lebendig auch auch hastig wie der Giesbach sprudelt der Quell im jüdischen Geiste, dem der Weg von der Seele bis zur Lippe viel zu weit oft dünkt. Müde hetzt er dann das träge Wort, daß dieses keuchend und schon hinkend das Ziel erreicht. Kurz drückt sich der Semite aus, der Hauche oft für Worte, einen Gurgelton für reiche Beziehungen hat. Darum sind ihm zu behäbig die abendländischen Zungen, die mit architektonischer Besonnenheit Wort und Sätze fügen, und die Gedankenglieder alle ganz behaglich durch ihrer Sprache breites Lager strecken. So haben selbst Spaniens jüdische Exulanten ihr „Ladinum“ und sprachen einst die Juden das Griechische und Römische nicht besser. Aber in Deutschland zerwühlten noch andere Kämpfe wild das Feld der Sprache, denn hier erfuhr der Jude dieselbe Abstoßung, mit der des Magnetes verwandte Pole feindlich auseinander fliehen, und das Land, wo er so manchen Charakterzug, dem seinigen befreundet, traf, ward der klassische Boden des Hepheprufes. Da schied aus dem stets verjüngenden Verkehre, der immer neue Formen schafft, die deutsche Sprache in des Juden Munde, und im Ghetto hielt man doch die alten Reiser fest, die der Baum der Rede in früheren Herbsten abgeworfen, unbekümmert darum, daß inzwischen draußen neue Lenze frischbelaubte Zweige brachten. Bald machte man aus der Noth eine Tugend, hielt die Abgeschiedenheit für ein schützend Bollwerk und das Judendeutsch ward die geheime Ordenssprache, von eingeweihten nur verstanden. Das ist der Ursprung jener Bastardrede, die der ferne Osten mit dem nahen Westen hat erzeugt, des Jargons, den man eben so gut deutschjüdisch als jüdischdeutsch nennen könnte, weil des einen wie des anderen Elementes viel darin ist.

Oder ist sie nicht deutsch diese Treuherzigkeit, wenn der Jude, der alleinige Träger germanischer Sprache, selbst in solchen Ländern bleibt, wohin vor ihm noch keine deutsche Zunge reichte, und dahin ihn mittelalterliche Nächstenliebe verschlagen hatte? Ist sie nicht auch deutsch diese Neigung zum Zwiespalte, die, wie sie die Nation in Stämme, so die Sprache in Mundarten auseinander treibt. – Ja auch der Jargon hat seine Dialekte, wovon der polnische Zweig füglich des Jargons Jargon heißen mag. Deutsch ist die Kraft und Fülle, die Sinnigkeit und Gestaltungsfähigkeit des Ausdruckes, deutsch ist aber auch der Mangel an Selbstvertrauen, der Abfall von sich selbst, jene übertriebene Gastfreundschaft, die fremdländischen Worten gerne Bürgerrecht oder doch Duldung gewährt.

Hat der Deutsche seine lateinische Verben auf iren, hat der Jargon eine gleich respektable Liste hebräischer Zeitwörter auf en. Das Calculiren hat dem „cheschbenen“ so wenig vorzuwerfen, als das „patern“ dem „Expediren“; und die Sylbe igan „chomezig“ ist gerade so berechtiget, als der Ausgang lich an appetitlich. Hier wie dort rächt sich zuweilen der Sprachgeist und treibt das in seinen Brunnen gefallene Fremdwort so ungestüm herum, bis er zur Unkenntlichkeit deutschen Klang bekommt. Fragt Ihr, wie ist aus periculum in mora (Gefahr im Verzuge) das jüdische prikelemore geworden? wie „stantepee“ aus stante pede (stehenden Fußes), aprenowis aus ora pro nobis (bitte für uns), zanzones aus sans soin (ohne Sorge), pasletan aus pour passer le temps (zum Zeitvertreib)? Ich antwortete: ganz nach jenen Gesetzen, die Armbrust aus arcubalista, Priester aus presbyter, Pilgrim aus peregrinus, Arzt aus artista, Pumpernickel aus bon pour Niklas und Hokuspokus aus hoc est corpus entstehen hießen. Aber selbst die äußere Erscheinung des Wortes in Aussprache und Vortrag hat im tierländischen Jargon ihre ausnahmslose Regel, die also lautet: Sprich die deutschen Vokale gerade so unrichtig, wie die deutschen Juden die hebräischen Selbstlaute aussprechen, d. h.: Die kurzen geschärften Laute mögen unverändert korrekt bleiben, aber von den langen und gedehnten büße das A den Fehler seiner Gestalt und töne fortan wie O; das lange O hingegen werde ein Oi, und das U bequeme sich wie Ö zu lauten. Endlich aber mögen E und I zwar unverkümmert bleiben, nur von dem Chlaute schleppen sie wie im Hebräischen ein A mit (Patagenuba). Nun wird wohl jeder begreifen, daß man ganz consequent woröm statt warum sagt, da doch auch aus dem Hebräischen „baruch“ ein „boröch“ in unserem Munde wird. Es ist klar, daß uns Sack und Pack ungeschmälert bleiben können, wenn auch jedes Haar auf dem Haupte und jedes Gras auf dem Felde zu Hoor und Groos wird. Blühen uns vor Roisen keine Rosen, so können wir doch hocken und hoffen wir irgend Einer, und geht es uns auch racht schlacht, so verstehen wir uns zu drehen und zu wenden.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 30 vom 27.07.1877, S. 239

(Fortsetzung).

Ist da keine Ordnung und Methode? Die unrichtige Aussprache der Doppellaute hat nicht einmal der Jargon verschuldet, denn süddeutsches Provinzialgewächs ist’s, wenn ein Bam aus jedem Baum wird, und der Jude want statt zu weinen, wie sehr er in Letzteren geübt ist. Höherer Jargon, also über alle Regel erhaben, ist jedoch die homöopathische Laune, Fehler hüben durch Fehler drüben zu tilgen. Sagt man z. B. gel statt gelb, so glaubet ja nicht, dieß b gehet der deutschen Sprache verloren, denn man hat dafür blob statt blau – und doch hat auch diese Erscheinung deutschen Grund und Boden.

Es ist leicht begreiflich, daß der Wortsatz einen reichen Zufluß aus dem Hebräischen erhält. Den Reigen eröffnen hier Bezeichnungen für religiöse Begriffe, für die Sinnbilder des Cultus und Ausdrücke für allerlei Denk und Schlußformen zur Erleichterung der Disputationen. Die Ersteren sind selbstverständlich bei einem Volke, dessen Religion in alle Beziehungen des leiblichen, geistigen und geselligen Lebens eingreift, und die Letztern verdanken ihre Existenz jenen geistigen Wettkämpfen, den gymnastischen Uebungen gelehrter Athleten, die des Juden olympische Spiele waren, wie die religiösen Themen seine Rennbahn und Schleuderstätte. Da drang denn mancher Kunstausdruck für Einräumung und Widerlegung, Einwurf und Dilemma in die tägliche Verkehrssprache. Endlich wurden Stimmungen, Gefühle, Zustände und Lebensstellungen, die mächtig das Menschenherz ergreifen, hebräisch benannt.

Bezeichnend für jüdischdeutsche Zustände ist unter den letztangeführten das Wort „Bilbul“ – ein Schreckenswort, das oft wie der Blitz unter die Harmlosen fuhr, und Alles Blut gerinnen, alle Pulse stocken macht. Bilbul ist nämlich die lügenhafte Beschuldigung, welche, wie Gebrauch des Christenblutes an Ostern, Vergiftung der Brunnen u. dgl. zum Vorwande einer Judenhetze ersonnen wurden. Wörtlich heißt Bilbul so viel als Verwirrung, Trübemachen, um besser fischen zu können, und mit diesem Wort, das das Volk erfand, widerlegen sich die Märchen alle, die noch heute mancher für baare Münze ausgeben möchte. – Doch genug über das Stoffliche des Jargons, das wir nun gelehrten Sprachforschern überlassen mögen, die an dergleichen ihr Behagen haben. Wir blicken sehnsüchtig doch vergeblich nach dem reichen Schatz hebr. Wörter, die vordem ein Judenkind mit in die Schule brachte, daß der Schüler vom Hause aus so vieles verstand, um das ihn heutzutage mancher Lehrer beneiden darf.

Betrachten wir nun die erziehlichen Momente und Einflüsse der jüdischdeutschen Causerie in dieses Wortes weitester Bedeutung; so fällt uns zunächst die Fülle von Wortspielen auf, die gleichsam wild und ohne künstliches Dazuthun auf dieser Redeflur hervorschießen müssen. Wie Juvenal von seinem Zeitalter behauptet, es sei schwer, keine Sartyre zu schreiben, so kann man mit gleichem Rechte sagen: Schwer ist’s keinen Wortwitz im Jargon zu machen. Hier ergehet sich der Humor des Zufalls, der in allen Calembours waltet, zwischen zweien Sprachen, schüttelt das Kaleidoskop, dessen Wortmosaik zwischen den Zerrspiegeln verstümmelnder Aussprache die abenteuerlichst verschlungenen Lautgestalten zeigen muß. Zudem ist des jüdischen Volkes Denkkraft fast rascher als gründlich, vergleicht eher als sie unterscheidet, gelangt früher zu Einfällen als Einsichten. Da lauert ohnehin der Witz hinter jedem Gedankenberge, stets bereit, gewappnet hervorzuspringen, und nächst dem Gebete war der Witz fast die einzige Blume, die im Ghetto üppig wachsen und gedeihen durfte. So kam es, daß die ganze jüdischdeutsche Conversation zu einem großen bunten Maskenballe wurde, wo jedes Wort hinter einer fremden Larve hervor seinen Nachbar stichelte. Gehet nun in diesem Jargon eine ganze Welt sprühender Einfälle zu Grunde, so verliert auch der Jugendbildner manches vortreffliche Reizmittel, wie man dieses heutzutage in Räthseln und Scharaden sucht, Lockmittel, die Denkkraft gleichsam zu necken, und aus ihrer Ruhe aufzustacheln.

Aber eine andere, weit edlere Seite der jüdischen Causerie ist der Mussivstyl, der in steten Anspielungen und Reminiscenzen aus der Geschichte und Literatur der Vergangenheit sich ergeht. Ein Volk, das so tief im Alterthume wurzelt, und kein anderes Erbe als sein altes Schriftthum hat, verliert die Erinnerung daran erst, wenn es sich selbst verloren hat. Aber dieses Volk der Hoffnung hat sich nie aufgegeben, am wenigsten damals, als es noch keiner papiernen Flügel bedurfte, und das Nationalgefühl noch keine Insertionskosten verursachte. Da strotzte die Causerie von Citaten aus der Nationalliteratur, von Anspielungen auf die Helden der Vorzeit. Aus jener holte es sich seine Spruchweisheit, wie: Faule Fische und geschlagen dazu. Wissen ist Waare. Vor Armuth Weißbrod essen. Prediger predige Dir. Weiber haben neun Maß Redseligkeit.

(Schluß folgt.)

Ausgabe 31 vom 03.08.1877, S. 247f

(Schluß.)

Man straft die Tochter, um die Schnur zu treffen. Mancher gewinnt an der Feuersbrunst. Der Sagenschmuck der den Messias verklärt, ward in die Causerie verwoben, und, der junge Knabe hörte eben so früh schon von Hillel’s Geduld, Ijob’s Leiden, Pharao’s Plagen, egyptischer Finsterniß, Methusalem’s Alter. In gleicher Art war Korach der jüdische Krösus, jeder Judenfeind ein Amalek, und der Prophet Elisas die Quintessenz aller Rübezahle und Heinzelmännchen. Wie ein guter Elfenkönig bringt er frommen Leuten Bescheerung, bauet dem fleißigen Forscher Häuser, weiß auf alle Fragen Bescheid, stehet bei allen Knäblein Pathe, sitzt am Pessachabend, ein unsichtbarer Gast, zu Tische. – Das waren die Frührothsstrahlen, die des Kindes Morgentraum durchwebten, das die Causerie, die unsere Struwelpeter, Nußknacker und Bilderbücher vertrat, und wir hegen gerechte Zweifel, ob die Weisheit unserer Kleinkinderuniversitäten dafür Ersatz bieten, und die Gelehrtheit, die heutzutage oft auf allen ihren vier Fakultäten daher gekrochen kommt, die jungen Blüthen zu beschnüffeln, mit jener Causerie sich an pädagogischer Wirksamkeit messen kann.

Doch bei weitem die schönste, edelste und rührendste Seite der jüdischen Causerie war der religiöse Hauch, der sie durchwehete und jedem Worte, das dem Munde entfuhr, zuerst den Zoll der Andacht abverlangte. Das Gebet blühet beim Juden, wie Gras auf fettem Erdreich. Nicht nur sprießt es auf weiten Pampa’s des Morgens wie des Abends, sondern drängt sich auf Hain und Steg überall hervor, und guckt und lugt aus allen Ritzen und Spalten des Tagelebens. Schon das vorgeschriebene Rituale hat für jedes Erlebniß, jede Erscheinung einen formulirten Segensspruch. Der Jude dankt für jeden Genuß des Lebens, für jede Funktion des Leibes, für frohe Nachricht wie für Schreckensbotschaft. Er hat Stoßgebete für Sturm und Regen, Blitz und Donner, Regenbogen und Erdbeben. Gott preist er für Düfte und Blüthen, für Mißgeburten und Leichenäcker, wie für die Macht, die Er gekrönten Häuptern für die Weisheit, die Er den Männern des Wissens verliehen. Und all’ die tausende von Formeln und Segenssprüchen trug ein guter Jude vordem im Gedächtnisse mit sich herum; wie konnte es da anders kommen, als daß der sonst stets wache Gottesge danke auch durch die Causerie wie ein Schutzgeist wandelte und dem Alltagsgespräch Weihe und Adel verlieh.

Man urtheile selbst: – Der nächste Ausdruck der Menschenachtung ist wie überall auch hier der Gruß. War nun schon den alten Hebräern Grüßen und Segnen Eines, so drückt sich in der jüdischen Causerie das Wohlwollen fast überschwänglich aus. Wenn die moderne Ehrenbezeugung selbst den tiefsten Bückling höchstens mit einem „allerunterthänigsten Diener“ begleitet, so versteigt sich die ehrende Liebe bei den Juden bis zu der Formel: „Ich sei Deine Sühne,“ d. h. mich treffe Deiner Sünden Strafe, gleich sehr ein Beweis der Hingebung, der Anerkennung göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Fehlbarkeit. Die Gastfreundschaft ladet zum Mitgenuße durch die Formel: „Macht Broche,“ d. h. Sprecht Euere Betform über diesen Kelch, diese Speise, womit dem Gaste die Annahme zur Pflicht gemacht, das Verdienst des Anbieters dem Wirthe abgesprochen wird; darauf erkundigt sich jener, ob kein Priestersprößling, kein Theologiebeflissener bei der Tafel anwesend sei; denn die Ehrfurcht vor Priesterthum und Gottesgelehrtheit gebieten, jene ersten um Permission zu bitten. Der Niesende spricht: Deiner Hilfe traue ich mein Herr; der über eine Todesbotschaft Erschreckende ruft: „Gelobt sei der Richter in Wahrhaftigkeit.“ – Tritt in die Gedächtnißebbe plötzlich wieder die Fluth ein, so gedenkt der moderne Mensch selten der Wohltat, die ihn hiebei von der Stockung befreit. „A propos!“ ruft er freudig aus; während der Jude in ein „Gott sei gelobt, der erinnern läßt,“ ausbricht. Von seinen Leiden spricht er nie anders, als „zur Buße sei es gesagt,“ oder „um meine vielen Sünden Willen“ einzuschalten; denn nur sich, nicht das Schicksal, wagt er anzuklagen. Hegt er einen Vorsatz, so gedenkt er gleich menschlicher Unzuverlässigkeit und verwahrt sich davon, daß ihm kein Gelübde daraus entstehe. Bietet er die Zeit, so bestimmt die Religion den Kalender, und er wünscht einen guten Sabbat oder Jomtow. Die Lenzensstrahlen bringen ihm des Pessach’s Botschaft, und fröstelt der Frühherbst, so „slichezt’s“ ihm, d. h. es wehen die Schauer der Morgenandacht aus der Bußezeit ihn an. Ja! ich kannte einen Juden, der sich oft versucht – fühlte, in ein Sakerlot, oder wie man’s hier zu Lande oft hört, in ein „Saperlot auszubrechen. Doch jedesmal besann er sich rasch und rief: Sapper–u bagojim eth kewodo – das ist ein Bibelvers des Inhalts: Verkündet den Völkern Gottes Ehre. So verklärte die Religion das Alltagsgespräch, benetzt mit dem Thau des Glaubens welkgewordene Redensarten. Des Gottes, dem es bekannt, des Glaubens, den es durch die Welt zu tragen berufen war, vergaß dies Priestervolk niemals! Vom Gottesbewußtsein war seine ganze Athmosphäre durchduftet, sein ganzes Leben ein Gebet, Andacht seine Causerie und seine Rede durchzitterte ein heiliger Psalter.

Dies ist der Geist des Jargons, dem, mit unserem Motto zu sprechen, ein Helfgott stets näher lag als ein Kreuzsakerlot, und ich glaube, darum nicht dem Rückschritt zu huldigen, wenn ich auf die Erziehung durch Judendeutsch hingewiesen. So klar es ist, daß kein Kind zum Mutterleibe wiederkehrt, so ist doch oft ein scheinbarer Rückschritt sehr heilsam. Es ist ein Ausholen mit der Axt, um einen eindringlichen Schlag zu führen. Je weiter die Axt nach rückwärts geschwungen wird, desto kräftiger fällt der Hieb nach vornen zu. Aber wohl gemerkt! die Axt muß fest am Stiele sitzen, sonst schlüpft sie aus, richtet Unheil an, und es bleibt der leere Prügel in den Händen. Wie der Pädagog die alte Causerie noch immer nützen kann, ohne daß das Eisen ihn entgleitet, überasse ich getrost dem ruhigen Nachdenken. Der Schriftsteller ist der Meilenzeiger, der auf den Weg nur hinweist, – darauf zu wandeln, ist des Lesers Sache!

 

Zur Biographie: Simon Szántó

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 12. Jahrgang, Ausgabe 13 vom 29.03.1872, S. 145f

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  [Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Getreu unserm ursprünglichen Programme, welches die Geammtheit der Juden nur als Religionsgenossenschaft, aber nicht als Nationalität im politischen Sinne des Wortes bezeichnet haben will – vermieden wir es stets ein solidarisches Vorgehen in großen Staats- und Verfassungsfragen zu befürworten. Wir verlangen keine Parteidisciplin, welche die freie Meinung des Bürgers den Tendenzen der Klique zum Opfer bringt, wir wollen nicht, daß der Jude, als Jude seinen Bürgersinn bethätige. Möge jeder aus unbeschränkter Selbstentschließung sich jener politischen Fraktion zugesellen, deren Streben seinen Neigungen und Anschauungen entspricht – denn die Einheit des Judenthumes besteht nur in der Gemeinschaft des religiösen Glaubens. Wenn aber, wie dieß heutzutage deutlicher als je hervortritt, die Politik auch keine Sphären des moralischen Lebens ergreift, wo Kirche und Staat ihre unaufhebbaren Berührungspunkte haben – dann ist es des Juden Pflicht, auch die Stellung seines Bürgerthumes zu den Prinzipien seines religiösen Bekenntnisses in Erwägung zu ziehen. Uns ist es Bedürfniß die freie Kirche im freien Staate zu fördern, unsere vitalsten Interessen hängen von der Selbstständigkeit dieser beiden Faktoren ab, und um den Staat und die Kirche von einander zu emanzipiren, fangen wir zuerst mit uns selber an, tren- nen in uns selber den Juden von dem Bürger und verhüten es, daß nicht der eine in dem andern aufgeht. Um unser Bürgerthum frei vom Judenthume zu erhalten weisen wir den Gedanken einer jüdischen Politik zurück und lehnen auf das Entschiedenste jede Zumuthung ab, unsere konfessionellen Interessen mit einer politischen Meinung zu identifiziren. Aber einen ebenso unerbitterlichen Widerstand müssen wir einer Politik bieten, welche durch ihre Zwecke oder durch ihre Mittel die sie erwählt, den Menschen oder den Juden in uns bedroht – und in dieser sehr peinlichen Lage befinden wir uns gegenüber der poln. Resolution und den Tendenzen nach Erweiterung der galizischen Autonomie. Denn die Art wie bisher in Galizien gegen die Juden verfahren wurde, ist einmal nicht geeignet, uns außer Sorge um die Erhaltung der durch die Verfassung gewährten Errungenschaften zu setzen, wenn einmal den Polen ein Selfgouvernement verliehen würde. Die Gleichberechtigung, die Gewissenhfreiheit sind uns nicht blos materielle Güter – sondern Gegenstände religiöser Verehrung, Correlate unserer moralischen Weltanschauung. Der Jude sieht sich nicht nur in seinen Menschenrechten, in seiner irdischen Existenz bedroht, wenn ihm diese Güter gefährdert werden, sondern in seinem religiösen Bewußtsein, in seinen ethischen Prinzipien gekränkt. Wer uns diese Parität streitig macht, der vergreift sich an unseren Heiligthümern selbst. Ist aber in Galizien, wenn es einmal seine Resolution verwirklichen sollte, auch nur die geringste Aussicht vorhanden, daß die Juden nicht die ersten Opfer sein würden, welche der Autonomie zum Raube sein würden? Haben etwa die galizischen Gemeinden, die sich doch bereits der freiesten Communalverfasung erfreuen nicht genug Gelegenheit geboten, die Tendenzen dieser Race näher kennen zu lernen? Oder sollen die Juden aus der Neigung der Polen für den Ultramontanismus

Hoffnung auf bessere Zeiten schöpfen? Oder gewährt uns etwa der Kultur-Zustand Galiziens irgend eine Garantie gegen Rechtsbedrückungen? Haben die galizischen Behörden nicht gerade auf diesem Gebiete ihrer Willfährigkeit, dem Obskurantismus Vorschub zu leisten, am eifrigsten kundgegeben? In welchem Kronlande Oesterreichs wird der Fanatismus der Chassidäer, die Renitenz gegen Schulbildung, das Gelüste des wildesten Vandalismus in so ostensibler Art von Oben herab begünstigt wie in Galizien? Und stimmen die Vertreter Galiziens im Abgeordnetenhause nichts stets mit der Reaktion, ja mit jenem Systeme, das Niemand so schwer wie die Juden bedrückt? Man wende uns nicht ein, daß die Reaktion nur ein Mittel sei, welches vom nationalen Zwecke geheiligt werde. Als Juden bekennen wir uns einmal nicht zu der Moral, daß irgend ein Zweck heilig genug sei, ein verwerfliches Mittel zu heiligen, abgesehen davon, daß wir kein Kriterium besitzen, zwischen Zweck und und Mittel, Ursache und Wirkung zu unterschreiben. Benehmen sich etwa die Herren so, daß man ihre Reaktion und ihren Ultramontanismus als bloßes Mittel und nicht vielmehr als Selbstzweck erkennen kann? Wir glauben darum nicht, daß die Juden in dieser Frage sich passiv verhalten und wie bisher eine Reserve auferlegen dürfen. Es ist an der Zeit, daß sie ihre Treue an der Verfassung offen bekennen und im gesetzlichen Wege, sei es durch Petitionen in Verbindung mit den Ruthenen und der ländlichen Bevöllkerung, die den Schlachzitzen auch kaum geneigt sein dürfte, sei es durch irgend eine andere erlaubte Massenkundgebung für die Dezember-Charte zu demonstriren. Die Abgeordneten Grocholski und Zyblikiewicz haben im Verfassungsausschusse die Erklärung abgegeben, daß die jüdische Bevölkerung Galiziens mit der Resolution einverstanden sei. Woraus die beiden Herren ihre Kenntniß von der Gesinnung der Juden schöpfen, wissen wir natürlich nicht. So weit uns ein Einblick in die dortigen Verhältnisse gestattet ist, haben sich die Juden noch gar nicht über diesen Punkt geäußert. Nehmen sie nun die Erklärung der beiden Abgeordneten, die ihnen doch aus der Tagespresse bekannt sein muß, stillschweigend hin, so wird man ohne Zweifel dieses Schweigen für Zugeständniß nehmen und daraus Konsequenzen ziehen, die gewiß nicht in den Intentionen derer lagen, die bisher aus ihrer Reserve nicht herausgetreten sind. Wir glauben daher, daß die Lemberger Judenschaft als die Vorortsgemeinde sich aufgefordert fühlen müsse, zuerst mittelst Rundschreiben an die Vorstände der Provinzialgemeinden Erkundigungen über die wahre politische Gesinnung ihrer Glaubens- und Vaterlandsgenossen einzuholen und das Ergebniß ihrer Erhebungen, falls es dahin ausschlägt, wie wir es vermuthen, im geeigneten Wege zur Kenntniß des Abgeordnetenhauses und des Ministeriums zu bringen. Die gegenwärtigen Parlamentsferien können dazu leicht benützt werden, ein sehr erschöpfendes und eingehendes Memorandum vorzubereiten und es endlich klar zu machen, ob die Herren Zyblikiewicz und Grocholski wirklich gut über die Meinung der dortigen Juden unterrichtet waren oder ob sie – was wir noch immer annehmen wollen – in einem Irrthum sich befanden. Es steht viel, sehr viel auf dem Spiele; die Passivität in dem gegenwärtigen Momente ist nichts weniger als berechtigt – sie wäre eine schwere Sünde, die nicht nur an Kindern und Kindeskindern, sondern an noch späteren Geschlechtern geahndet werden könnte.

 

 

Zur Biographie: Simon Szántó

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 10. Jahrgang, Ausgabe 17 vom 29.04.1870, S. 192f / Ausgabe 20 vom 20.05.1870, S. 230

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

 

Ausgabe 17 vom 29.04.1870, S. 192f
Die gegenwärtige Studie erschien vor mehr als zehn Jahren unter dem Titel „Fahrende Juden“ im Wiener Jahrbuch von Wertheimer, und dürfte somit nur wenigen Lesern noch gegenwärtig sein. Zur folgenden Umarbeitung sah sich aber der Verfasser durch Umstände veranlaßt, die in dem 3. ganz neu hinzugekommenen Abschnitte klar gemacht werden sollen. Das vormals erste Capitel, welches die mosaische Armenverfassung behandelte, schien mir mit dem hier beabsichtigten nicht zusammenzuhängen und ich beginne darum sofort mit der rabbinischen Vorschrift über die Verwaltung des Armenwesens.

I.
Die jüdische Armenverfassung.

Es scheint, daß die biblischen Urkunden, die jeden Bettler als einen lebendigen Vorwurf der bürgerlichen Gesellschaft betrachteten, nicht im Stande war, eine vollkommene Gleichheit aller Mitglieder herzustellen.

Indessen verhehlte die biblische Gesetzgebung nicht, daß die Welt der Wirklichkeit mit ihrem Ideale in Widerspruch treten könne, und wenn sie auch die Möglichkeit, daß bei genauer Befolgung ihrer Verordnungen jede Armuth schwinden könne, annimmt, setzt sie rasch hinzu: „Und doch wird es nie an Dürftigen in deinem Lande fehlen.“ – Zunächst waren diese Dürftigen jene, die vom Rechte des Grundbesitzes gesetzlich ausgeschlossen wurden. Das sind nicht etwa Andersgläubige, sondern im Gegentheile die strenggläubigen Priester und Leviten, deren Antheil nach jüdischer Anschauung nicht die Scholle, deren Herrschaft nie eine weltliche sein sollte. „Gott sei ihr Erbgut, und ihr irdisch Dasein haben sie von Zehenten und Gaben zu fristen.“ Einer andern Classe Schutzbedürftiger, als Waisen, Witwen, Heimatloser, ward von Seiten des Judenthums mit solcher Freigebigkeit ein Asyl erschlossen, daß wir demselben eine zeitgemäße Nachahmung auch in unseren Tagen wünschen möchten. Aber noch eine dritte Gruppe der Unbemittelten, die durch Mißwachs, Ungemach aller Art von Vermögen herabgekommen waren, nimmt die Aufmerksamkeit des Gesetzes in Anspruch. Es sind dies die Armen im heutigen Sinne des Wortes, oder wie ihre spätere juridische Definition lautet, die keine 50 Sous besitzen, um ein Gewerbe zu betreiben, oder kein Gewerbe verstehen, und nicht über 200 Sous gebieten können, und somit auf Unterstützung der Mitmenschen angewiesen sind.

Für diese Classe nimmt das Gesetz eine eigenthümliche Armensteuer in Anspruch, wornach jeder Grundbesitzer mindestens ein Sechzigstel vom Ertrage seiner Feldfrüchte, Nuß-, Mandel-, Granat-, Oliver- und Dattelbäume, bei Vermeidung der Geiselstrafe und zwangsweisen Erhebung den Armen zu überlassen habe. Damit die Behörden die Erfüllung dieser Pflichten überwachen können, ist dieser Armenantheil am äußeren Umfange der Felder ersichtlich zu machen, indem die Ecken derselben nicht abgeerntet werden. So wenig als ein Grundbesitzer bissige Raubthiere zur Verscheuchung der Armen halten darf, so wenig ist ihm gestattet, den einen Leidenden zurückzuweisen, um den andern zu bevorzugen. Die Armen dagegen haben, ehe sie das Feld betreten, die Aufforderung des Eigenthümers erst abzuwarten, dürfen des Andranges wegen keine Sicheln mitbringen, und erscheinen nur dreimal des Tages. Am Morgen wird nämlich für säugende Frauen, zu Mittag für junge Kinder, die spät in den Tag hineinschlafen, und Abends für Greise, die weder sehr früh, noch zur Mittagsgluth erscheinen können, eine Stunde anberaumt. Von der Sichel abgefallene Aehren, auf dem Felde vergessene Garben, Weinbeeren nicht dichter Trauben, die Nachlese zwischen den Zweigen der Olivenbäume, wie der ganze freiwillige Feldwuchs des siebenten, also des Sabbatjahres, ist aber anderseits ebenfalls den Armen zu überlassen. Schließlich hat noch jeder, gleichviel arme oder reiche Grundbesitzer, am je dritten Jahre, das Jahr der Zehenten genannt, den zehnten Theil des Feldertrages den Zwecken der Wohlthätigkeit zu widmen, und beim Mittagsgottesdienste des letzten Osterfeiertages nach vorgeschriebener Formel das feierliche Gelöbniß abzulegen, daß er in dieser Rücksicht den ihm zustehenden Pflichten nachgekommen sei.

Und bei all dem weiß die Religion, die man die Religion des Rachegottes zu nennen beliebt hat, nichts davon, daß man mit Liebeswerken prunken könne, auf deren Unterlassung sie die Geiselstrafe setzt. Fremd ist ihrer Sprache jede verächtliche Bezeichnung für die Armen. Diese sind ihr Anijim, Leidende, Dallim, Wankende, Ebjonim, Wünschende, Muskanim (Mesquin) Gefährdete, die vom Geschicke bedroht sind. Der Bettler in seinem entehrenden Stande ist so wenig gekannt, daß die Sprache keine Bezeichnung für ihn hat, und selbst die sogenannten „Strafreden“, die mit einem ganzen Heere von Gebrechen, Gebresten, Pestilenzen und Plagen dem Gesetzübertreter drohen, kennen wohl die Verarmung aber das Betteln nicht. Ein späterer Psalm (109) weiß erst von dem Fluche, daß „die Söhne herumstreifen, heischen und verlangen“, doch kann er dies nur umschreibend bezeichnen. Dem Volke aber war ebenfalls nur ein Mann der Gerechtigkeit Derjenige, der sagen kann: „Ich bin des Blinden Auge, des Lahmen Fuß, des Dürftigen Vater, des Fremdlings Anwalt; ich weine mit dem Bedrängten und traure mit dem Jammernden“, und dieses Volkes Spruchweisheit stellt Verspottung der Armen der Gotteslästerung gleich.

Indessen waren die ursprünglichen und einfachen Verhältnisse nicht von langer Dauer. Immer mannigfaltiger verschlangen sich die Interessen, immer bunter gestalteten sich die gesellschaftlichen Beziehungen; reger war die Luft am Geldbesitze, trüber das Loos der Armen, reicher der Geist an Anschauungen, ärmer das Herz an Empfindungen. Schon die Propheten klagten, daß das Recht der Armen gebeugt werde, und der Verlust der Unabhängigkeit des jüdischen Staates, die Berührung, in die man mit andern Pracht und Macht liebenden Nationen kam, waren nicht ge- eignet, die Rückkehr zur alten Einfachheit zu erleichtern. Esra und Nehemias machten noch die letzten vergeblichen Anstrengungen, die alte biblische Gleichberechtigung aller Insassen wieder herzustellen, und bald nach ihnen mußte ein neues Armengesetz auf erweiterte Grundlagen erbaut werden – eine Armenverfassung, die an Tiefe der Empfindung, an Welt- und Menschenkenntniß, an Reichthum der Anschauungen und zarter Auffassung der Verhältnisse Alles weit hinter sich läßt, was die damalige Mitwelt und die ein Jahrtausend spätere Nachwelt in dieser Rücksicht gedacht und gewirkt hat. Wir werden bei deren Darstellung die Quellen meist mit eigenen Worten sprechen lassen, doch muß manche kostbare Perle aus Mangel an Raum zurückbleiben.

Die Herbeiführung einer vollständigen Gleichheit der Geschicke wird zu einer und derselben Zeit vergeblich angestrebt, sie muß dem Großen und Ganzen der Weltgeschichte überlassen werden; denn die Schicksale sind Eimer am rollende Rade, von denen sich einer leert, wenn der andere sich füllt. Es deckt sich aber auch der Mangel hüben nicht durch den Ueberfluß drüben; denn keine Grube wird vom eignen Schutte wieder voll. Darum hat das Armengesetz auf Weckung und Verwerthung der vorhandenen Kräfte zu sehen. Armuth ist Tod, der Arme ein todtes Glied im Organismus der Menschheit, das wiederbelebt sein will. Die Quellen der Armuth aber sind theils Stillstand, theils Mißbrauch der Kräfte. Lieber mache Du der den Sabbat Dir zum Werketag, oder ziehe auf offener Straße das Fell dem Aase ab, nur mache Dich von fremder Unterstützung unabhängig. Wild und Vogel verstehen ihr Gewerbe, darum ernähren sie sich sorglos, und wenn ein Vater seinen Sohn kein Gewerbe lernen läßt, so erzieht er ihn zum Gauner. „Der Mann von Bildung kann verarmen, dulden, leiden, – aber betteln wird er nie, niemals an die Thüren pochen,“ gilt dem Talmud als Erfahrungssatz. Aber auch Geiz wie Verschwendung, Unreinlichkeit wie Aufwand, Leichtsinn wie Ungenügsamkeit und noch andere Gegensätze, die aus dem Mißbrauche der Kräfte hervorgehen, eröffnen der Armuth eine Gasse. Darum sind Arbeit, Liebe und Zufriedenheit das Salz des Vermögens, die es vor Verwesung schützen.

(Fortsetzung folgt.)

 

 

Ausgabe 20 vom 20.05.1870, S. 230

II.
Fahrende Juden. 

Tief in der Menschennatur ist der Wandertrieb begründet, denn er wurzelt in jener Wechselbedürftigkeit der unstäten Seele, woraus jedes Streben, über das Gegebene und Herkömmliche hinaus, von einer Stufe des Fortschritts zur stets höheren emporzukommen, seinen Ursprung nimmt. Der ruhelose Drang, der den Abenteurer in die Ferne treibt, ist Eins mit jenem Behagen, das selbst der nüchternste Philister am Räthselhaften, Geheimnisvollen und dem Gegensatz zum Alltagsleben empfindet; denn in ihm wie in jedem Menschen steckt ein gutes Stück naturwüchsiger Landstreicherei. Ganz besonders aber gab es in unserer Mitte zu allen Zeiten einzelne Menschen wie ganze Familien, in denen eine erb- und eigenthümliche Unruhe und Wanderlust waltete, die an die nomadische Abkunft unseres Stammes erinnert. Allerdings befanden sich Jahrhunderte lang viele jüdische Familien, denen Aberglaube und Menschenhaß die Heimat versagten, sehr unfreiwillig auf ihrer Irr- und Wanderfahrt; aber schwerlich hätten sie ein so unseligunstätes Leben lange zu ertragen vermocht, wären sie im Punkte der Seßhaftigkeit verwöhnter gewesen, und hätten sie sich nicht einen Rest der uralten Nomadennatur für die späteren Zeiten aufbewahrt.

Damit hing aber auch jenes Mitgefühl für Elend und Heimatlosigkeit zusammen, auf das im jüdischen Gesetz mit Zuversicht gerechnet wird. „Ihr wißt es ja, wie einem Fremden zu Muthe ist“ heißt es, und in dieser Voraussetzung wird auch das Gastrecht durch gar keine Maßregel bestimmt, weil man einen Frevel gegen dasselbe nicht annehmen wollte. Die biblischen Scenen, wie der Wirth den Gast auf der Straße sucht, ihn ins Haus bringt, Wasser zur Waschung, Speise für Menschen, Futter für die Lastthiere herbeischafft, zum Abschiede jenen noch eine Strecke begleitet; wie für wiederkehrende Gäste eigene Gemächer eingerichtet werden – all das ist hinlänglich bekannt, und die jüdische Gastfreundschaft schon oft gepriesen und besungen worden. Die Beschreibung dieser Tugend bildet in dem Kranze, den Dichtung und Sage allen Helden der Vorzeit von den Patriarchen bis auf Ijob gewunden, immer die schönste und duftendste Blume, und uns bleibt nur zu erinnern übrig, daß auch die Reisenden oft reiche Gaben ihren Wirthen brachten. Viele hatten sich nämlich nur zu Zwecken der Volksbildung auf Wanderung begeben, wohin vornehmlich die Propheten zu zählen sind. So machte Samuel alljährlich seine Rundreisen durch Palästina, ordnend, richtend lehrend. So treffen wir Elija und Elisa von Stadt zu Stadt rastlos streifen, so gehören fast alle Propheten zu den fahrenden Personen – das lebendige Gewissen wandert mahnend durch des Volkes Stämme!

An sie schlossen sich zahlreiche Wallfahrer, zu dem anfänglich ebenfalls wandernden Heiligthume, die den frommen Sinn belebten. Minder bedeutsam waren die Streifzüge der im Nomadenstande verbliebenen Familien, wie die der Rechabiten, welche auf letztwillige Anordnung ihres Ahnherrn Jonadab dem Wein, dem Ackerbau und der Ansässigkeit entsagten, und von denen man schon in alter Zeit die Seele der Essäer ableiten wollte. Anderseits lockte die geographische Lage Palästina, an Asiens wie Afrikas Pforte, viele Fremde herbei und doch bestanden keine Gasthäuser und wurden erst später Herbergen, als fromme Stiftungen eingerichtet. Als solche wird die eines gewissen Kimhom in der Bibel genannt; Gegenstand eines Gewerbes wurden aber solche Gasthäuser unter der Verwaltung von Nichtjuden, wie die im Thalmud unter dem griechischen Namen Pandochien (Pundókioth) vorkommenden Einkehrhäuser.

Als das tragische Verhängniß, das die Glieder des Volkes weithin versprengte, sich erfüllt hatte, dauerte es eine lange Zeit, ehe man auf den Segen eines örtlichen Mittelpunktes, von dem aus Lehr und Leben wie Blut aus dem Herzen in die Adern strömen sollte, verzichten gelernt hatte. Da war nun bald die eine bald die andere Schule am Jordan oder am Euphrat, das neue geistige Jerusalem und das leuchtende Ziel fahrende Schüler. Dazu ziehen Volksredner tröstend, mahnend, lehrend, Emissäre der Schulen, die gesetzlichen Entscheidungen in die Ferne tragend, von Ort zu Ort; aber leider schließen sich ihnen an: Pilger, die zu Ruinen und Gräbern wallen, Krüppel die Gebrechen zur Schau tragen, Abenteurer aller Art, die alle die Gastfreundschaft in Anspruch nehmen. Schon geiselt der Volkswitz die Schattenseiten der fahrenden Leute und das herrschende Sprichwort „Bei Reisenden Zwischenträgerei, wie bei alten Lumpen Ungeziefer zeugt, daß man schon viel an Naivität in diesem Punkte verloren hatte. Man weist den Wandernden das Nachtlager auf dem Söller an, läßt aber zur Schlafenszeit die schwere Holztreppe, die hinaufführt, wegräumen; denn „der liebwerthe Gast könne doch ein Gauner sein“. [unleserlich] den Lehrhäusern predigt man: Traue jedem Fremden, wie einem Wegelagerer, aber pflege ihn, als wäre er Patriarch.

Unter solchen Verhältnissen wurden wieder Gesetze der Gastfreundschaft nothwendig, die man nur als Anstandsgesetze ausgab. Ihre wesentlichen Punkte sind in Folgendem enthalten: Pflege der Wanderer stehet höher als Besuch des Bethauses, und der Tisch, an dem Armen speisen, vertritt des Tempels Opferherd. Es werden eigene Predigten zur Verherrlichung der Xenia (so nannten sie die Fremdenliebe) an das Volk gehalten, doch führte man auch einige Erleichterungen ein. Hierher gehört die oben erwähnte Tamchuj, zu der [unleserlich] Speisen, die noch nicht verzehntet wurden, verwendet werden konnten. Unbekannte Durchreisende erhalten nur eine Mahlzeit täglich, übernachten sie, eine mit Polstern und Decken versehene Lagerstatt; kommen sie Feiertage an, so haben sie auf drei, in einem Locale neben der Synagoge zu verabreichende Mahlzeiten Anspruch. Von daher schr[unleserlich] sich der noch heute stattfindende Brauch, daß der Vorbeter in der Synagoge den Festgruß (Kidusch) über einen Weinpocal spricht, da ihm die Gemeinde als Wirth vertreten ist, welchem Letzteren die Pflicht obliegt, beim Eingange des Sabbats den Weihespruch vor der ersten Festmahlzeit vorzutragen. Am Sonntage erhalten die Bettler ihre [unleserlich]zehrung und werden entlassen.

(Fortsetzung folgt.)

 

Zur Biographie: Simon Szántó

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 12. Jahrgang, Ausgabe 45 vom 08.11.1872, S. 495f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Die „Jüdin von Grillparzer“ sollte eigentlich unsere Uiberschrift lauten. Denn einerseits ist es der Titel eines im literarischen Nachlasse vorgefundenen Drama’s den wir für unsern heutigen Leader entlehnen; anderseits darf man die Heldin der verunglückten Tragödie füglich immer als eine Jüdin Grillparzerischer Mache ansehen, für welche die Wirklichkeit niemals ein Urbild geliefert noch inmitten unseres Stammes hätte liefern können. Es verstehet sich von selbst, daß es uns mindestens an dieser Stelle nicht um eine Kritik vom Standpunkte der Dramaturgie zu thun ist, daß vielmehr eine Frage von prinzipieller Bedeutung unsere Erörterung herausgefordert. Die Leser werden sich erinnern, daß wir dem Genius Grillparzer’s stets Gerechtigkeit widerfahren ließen, so oft uns die spezielle Aufgabe dieses Journals Gelegenheit bot, zu der allgemeinen Huldigung, die diesem großen vaterländischen Dichter zu theil geworden war, auch unser Schärflein beizutagen. Wir würdigten im Sinne des geläuterten Judenthum’s, das „Reich von Priestern“, die Gemeinschaft aller edlen Geister, in deren Mitte ein Sänger wie Grillparzer unstreitig einen hervorragenden Platz einnimmt. Wir erzählten es mit wärmster Anerkennung, wie er im Jahre 1867, als die Gesetze der Religionsfreiheit im österreichischen Herrenhause beschlossen werden sollten, obgleich schwer erkrankt, sich in einer Sänfte in den Beratungssaal tragen ließ, um sein Votum für die Emanzipirung der Gewissen abzugeben. Wir sprachen ihm Dank für die Liebe aus, mit welcher er das jüdische Thema Esther, behandelte das freilich schon vor ihm von großen Meistern in seiner dramatischen Bedeutung erkannt und für die Bühne bearbeitet wurde, und schrieben es rein ästhetischen Motiven zu, daß Grillparzer über das Fragment nicht hinausgehen wollte, obgleich Racine schon vor nahezu zweihundert Jahren bewiesen hat, daß man bei einigem guten Willen der Handlung einen würdigen, bühnengerechten Abschluß zu geben vermag. Der Tragödie „Jüdin von Toledo“, von welcher damals eine voreilige Fama das Lob im Wege einer Antizipandozahlung ent- lockte, trugen, auch wir, wie fast die gesammte Kritik Wien’s. den Zoll auf bloßen Kredit entgegen – und theilen nun das Schicksal einer unangenehmen Enttäuschung mit allen anderen Gläubigern die einen ähnlichen Vorschuß an Lorbeerblättern im Vorhinein bezahlt haben. „Jüdin von Toledo“ ist ein misratener Schwächling Grillparzer’scher Muse, davon wir nicht weiter zu sprechen hätten. Was läge auch daran, daß unter den vielen holden, kräftigen und gesunden Kindern einer fruchtbaren Mutter das Eine fast bis zur Misgeburt verwachsen ist. Allein hier liegt mehr als momentane Ungunst der Muse vor, hier läßt sich eine gewisse Absichtlichkeit in der Karrikatur nicht verkennen, hier tönt – um es kurz wenn auch etwas derb zu sagen – ein dramatisirter Hep-Hep, ruf entgegen, der uns um so auffälliger ist, als er im schneidenden Kontraste stehet zu jener Gerechtigkeit, die man gerade in des Poeten Seele voraussetzt. Grillparzer hat den Stoff Lope de Vega entnommen, der, man beachte dies wohl, zur Zeit Philipp’s des Zweiten im katholischen Spanien lebte, katholischer Geistlicher und Sekretair der Inquisition war. Und dennoch hat Lope de Vega seine Jüdin edler gehalten, seinen Juden, die er doch kaum anders als aus den Darstellungen der Torquemaden kannte weit menschlicher gezeichnet, als der deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts, der die Kinderpossen, welche den Juden hart neben den Teufel stellen überwunden haben sollte, und der von konffessioneller Exklusivität und Intoleranz niemals auch nur angewehet war. Das ganze Stück zeugt dafür, daß ihm der Dichter keine Liebe zugewendet, daß er in den Stoff sich nicht versenken wollte, und selbst bis in die Diktion der letzten drei Akte hinein spricht sich die Gleichgiltigkeit, die Kälte, ja der Unmut des Autor’s gegen dieses sein Geisteskind aus.

Der Jude Isak ist ein Scheusal, an Häßlichkeit noch den Shylock überbietend, die Jüdin von Toledo eine gemeine Phryne, der Schluß wird durch einen physischen Eckel, der den lüstelnden König beim Anblicke der entstellten Leiche von dem Opfer seiner gemeinen Sinnlichkeit überkommt, vermittelt. Das Ganze ist offenbar unschön um nur nicht gerecht gegen die Juden zu sein. Doch überlassen wir die literarische Kritik den dafür berufenen Organen, und beschäftigen wir uns mit der Frage, woher es denn komme, daß selbst die besten und edelsten Geister den alten Sauerteig angebornen Judenhasses nicht überwinden können? Wie Grillparzer, als Dichter, so hat gerade in jüngster Zeit ein David Strauß sich nicht enthalten können in seinem neuesten Buche „der alte und der neue Glaube“ dem Judenthume einen Fußtritt zu versetzen, oder doch dessen Mission und welthistorisches Verdienst zu schmälern und todtzuschweigen. Von Palaczyk’s wunderlichen Judenkrawalle wollen wir hier absehen, da die Leidenschaft des Parteiführer’s hinreichend das psychische Motiv solcher Hetzereien erklärt – fast entschuldigt.

Wie aber kommen die Helden des Liberalismus dazu, dem Juden die gebürende Würdigung zu verweigern? Allerdings ist es wahr, daß man, um mit Heine zu reden, blos ihre Bärte kennt und die Juden selber zu kennen vermeint. Den Einen stößt die unästhetische Außenseite ab, den Andern die dialektische Spitzfindigkeit, die so viel Geisteskraft um die unwürdigsten Kleinlichkeiten verspritzt. Aber das Grundübel sitzt denn doch darin, daß die Juden selber zu wenig thun, um ihr Sein und Wesen der kultivirten Welt mundgerecht und verständlich zu machen. Die kleinen Zänkereien innerhalb der Synagoge nehmen sich gegenüber den mächtigen welthistorischen Bewegungen der Kirchen wie kindische Marionettenspiele aus, deren Drathpuppen lebende Personen nachäffen. Um was balgt bei uns die Orthodoxie, welche die Rolle des Ultramontanismus spielen, mit der Reform, die eine liberale Opposition vorstellen soll? Dort der Streit um eine Weltherrschaft, hier der Hader um den Lappen einer Mumienbandage. Woher soll da den Fernestehenden das Verständniß für das Judenthum sich erschließen, wenn es unter Juden selber noch so wenig gekannt ist? Es ist notorisch das während des eben niedergehenden Jahres mehr Judentaufen in Wien stattgefunden haben, als in drei Jahren der vormaligen Aera der „blauen Zettel“ und des polizeilichen Judenamtes. Die widerwärtigen Streitigkeiten der hiesigen Preßburger Klique haben eine Religionsmüdigkeit hervorgebracht, die dem Indifferentismus immer weitern Verbreitungsbezirk gestattet, und unter solchen Umständen begehrt man Achtung in fremden Kreisen, wo in dem heimischen Kreise die Selbstaufgebung und Zersetzung um sich greift! Die Leiter der Reformpartei sind in gleicher Weise von einer Thatenblässe angekränkelt, daß sich selbst ein Dr. Geiger in Berlin nicht dazu aufraffen kann, ein gegebenes Wort einzulösen und auf widerholte Ermahnungen die isr. Synode nicht länger durch gewaltsame Unterdrückung ihrer Protokolle in so schmählichem Verdachte ihrer Selbstaufgebung zu erhalten nicht als ein vornehm sein sollendes Schweigen hat, und sich in einer seine Partei und das Publikum beleidigenden Reserve hält. Woher soll denn dann der Adel des Judenthum’s sich den christlichen Kreisen offenbaren? Etwa aus der gedankenlosen Almosenspenderei der Reichen? Aus dem Heroismus der Bankengründer? Da liegt die kostbare Perle inmitten eines Gerümpels kleiner Persönlichkeiten, thatenarmer Sylbenstecher, fanatischer Poltrone, bramarbasirender Grillenfänger, klappernder Geldbarone, und greift dann jemand in diesen Wust hinein – was Wunder, wenn ihm gerade die Perle nicht in die Hand gerät, und er dann einen Milionenprotzen zum Vorscheine bringt, oder – eine Jüdin von Toledo

Zur Biographie: Simon Szántó

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen 18/29 (19.7.1878), 230-232 (1. Teil)

Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen 18/30 (26.7.1878), 238-239 (2. Teil)

Tran-skription

I.

Wie und durch welche Umstände westländische Idiome in dem Munde der Ghettojuden zu einem häßlichen, von jeder Regelung verlassener Jargone corrumpirt wurden, haben wir in einem besonderen Artikel (Siehe Feuilleton der „Neuzeit“ Nr. 29, 30 und 31 vom Jahre 1877) zu erörtern versucht. Unter Allen noch heute lebenden und im Umgange der Juden üblichen europäischen Sprachen ist aber keine so hart von der Corrumpirung heimgesucht worden, als die deutsche, und nirgends war daher die Purification der Verkehrssprache so dringend geboten als unter den Juden, die den germanischen Laut sogar weiter hinaustrugen, als jemals die deutsche Zunge reichte. Der Kernstock dieses Jargons war das Mittelhochdeutsche, das aber mit hebräischen, aramäischen, slavischen, zuletzt auch angelsächsischen und französischen Elementen versetzt ward. Das Judendeutsch beschränkte sich aber nicht darauf, den Lautgehalt des deutschen Wortes zu verunstalten, den Sprachschatz zu verunreinigen, sondern selbst Wortfolge und Satzconstruction mußten sich Verzerrungen gefallen lassen, deren Ursprung zumeist nicht mehr erklärt werden kann, und die noch heute selbst in Kreisen, wo man bereits vor fünfzig Jahren den phonetischen Gesetzen und der Formlehre den schuldigen Gehorsam zu leisten begann, noch nicht geheilt sind. Nun befand sich aber das in deutscher Sprache erscheinende jüdische Schriftthum schon seit der Mendelsohn’schen Zeit auf dem Wege erfreulicher Reconvalescenz und war in den Vierziger Jahren dieses Jahrhunderts schon vollkommen genesen. Wie klassisch deutsch schreiben z. B. Zunz, Geiger, Jost, Philippson Grätz, um nur einige spezifisch-jüdische Schriftsteller zu nennen, wie kernig deutsch schrieb Leopold Löw, Dr. Schwab (als Redakteur der illustr. Judenzeitung in Pest), wie anständig war der deutsche Theil des „Magyar-Zsido Közleny“ (Redaktion Deutsch) geschrieben. Und sieh da! Seit ungefähr einem Dezennium sind die jüdisch-deutschen Schriftsteller, sie mögen in Buch- oder Journalliteratur sich versuchen, so entsetzlich rezidiv geworden, so salop in ihrem Styl, so waghalsig in der Satzconstruction, so schnöde die einfachsten Gesetze der Grammatik und Sprachlogik verhöhnend, daß wir an den Fortschritten der Schulbildung unter den Juden ganz irre werden. Den Gründen dieses auffälligen Rücksprunges ins wildromantische Mittelalter nachzuspüren scheint uns um so eher der Mühe werth, als man die Gefahren, welche die Pflege des Jargon’s für die soziale Stellung der Juden wie für die intellektuelle Bildung des Volkes mit sich führt, vergessen zu haben scheint. Der Jargon ist der tönende gelbe Fleck, der wortgewordene Leibzoll, die in Lauten der Rede auferstandenen Ghettoschranke. Der Jargon kennzeichnet den Juden als Fremdländer und weckt tausend längst entschlummerte Vorurtheile wieder auf. Er wirkt abstoßender als der „Kaftan“ und die Ringellocken des polnischen Juden und erschwert den Anschluß an das allgemeine Kulturleben, legt dem gesellschaftlichen Verkehre mit den übrigen Staatsbürgern mehr Hindernisse in den Weg als die eigenthümliche Maskerade, die sich blos auf Kleidertracht und Frisur bezieht. Aber noch schlimmer als der gesprochene wirkt der geschriebene Jargon, da dieser die Schmach gewissermaßen verewigt und als literaturfähig darstellt. Denn in der lebendigen Rede offenbart sich doch immer nur das Individuum, während das gedruckte Wort als Vertreter der Gesammtheit genommen wird – und zwar mit Recht, da man hinter dem Druckwerke unterstützende Leser und Gönner vermuthet. Im hohen Grade rationell war die Methode, welche die Führer deutscher Juden zur allmäligen Austilgung des Jargons einschlugen. Man verzichtete für den Anfang darauf, die Pronunziation, die Neigung zu Nasal- und Gutturallauten zu heilen, die eigenthümliche Cantilene und Sprechmelodie zu modifiziren und urtheilte ganz richtig, daß durch Schärfung des Gehörsinnes in Folge eines belebteren Verkehres und Nichtjuden diese Fehler der Sprachorgane zum Weichen gebracht würden. Das richtige Sprechen, insoferne es blos physischer Natur ist, sollte als Fertigkeit im Wege einer rein äußerlichen, gewissermaßen gymnastischen Uebung des Kehlkopfes erzielt werden. Das Verständniß für Sprachgesetze aber und die richtige Anwendung der Letzern durften wieder nur von Unterricht und Einwirkung auf die intellectuellen Kräfte erhofft werden. So lernten die deutschen Juden ihre deutsche Muttersprache, als wäre diese eine fremde, mittelst Grammatik und Orthographie gebrauchen und es kam bald dahin, daß man bei uns den Juden weit schneller an der grammatikalischen Correctheit der Sätze und deren gewählteren Ausdrücken als an der vormaligen abenteuerlichen Verrenktheit seiner Rede erkannte. Unterschieden sich die deutschen Juden früher durch ihr fast zigeunerhaftes Rotwälsch, so kennzeichneten sie sich dann durch eine Art von Gespreiztheit und gesuchter Eleganz der Sprache, durch den für den alltäglichen Verkehr beinahe unnatürlichen Gebrauch des gebildeten schriftdeutschen Idioms, das gegen die mundartliche Rede des Volkes etwas seltsam abstach. Der daraus erwachsene Gewinn für die für die intellectuelle Bildung des jüdischen Volkes war ein unberechenbarer. Nicht nur daß ihm die reiche deutsche Literatur zugänglich gemacht wurde, sondern daß die Grammatik und Sprachlogik den Geist der dialektischen Verwilderung entriß, in welche die alte pilpulistische Methode des Talmuds ihn gestürzt, daß der Sinn für Schönheit geweckt und genährt wurde, daß der semitischen Hast und Ueberstürzung durch die Sorgfalt auf das Wort ein Dämpfer aufgesetzt wurde – das waren die unschätzbaren pädagogischen Errungenschaften des wahrhaften Culturkampfes, welcher gegen den Jargon geführt und siegreich ausgefochten wurde. Wie kommt es nun, daß diese Vortheile der Spracheinheit heutzutage von dem jüdisch-deutschen Volksschriftthum verkannt werden und daß so grell wie nie zuvor das längst überwunden geglaubte „Mauscheln“ in Druckwerken der neuen Zeit wieder zur Waltung gelangt?

Die Naturgeschichte dieses urdeutschen jüdisch-deutschen Schriftthums unterscheidet aber sehr deutlich zwei Spezien dieser monstrosen Literaturprodukte, die jedoch das mit einander gemeinsam haben, daß sich schwer bestimmten läßt, ob es den Herren Autoren an der Fähigkeit oder an dem guten Willen fehle, correct zu schreiben. Der Provenienz der Autoren nach, die aber ein ganz äußerliches Moment abgibt, nach welchem sich nicht einmal die Verbreitungsbezirkee geographisch abgränzen lassen, könnte man ein polnisches, ungarisches und deutsches Judendeutsch unterscheiden, womit nicht gesagt sein soll, daß nicht auch polnische Juden grammatikalisch richtig, und nicht auch deutsche Juden ein polnisches Deutsch schreiben. Einen andern Eintheilungsgrund gibt die typographische Erscheinung ab, je nachdem deutsche Wörter durch jüdische Lettern ausdrückt werden, oder deutsche Lettern dem jüdischen Jargone zur Vervielfältigung dienen, und mittelst dieser Klassifizirung dürften wir den Ursachen dieses Rückschrittes etwas näher kommen. Die Transkription fremdsprachlicher Texte in die heimischen und daher landläufigen Schriftarten kommt bei allen Völkern vor, und ward erst in neuester Zeit wieder von gewiegten Philologen auch für das Sanscrit und andere orientalische Sprachen zu Gunsten der Anfänger auf dem Gebiete dieser Sprachstudien empfohlen. Die Juden hatten nach dem Zeugnisse des Talmud’s die sogenannte assyrische, heute Quadratschrift genannt, sogar für den Bibeltext adoptirt und althebräische Schrift außer Gebrauch gesetzt. Als das Hebräische aufhörte, Umgangssprache zu sein und für sie das Chaldäische eintrat, wurden die aramäischen Uebersetzungen der Bibel ebenfalls in Quadratschrift ausgedrückt. Viele Gelehrte der spanisch-maurischen Periode, die ihre Werke in arabischer Sprache verfaßten, bedienten sich hierzu hebräischer Lettern, ebenso schrieb Raschi französisch in jüdischer Cursivschrift, die nach ihm den Namen führt. Es war daher natürlich, daß auch die deutschen Juden Bibelübersetzungen, Volksschriften, Postillen und Andachtsschriften für die Frauen in deutscher Sprache abfaßten, aber in jüdischen Lettern niederschrieben und zu diesem Behufe eine ganz eigenthümliche jüdisch-deutsche Orthographie erfanden, die genau das Gegentheil einer Orthographie ist. Als Mendelssohn an die Reform der jüdischen Bildungsanstalten gieng, mußte er sich auch noch der jüdischen Lettern für seine deutsche Bibelübersetzung bedienen und seinem Beispiele folgten die „Sammler“, die Berliner Culturfreunde, die Vertreter der Aufklärung noch lange Zeit nach ihm. Auch Mendelssohn und seine Jünger stiegen zum Volke hinunter, aber nicht um dort zu verweilen, sondern um das Volk zu sich emporzuheben, sie wollten dem Volke das correcte Deutsch durch die jüdischen Lettern zugänglich machen, ihm das Verständniß dafür erschließen, nicht aber mir den Jüdelnden jüdeln, und sie in der Heiligung des Gemauschels bestärken. Durch die Mendelsohn’sche Bibelübersetzung befreundete sich das jüdische Volke mit einer gebildeten Sprache und lernte die Ungezogenheiten der mündlichen Rede überwinden. Denn das Judendeutsch – darüber darf man sich nicht täuschen – ist kein naturwüchsiger Dialekt, keine volksthümliche Mundart, die eine Existenzberechtigung in der Literatur hätte, sondern eine Ungezogenheit, eine Barbarei, die wie böses Unkraut ausgerauft werden muß. Oder was ist Volksthümliches, was Verständlicheres darin, wenn man in jüdisch-deutschen Lettern erzählt: „Diese nicht scheene Tat hat zwischen den Judenthum Aufsehen gemacht, und er hat an dem Kaiser geschriben.“ „In die Zukunft werden wir sich bestreben.“ „Die Lage der geflüchteten Juden, welche verwoogelt sind“ und dgl., wie man es in einer zu Lemberg erscheinenden jüdisch-deutschen Zeitung, die aber auch in Wien und Pest ihrer würdige Colleginnen hat, in jeder Zeile findet. Hat Mendelssohn, haben die Measphim sich je dazu hergegeben, in dieser Weise Popularität zu gewinnen? Und wären die deutschen Juden jemals der Versumpfung entronnen, hätte man ihren maulfaulen Dialekt noch in Schriftwerken gepflegt? Wir glauben überhaupt nicht daran, daß der polnische Jude, der schon eine Zeitung liest, noch auf so niederer Culturstufe steht, den Jargon einer correcten deutschen Rede vorzuziehen, und daß es nötig sei, seine Begierde nach Neuigkeiten durch jüdisch-deutsch geschriebene Journale zu befriedigen. Der polnische Jude liest entweder nur hebräisch oder auch ein regelrechtes Deutsch in deutscher Schrift. Wir glauben vielmehr, daß die Herausgeber jüdisch-deutscher Zeitungen hinter den fremden Typen ihre eigene Unkenntniß der Grammatik und Orthographie verbergen und den Schwindel, als ob sie öffentliche Meinung unter dem gemeinen Volke in Galizien machen könnten, maskiren wollen. Uns will’s bedünken, daß wir einem ganz gemeinen Schacher gegenüberstehen, der tief unter jeder literarischen Würdigung liegt, und daß diese sogenannten gemeinverständlichen Blätter gar arge, gemeinschädliche, die Volksbildung vergiftende Pilze des für unser Jahrhundert schmachvollen Schriftthumes sind. Was sollen diese häßlichen Sprachschnörkel? Wozu dienen uns solche Schriftsudler? Man schreibe entweder deutsch in deutscher oder hebräisch in hebräischer Schrift, und suche das Volk der Verwilderung zu entreißen, nicht darin zu bestärken.

Wir kommen nun zu der von uns als „ungarisch“ bezeichneten Judendeutsch-Literatur, verwahren uns jedoch nochmals ausdrücklich gegen die Unterstellung, als ob wir mit diesem der Geographie entnommenen Epitheton etwas anderes beabsichtigen, als einen bequemen Technicismus für ein gewisses Genre des deutschen Styles zu gewinnen. Wir haben weder ein bestimmtes, in Ungarn erscheinendes deutsches Journal für jüdische Interessen im Auge, noch wollten wir behaupten, daß die hier näher zu bezeichnende Art, deutsch zu schreiben, ausschließlich unter ungarischen Juden vorkommt. Wir nennen das in Rede stehende Jüdisch-deutsch nur deshalb ungarisch, weil sein Vorkommen unter ungarischen Juden begreiflich und daher verzeihlich ist.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 30 vom 26.07.1878, S. 238ff

II.

Das ungarische Judendeutsch, das eigenthümlich und jedenfalls und seinem polnischen Vetter verschieden ausgeprägt ist, hat für seine Existenz die naheliegende Entschuldigung, daß fortschreitende Magyarisirung der Juden das vormals bestandene deutsche Sprachbewußtsein in ihnen getrübt habe. In der That ist das ungarische Judendeutsch, der jüngste Sprößling des Ghettoidiomes, beinahe erst mit dem Dualismus, welcher der magyarischen Sprache die Präponderanz verliehen hat, emporgekommen, und selbst jenen jüdischen Schriftstellern in Ungarn fremd, deren literarische Carrière in die vordualistische Zeit zurückreicht. Es läßt sich nicht behaupten, daß der unmögliche deutsche Styl in Ungarn aus der Popularitätshascherei oder aus unlauteren, bloß geschäftlichen Tendenzen, wie dieß in Polen der Fall ist, hervorgewachsen wäre. Vielmehr hat die eifrige Betreibung des Magyarischen das Verständniß für den deutschen Sprachgeist in der jüngern Schriftstellergeneration beinahe ausgetilgt, und weit entfernt davon, daß nach dem Spruche des alten griechischen Weisen jeder, „der zweier Sprachen mächtig, auch zweier Seelen Besitzer wäre,“ hat die gewaltsame Magyarisirung und der Zungenzwang in Transleithanien bei dem Umstande, als die Juden auch noch von dem Hebräismus afficirt werden, das Aufkommen jeder Sprachlogik unmöglich gemacht. Die Vergewaltigung aller fremden Idiome in Ungarn darf nämlich durchaus nicht mit analogen Versuchen, einen Sprachenzwang auszuüben, verglichen werden. Wenn Rußland es unternimmt, dem einen slavischen Dialekt die Alleinherrschaft zu vindiziren, wenn Preußen neu erworbene polnische Länder gewaltsam germanisirte, so hatte jenes in der innigen Verwandtschaft der mundartlichen Zweige eines und desselben Sprachstammes den archimedischen Punkt gefunden, seinen Hebel anzusetzen, dieses in der Jahrhunderte hindurch emporgekommenen und in natürlicher Entwickelung herangewachsenen deutschen Cultur das Mittel, Ersatz für die Unterdrückung des heimatlichen Lautes zu bieten, gewonnen. Man lernte schließlich auch in Posen sehr gerne die Sprache der Regierung sprechen, welche einen weiten Verbreitungsbezirk beherrschte und den internationalen Verkehr über Länder und Meere hinaus vermittelte. Hiezu trat noch das instinktive Gefühl, welches durch spätere Sprachforschungen zu einem klaren Bewußtsein erhoben wurde, daß sämmtliche europäische Idiome zu der großen indogermanischen Sprachenfamilie gehören, und daß die wechselseitige Bereicherung der Sprachschätze durch Aufnahme von einzelnen Ausdrücken denn doch nicht eine zu weit getriebene Gastfreundschaft gegen Fremdwörter sei. Gewisse Technizismen, dem Lateinischen oder Griechischen entnommen, wie Constitution, Apotheke, Telegraphie wurden Gemeingut aller Culturländer, und es ist noch keinem deutschen Pharmazeuten eingefallen, „Arzeneienverkauf“, keinem deutschen Telegraphenamte in den Sinn gekommen, „Schnellschreiberei“ auf ihre respectiven Aushängsschilder zu schreiben. Ganz anders in Ungarn. Mit einer Anmaßung, die zu dem unendlich kleinen Verbreitungsbezirke der magyarischen Sprache und zu deren Isolirtheit inmitten der europäischen Sprachenfamilie in einem höchst possirlichen Verhältnisse stehet, hat man sich dort aus dem internationalen Verkehre selber hinausgeworfen, die gebräuchlichsten und aller Welt verständlichen Techniszismen verbannt und sie durch erkünstelte magyarische Kunstwörter ersetzt, sich dadurch mit einer sprachlichen chinesischen Mauer umgeben, die, wenn das so fortgehet, schließlich jeden Conzert der congenialen Geister unmöglich machen wird. Was nun die Juden Ungarn’s betrifft, so sind ihr Bildungstrieb und der angeborne weite Ausblick in die gesammte Culturarbeit der Zeit mächtig genug, daß sie ungeachtet ihres glühenden Patriotismus und ihrer bedingungslosen Hingebung an das magyarische Vaterland denn doch der Richtung, die deutscher Geist ihrem ganzen Seelenleben verliehen hat, nicht entsagen können. Der ungarische Jude kann sich ebensowenig als der gebildete magyarische Christ der Wahrnehmung verschließen, daß diese gekünstelte und outrirte Sprachisolirung unnatürliche Affectation sei, die nicht für die Dauer vorhalten könne. Die deutsche Sprache ist daher weder aus der Synagoge, noch aus der jüdischen Schule, noch aus dem jüdischen Schriftthume in Ungarn zu verdrängen, und wenn das ungarische Landes-Rabbinerseminar, das Pester Taubstummeninstitut sich einer weitgehenden Magyaromanie befleißigen, als gäbe es wirklich außerhalb des ungarischen Globus gar kein Leben mehr (extra Hungariam non est vita), so wirkt doch in allen Geistern ganz stille eine reservatio mentalis, die man sich freilich nicht laut eingestehen will, daß die große Weltgeschichte noch andere Schauplätze ihrer Thätigkeit habe. Wir aber halten eine nähere Charakteristik des jüdischdeutschen Styles der seit jüngster Zeit in Ungarn erscheinenden Schriftwerke um so überflüssiger, als wir diesen auch in Rücksicht ihres Inhaltes keine literarische Bedeutung zuerkennen dürfen. In der Regel schreibt auch derjenige ungarisch-jüdische Schriftsteller, der einen ersprießlichen Gedanken vorzutragen hat, ein tadelloses Deutsch und den kleinen Kläffern, die an Gedankenarmuth laboriren, verzeihet man sehr gerne ihr schäbiges Sprachgewand, das eben nur die herkömmliche Tracht des literarischen – Proletariers ist. Spricht ja allerwärts so weit der Kampf um das Dasein reicht, manche problematische Existenz ihr: „Ich muß leben“, von der man mit Voltaire sagen möchte: „Je n’en vois pas la necessité“ – (Ich sehe die Nothwendigkeit dessen nicht ein.)

Haben aber polnisches und ungarisches Judendeutsch noch wenigstens eine scheinbare Entschuldigung für ihr Dasein, so verdient die in Deutschland selbst erscheinende Judendeutschliteratur nachsichtslose Züchtigung, um so mehr, als sie nicht in der Unfähigkeit der Skribenten und noch weniger in der Vorliebe des Lesepublikum’s für sprachliche Mißgestalten ihren Grand hat, sondern aus der unsittlichen Tendenz, im Wege der Heuchelei und Augendreherei das Pietätsgefühl der Conservativen auszubeuten, ihren Ursprung nahm. Das moderne deutsche Judendeutsch ist ausschließlich im neuorthodoxen Schriftthume zu finden, und hat auch mit diesem eine gemeinsame Wurzel. Als Samson Raphael Hirsch vor vierzig Jahren mit seinen Briefen Ben Usiels und dem hirnverbrannten „Choreb“ in die Oeffentlichkeit hinauspolterte, als er es für eine Sünde gegen seinen heiligen Geist erklärte, hebräische Wörter anders als nach der bei deutschen Juden üblichen Aussprache zu transkribiren, als er zum ersten Male „Jisroel“ statt Israel und „Mausche“ statt Mose in deutschen Lettern drucken ließ, da war dem für immer entschlafen geglaubten Jargone die Posaune der Auferstehung erschollen. Hirsch’s „Mausche“ ward dem Gemauschel zum Signal der Wiedergeburt. Hirsch hat für die Verewigung des Mißbrauches den Hegel’schen Satz vindizirt: „Was wirklich ist, das ist auch vernünftig,“ da aber zuletzt auch die Unvernunft wirklich ist, so mußte sein Bestreben dahin gehen, eine Vernunft hineinzulügen, was er zuerst unbewußt, später aber mit trotziger Absicht und bewußter Tendenz vollzog. Ein Mann, der in der Fertigkeit zu sinnbildern es so weit gebracht hatte, in dem Mischnaabschnitte „Bame-Madlikin“ ein Symbol der geistigen Erleuchtung zu erkennen, hatte keine besondere Mühe aufzuwenden, um die Sprachverrenkungen des Ghetto’s als nothwendige Emanationen der höchsten Ideen des Judenthums darzustellen. Blind wie die Schafheerde dem Leithammel folgte, anfänglich gutmüthiges, religionsbedürftiges, später bösartiges, scheinheiliges und mit Religiosität schacherndes Gewimmel, das in Reaction machte, ihm nach, und es kroch ein deutsches Schrifthum aus, das auf die Volksbildung nur schädlich einwirken muß. Dieses deutschländische Judendeutsch unterscheidet sich von dem polnischen und ungarischen Bruderjargonen dadurch, daß es von dem Sprachverderbniß weniger directen Gebrauch macht, als mit demselben liebäugelt und mit hebräischen Brocken, die es in augendreherischer Weise unterlaufen läßt, gerne coquettirt. Da stößt man auf manchen Passus, der an die alten jüdisch-deutschen Uebersetzungen der Bibel, nach Muster der berüchtigten „Und Essaw ist mewase gewesen die Bechora“ (Und Esau verschmähte die Erstgeburt) erinnert. Da wird keines verstorbenen Gesinnungsgenossen erwähnt, ohne ein Secher zaddik lib’racha keines lebenden Meinungsbruders ohne ein haschen jaarich jamaw in Form eines Stoßseufzers als neuorthodoxe Stempelmarke beizusetzen In einem dieser „gottesfürchtigen Journale“ lasen wir jüngst den Satz: „Der Kaiser (Wilhelm) jarum hodo erholt sich th’hilla laël wieder und unsere inbrünstigen Thephilloth haben Erhörung gefunden.“ – Die Lorbeeren diese ultramontanen Neuorthodoxie rauben natürlich auch dem halbgefärbten, wissenschaftlich aufgesteiften Halborthodoxismus der deutschen Mittelpartei den Schlaf und auch die Journale dieser Partei parfümiren ihre ketzerischen Freiheiten mit schaletduftenden Jargonismen, um den dafür empfänglichen Gemüthern zu schmeicheln. So wird auf der ganzen Linie der reformfeindlichen Literatur gerotwälscht, und die gute deutsche Sprache in usum delphini castrirt. Was aber soll mit einem Volksschriftthum, das unter das Niveau der Volksbildung gesunken ist, das sich der ganzen jüngern Generation unverständlich macht, erzielt werden? Theilet mit diesen Sprachcarricaturen Paradiese von theologischen Gedanken aus, und Ihr werdet keine Käufer finden. Aber freilich! Auch diesen Leuten ist’s ja nur um den momentanen Verschleiß zu thun, nicht um die Ausübung des schriftstellerischen Berufes, der ein dauerhaftes Wirken, dessen Spuren noch in Jahrzehnten kennbar sein soll, anstrebt. Ihnen genügt es, abonnirt zu werden, ob auch gelesen und von den Lesern gewürdigt, liegt außerhalb ihres Krämergeschäftes. Der Schade aber, den sich anrichten, bestehet darin, daß sie eine Aversion gegen jede Lectüre, die jüdisches Interesse betrifft, erzeugen, und mit sich die gesammte jüdisch-deutsche Literatur in Mißkredit bringen.