Zur Biographie: Schalom Asch

In: Menorah, H. 9 (1927), S. 511-516.

 

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Zur Biographie: Schalom Asch

In: Selbstwehr, 11. Jahrgang, Ausgabe 17 vom 27.04.1917, S. 2f & Ausgabe 18 vom 04.05.1917, S. 2f

 

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Ausgabe 17 vom 27.04.1917, S. 2f

Durch den halbzerrissenen blauen Vorhang fallen Streifen Lichts auf das breite Bett, das das ganze kleine Stübchen ausfüllt. Das Licht fällt auf Leibels bleiches Gesicht, das ganz vergraben ist in Decken und Kissen; der Mund ist halb geöffnet, und die zwei Vorderzähne aus dem leeren Kiefer herausragend wie zerbrochene Scheiben aus einem Fenster. Und Leibels Augen sind zugedrückt, zwinkern, und sein Gesicht lächelt: Leibel träumt, er wäre in der alten Heimat.

Er wäre in der alten Heimat, und er wäre noch Leibel. Er geht durch eine Gasse daheim im Städtchen, die Juden winken ihm zu von der Schwelle ihrer Gewölbe, und er dankt nicht und geht weiter, und auf einmal trägt er eine Medaille an der Brust, auf einmal ist er Oberaufseher geworden. Nein, er ist Mosche, der Fuhrmann, geworden und er ist Aufseher über Achlofs Werkstätte, und er ordnet an, den einen auf 24 Stunden einzusperren, und einen anderen läßt er auf 8 Tage einsperren bei Wasser und Brot, und plötzlich geht er auf Leibel zu, der mit dem Bruder Henoch in einem Winkel sitzt und Hemden näht, und Leibel sieht, wie Leibel auf ihn zukommt und fängt an, rascher zu nähen, beugt den Kopf tief über das Hemd und näht und näht. Doch Leibel ist böse und schwingt seinen Stock – was tust du da, Leibel? Was stehst du? Was sitzt du? Wie heißt du? – – und Leibel ist erschrocken und kann nicht antworten, und Leibel befiehlt, man solle Leibel auf 24 Stunden einsperren bei Wasser und Brot. Leibel will sagen, daß er Leibel ist – und kann nicht reden. Und Leibel wundert sich, wie Leibel Leibel einsperren lassen kann. – „Leibel, Leibel, es hat schon 7 Uhr geschlagen“, weckt ihn jemand. „Leibel, du hörst nicht – Leibel!“ Leibel reißt die Augen auf und blickt sich verwundert um, wo er sich befinde, und er hört Chasches Stimme aus der anderen Stube.

„Nun, Leibel, willst du vielleicht, daß Moschele Fuhrmann dir wieder vom Lohn abzieht, willst du dich schon wieder verspäten?“

Die Mutter aber, die sich an den strengen Ton gegen Leibel immer noch nicht gewöhnen kann, weil seine Augen sie noch immer zu sehr an bessere Zeiten erinnern, steckt den Kopf durch den Vorhang, der die Küche vom Zimmer abschließt: „Leibel, es ist doch schon so spät, du wirst doch dann Verdruß haben.“

Und Leibel kommt es wieder zum Bewußtsein, daß es schon drei Jahre her ist, daß er aufgehört hat, Leibel zu sein und Zuschneider in Achlofs Werkstätte geworden ist. Schon drei Jahre, daß er sitzt und Hemden näht. Leibel näht Hemden. Er hatte gemeint, er werde nur ein paar Wochen nähen müssen, bis er im Lande ein bißchen bekannt geworden sein würde, in der Gasse, mit den Menschen; danach würde er sich schon heraushelfen, er würde es schon zu etwas bringen, er würde schon etwas werden, ein Handelsmann, und vielleicht selbst einmal so etwas wie ein Fabrikant, und so immer weiter. Was, er, Leibel, sollte sein Leben verbringen in Achlofs Werkstätte? – Aber Leibel hat sich nach und nach an die Werkstätte gewöhnen müssen, der Ehrgeiz hat nur noch geträumt, phantasiert – und Leibel hat schließlich Erbarmen gefühlt mit Weib und Mutter, die er allein in der Heimat gelassen hatte, Leibel hat die Familie herübergenommen, und Leibel näht noch immer Hemden und träumt bei Nacht von dem alten Leibel.

Aber der Traum ist bald ausgeträumt, denn Leibel sieht, daß der Tag schon dämmert. „O weh, so spät ist es schon,“ ruft Leibel aus und gießt flink Wasser über sein Gesicht, zieht sich an, hat keine Zeit mehr zu beten, die Frau läßt ihn kaum essen, die Mutter hat Mitleid: „Laß ihn das bissel Kaffee austrinken, er hat dann mehr Kraft zu arbeiten.“ Leibel ein Arbeiter, du lieber Gott!

„Schwiegermutter, es ist ihm niemand daran schuld, er hat sich das alles allein eingebrockt, alles allein,“ antwortet die Frau.

„Natürlich, der Tunichtgut, der gottverlassene Tunichtgut. Hätte man den Tunichtgut nicht in die Stube hereingestellt, wäre er doch zu gar nichts gekommen.“

„Schon wieder mit dem „Tunichtgut,“ schon wieder. Ich habs schon gehört – was willst du? Du hast dich über nichts zu beklagen, dächte ich, also was willst du?“

Die Mutter sieht Leibels flammende Augen und aus Gewohnheit erschrickt sie und möchte die Worte gern ungesagt machen; aber die Schwiegertochter kommt ihr zu Hilfe:

„Ganz recht, Schwiegermutter, ihr mögt ihn ruhig Tunichtgut nennen. Ihr braucht keine Angst zu haben. Aus ists mit dem Telephon, aus mit Leibele. – Leibel ist jetzt ein gewöhnlicher Arbeiter in Achlofs Werkstätte und Mosche Fuhrmann ist ein Herr, – da ist nichts weiter zu erschrecken.“

Leibel fühlt sich der Mutter gegenüber noch stark genug, aber gegen die Frau hat er hier in Amerika seine ganze Ueberlegenheit eingebüßt. Teils fühlt er sich schuldig ihr gegenüber, weil er sie um ihr Geld gebracht hat, und teils ist es noch etwas anderes. Seine Chasche ist herübergekommen nach Amerika und hat gesehen und gehört, wie ihre Nachbarin, eine fette, rumänische Jüdin, ihren Mann behandelt, wie alle Weiber in Amerika ihre Männer behandeln und sie hat bald gelernt, daß in Amerika »ladies first« sind und Leibel hat sein ganzes Ansehen bei ihr verloren. Leibel hat nicht mehr kommandiert, man hat ihn kommandiert und nicht Chasche mehr, sondern Leibel mußte nun wissen, wohin Chasche etwas abgeräumt hatte. „Leibel, wo steht der Besen?“ Leibel mußte Chasche Rechnung ablegen über jeden Groschen, den er ausgab, Leibel wußte selbst nicht, wie es gekommen war: auf einmal hatte er aufgehört, Leibel zu sein und Chasche war Leibel geworden. Und sowie Leibel einmal zu herrschen verstanden hatte, so hatte er nun bald gelernt, beherrscht zu werden – er traute sich kaum mehr, den Mund aufzumachen.

Er nimmt sein Butterbrot und seine Tasche, ruft ihnen ein Wort zu und geht.

 

Ausgabe 18 vom 04.05.1917, S. 2f

(Schluß folgt.)

 

(Schluß.)
Seit Leibel in Amerika ist und bei Achlof Hemden näht, hat er angefangen, nachzudenken. Er hat schon zuhause Neigung zum Nachdenken gehabt, aber hier in Amerika, wenn er den ganzen Tag bei der Maschine sitzt und Hemden näht, hat er Zeit, nachzusinnen und sein ganzes Leben zu überdenken. Er sitzt den ganzen Tag und denkt: eben noch Leibel gewesen, denkt er – und schon vorbei. Und warum ist es so? – sinnt und sinnt er und kommt zu keinem Ende. In Achlofs Werkstätte läßt es sich gut nachdenken, denn dort gibt es genug Material, nicht nur die Hände zu beschäftigen, sondern auch den Geist. In Achlofs Werkstätte hat sich ganz Kruschnewitz zusammengefunden. Immer wieder taucht ein neuer Hausvater aus Kruschnewitz dort auf, der zuhause Kaufmann gewesen war, Geschäftsmann, ein reicher Mann, ein Vorsteher, ein angesehener Mensch. Einer nach dem anderen sind sie hereingekommen in Achlofs Werkstätte, wie aufgestörte Geister, und haben Hemden genäht. Die ganze Misrach-Wand aus der Kruschnewitzer Schul hat sich schon in Achlofs Werkstätte zusammengefunden. Leibel schaut sich um: ihm gegenüber sitzt sein Nachbar, der Uhrmacher Weinstein, um dessentwillen das ganze Unglück geschehen ist – nun sitzen beide Nachbarn da und nähen Hemden. Ein bißchen weiter der Lederhändler, bei welchem er 1000 Rubel stehen gehabt hatte; Reb Jechiel, der Vorsteher, und Mosche Aron, der Zigarrenmacher, der Politiker des Städtchens. Alle sind sie da, und Aufseher über sie ist Mosche, der Fuhrmann. Dieselbe Hand, die in der Heimat die Pferde angetrieben hat, dieselbe Hand treibt jetzt die Hausväter von Kruschnewitz in Amerika an die Arbeit. Und so wie die Toten, die auf dem Friedhofe liegen, nichts anderes zu tun haben, als ihr früheres Leben zu überdenken, so denkt Kruschnewitz in der Werkstätte von Achlof an das vergangene Leben in Kruschnewitz zurück. An jeden elenden Stein am Kruschnewitzer Markte erinnert man sich da, jede Begebenheit aus vergangenen Zeiten wird durchgesprochen und hat man nichts Neues, erinnert man sich an Altes.

„Denkst du noch, Leibel, wie du mich einmal, als ich so dahinschlenderte, zu dir gerufen und mich gefragt hast, warum ich mich auf dem Markt herumtreibe? Als ob ich bei dir in Arbeit gewesen wäre?“ fragt Mordechai, der Schuster, welcher auch schon in Achlofs Werkstätte sitzt.

„Denkst du noch, Leibel, wie du mich einmal mit meiner Frau und dem Kinde vor der Tür meines Hauses sitzend angetroffen hast, und für nichts und wieder nichts bist du auf mich zugekommen und hast mich gefragt, ob ich dir die 1000 Rubel, die ich dir schuldig bin, vorbereitet habe, trotzdem ich dir Zinsen gezahlt habe und du das Geld nicht gebraucht hast, nur so, es hat dir nicht gepaßt, daß mein Kind ein Ei gegessen hat; siehst du, deinetwegen sitze ich heute in Amerika und nähe Hemden bei Achlof, denn hättest du mir dann nicht das Haus mit dem Ledergeschäft verkauft, so wäre ich noch bis zum heutigen Tage ein Kaufmann“ – sagt der Lederhändler.

Und Leibel erinnert sich an alles. Er weiß auch, daß es so gewesen ist und kann nicht verstehen, warum es so gewesen ist; so schlecht ist er gewesen. Wie hat er, Leibel, so schlecht sein können und warum hat er damals nicht gewußt, was er heute weiß?

Seit der Uhrmacher Weinstein herübergekommen und auch in Achlofs Werkstätte hereingeraten ist, haben sich die Landsleute bemüht, zwischen ihnen Frieden zu stiften. Aber bis jetzt ist ihnen dies nicht gelungen. Wie hat man sie nicht in der Versammlung der Kruschnewitzer Männer am Jom Kippur bearbeitet, sie sollen sich versöhnen. Es hat nichts geholfen. Der Uhrmacher Weinstein, der ein Starrkopf ist, hat geschrieen: ich soll mich versöhnen mit dem Kerl, der mich um mein Erbe gebracht und mich und meinen Sohn unglücklich gemacht hat? – Und Leibel hat geschrieen: Seinetwegen habe ich doch mein ganzes Vermögen verloren. Er hat mich angezeigt, und seinetwegen habe ich nach Amerika müssen.

Nur Moschele, der Fuhrmann, macht Frieden zwischen den beiden. Wenn sich die Landsleute zuviel von daheim unterhalten, kommt Moschele herein und schlägt mit der Hand auf: „Was Kruschnewitz, hier ist kein Kruschnewitz; werdet ihr arbeiten, so ists „allright“, wenn nicht, nehmt die Beine in die Hand und schaut, daß ihr herauskommt“, und er nähert sich Leibel, und wirft einen Blick auf den Stoß Hemden, der neben ihm liegt. „Das ist alles, was du heute gemacht hast? Was meinst du da, bist du Leibel? Da ist nicht Kruschnewitz.“ Und er zieht ihm von seinem Taglohn ab, und das gleiche Stückel spielt er dem Uhrmacher. So büßen sie beide.

Die Landsleute haben dem Fuhrmann einen Namen gegeben: „Leibel“. Und wenn Mosche, der Fuhrmann, seine Stimme erhebt und schreit: „Was Kruschnewitz! Vorwärts, vorwärts!“, sagen die Landsleute: „Leibel leibelt schon“.

Leibel hört das und erinnert sich an den Traum, den er gehabt hat, wie Leibel zu Leibel gekommen ist und Leibel Leibel gejagt und kommandiert hat, und er fängt an, den Traum zu verstehn. Und oftmals, wenn Leibel so bei der Arbeit sitzt und an die alte Heimat denkt, was er in der alten Heimat gewesen und was nun aus ihm geworden ist, ruft er den Bruder Henoch, mit dem er schon daheim gern philosophiert hat:

„Weißt du, Henoch, mir kommt es vor, als sei ich gestorben und wieder von neuem geboren worden. Das Leben dort in Kruschnewitz war das Leben eines andern Leibel, und jener Leibel ist gestorben und nun bin ich wieder geboren worden und bin ein Schneider, Arbeiter bei Achlof; ich bin nur falsch geboren worden. Und ihr alle hier, ganz Kruschnewitz ist gestorben und wieder geboren worden in Amerika als Schneider in Achlofs Werkstätte und Mosche, der Fuhrmann, treibt sie an.“

„Nein, Leibel, du bist nicht gestorben“, widerspricht der Bruder mit philosophischer Ueberlegung. „Und ich bin nicht gestorben, und ganz Kruschnewitz ist nicht gestorben. Der Leibel hat sich nur verändert. Dort in der Heimat warst du Leibel und hier ist Mosche Leibel. Was ist der Unterschied? Dort war es schlecht und hier ist es schlecht. Wo „Leibel“ ist, da ist es nicht gut.“

„Wird denn Leibel niemals sterben? ich bin doch schon gestorben.“

„Du ja, aber Leibel nicht; Leibel lebt ewig. In jedem Geschlecht, in jedem Leben lebt Leibel. Weil Leibel in uns lebt. In einem jeden von uns gibt es ein Stück Leibel, er wird stark nud [sic.] sättigt sich von unserem Blut. Und meinst du, bei dir, Leibel, ist Leibel schon tot?“ – fährt der Bruder fort. „Warte nur ein bißchen. Jetzt bist du geschlagen und gedrückt. Aber stehe du nur ein bißchen fester auf den Füßen hier in Amerika, laß es dir nur ein bißchen besser gehen; wenn du Mosche zu befehlen haben wirst und nicht Mosche dir, dann wirst du sehen, wie der alte „Leibel“ auf einmal wieder zum Vorschein kommen wird und mit noch größerer Stärke, noch größerer Frechheit, sodaß dich alle fürchten werden.“

Leibel denkt nach und schweigt, weil er einsieht, daß der Bruder die Wahrheit gesprochen hat.

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 9 vom 27.02.1925, S. 2f

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Sokolow, der soeben seine Reise beendet, die nach den Triumphzügen Ussischkins und Weizmanns als die dritte Heerschau der letzten Monate über das aktionsbereite Judentum Europas gelten kann, – Sokolow schrieb eine Novelle „Der neue Jude“, die der Wiener Renaissanceverlag jetzt als Büchlein erscheinen läßt. Sie enthält den Werdegang eines Bochers, der tiefreligiös und von genialer Begabung, von allen Formeln politischer und ethischer Gegenwartsfragen unangefochten, zur Erkenntnis gelangt, daß „Jude sein“ wahre Religion wie wahre Volksarbeit in sich schließt und sein Leben als „persönlicher Zionist“ in Palästina aufbaut. Diese kleine Novelle enthält im Kerne all das, was Stärke und Schwäche der gegenwärtigen jüdischen Erzählung ausmacht, die seit der Umwandlung und Verkörperung des jüdischen Volksgedankens nur noch einen Gedanken hat: Das Leben des Juden, wie es ist, wie es war, sein sollte, sein wird. Die Sorge, die sich in diesen ständig variierten Themen äußert, ist recht sonderbar: einerseits erscheint sie geradezu wissenschaftlich bemüht, das Heute für die Kultushistorie des späteren. besseren Volkes aufbewahren zu wollen, andererseits ist sie oft tendenziös, eine Erweckungs- und Einkehrlektüre, die von rechtswegen durch eine Mission herausgegeben werden müßte.

Es ist das kein künstlerischer Fehler, aber ein besinnlicher. Die Literatur darf Prophet und Tyrtaeus sein, es ist ihre Pflicht, den Gefühlen der Gesamtheit einen höheren Ausdruck zu geben, sofern dieser ein persönlicher ist (nur dann ist er ein höherer). Und sie darf und muß nur das schildern, was sie sieht. Aber das Sonderbare ist, daß diese Literatur eben nur den Juden sieht, immer wieder ihn, die Anderen nur als seine äußeren Bedingtheiten, ohne daß sie ihr ein eigenes Interesse erwecken könnten. Das ist die Weiterentwicklung unseres Intellekts: beim ersten Auszug nahm man die Schätze der andern mit, so viel man von ihnen erraffen konnte. Beim zweiten Auszug trennte man sich von ihnen durch eine sorgfältige Zwischenschicht. „Rückkehr ins Judentum?“ Rückassimilierung an einen Begriff, der uns ebenso fremd ist, wie es uns der der Wüste war, an den wir uns zuerst assimilierten. Rückassimilation an sich selbst und als vorsichtige Zwischenschicht zwischen dem Gestern, das der Jude unter Fremden erlebte, und dem Morgen, das er unter Juden erleben soll, wird das Heute als eine Isolation, wo er sich beschauend mit sich allein ist, eingeschaltet. (Dieser Einstellung ermangelt nur jene Literatur, der die Vorbedingung der Assimilation des Gestern fehlt, die eine jüdische Vergangenheit hat: die der Ostjuden. Aber von der ist hier nicht die Rede.)

Wenn der Jude (des Westens) sich als Jude fühlen werde, so müßte er nicht eben an dem heutigen Zeitpunkte sich selbst erforschen, abschildern und moralisieren. Das Gegenteil wäre der Fall, ein letztes dankbares und inniges Beschäftigen mit den Anderen, denen er, ob räumlich oder geistig, morgen schon entfremdet sein wird. Ein letztes Zusammenfassen, Erfassen der Güter, mit denen er zum letzten Male so vertraut ist, so wie man aus einer schönen fremden Landschaft sich Andenken mit nach Hause nimmt. Aber der Jude ist seiner selbst nicht sicher. Solch letzte Steigerung dessen, was er bisher genoß, wäre eine Gefahr, sich aufs neue zu verlieren. Und dann ist das Eigene noch gar nicht erfaßt. Dieses Heute ist der Augenblick, wo das Fremde schon losgelassen, das Eigene noch nicht ergriffen wird. Und so faßt er mit beiden Händen danach.

Die Gegenwart des Juden wird mit einer fast feindseligen Objektivität in Lacretelles „Silbermann“ dargestellt. Der hochgesinnte junge Arier, der sich des Juden annimmt, weil er dessen geistige Ueberlegenheit im gleichem Maße bewundert, wie dessen bedrängte Lage seine ritterlichen Instinkte entflammt, fällt von dem Juden ab, durch die schäbigsten und menschlichsten Nöte getrieben. Das Buch schildert beide Jünglinge, den einen als Menschen, den andern als Rassetypus mit gleicher künstlerischer Sorgfalt. Der Jude nimmt allen geistigen Besitz der anderen in einer nachschöpferischen Weise auf (die, sehr gut geschildert, ein Zwischending zwischen Produktion und Reproduktion darstellt), ist tapfer, verbissen, prahlerisch und berechnend, erhebt den anderen auf den Fittig seiner erborgten Fähigkeit zur Höhe – das alles, dieses Spiel und Widerspiel, zeigt mehrmals den Juden allein, zeigt weniger ihn im Verhältnis zu seiner Umgebung, als seine Umgebung im Verhältnis zu ihm. Diese schonungslose Novelle ist sehr schön. Sie stellt schon einen höheren Grad der Selbstbetrachtung dar, jenen, der sich den andern zum Maßstab nimmt, nicht um zu dem optimistischen Schluß zu kommen, daß jener wenigstens nicht besser ist, sondern zu dem realistischen, daß sie „beide elend sind.“

Aber sonst ist für unsere Literatur dieser Zeit die Sehnsucht nach der positiven, nicht nach der objektiven Selbsterkenntnis typisch. Man sucht den Helden im Juden, den Helden, der nach Carlyles Definition den ritterlichen und persönlichen Wert in gleich ungewöhnlichem Maße besitzt. Daraus resultiert die Schilderung heroischer Judenkämpfe, die, so wie seinerzeit im Buche „Jiskor“ ziemlich lesebuchhaft in dem Büchlein Poljekins „Helden und Kämpfer“ (Renaissanceverlag) dargestellt wird. Es ist der Fehler unserer Sehnsucht, daß wir solche Schriften, seien sie literarisch auch noch so belanglos, nicht ohne Ergriffenheit lesen können. Wenn wir diesen Fehler überwinden, so sehen wir, wie wir uns selbst ins Romantische zu verlocken trachten, wie der Kampf des Morgen mit dem Zauberschleier der Aventiure verhüllt wird, um die Abenteurer- und die Heldenlust zu entfachen. Das ist die Art eines Volkes, das seine „Wiedergeburt“ so wörtlich nimmt, daß es sich jetzt in den Gymnasiastenjahren glaubt und an die edle Tatenlust der Halbwüchsigen appelliert. Aber Kunst ist es nicht. Aufrufe und Angelegenheiten der Flugblätter und Zeitungen. Literatur gibt das Gefühl des Einzelnen nur dann wieder, wenn es sein persönliches Gefühl ist. Tendenziöse Literatur muß sich in Acht nehmen, sonst kommt sie auf den Hund oder gar auf den Judenfresser Bartels, der neulich (in seinem „Deutsches Schrifttum“) seine „Deutschvölkischen Gedichte“ so charakterisierte: „Daß meine Sammlung dichterisch nicht mit Arndt und Dingelstedt zu vergleichen ist, weiß ich selbst genau, aber es gibt keine zweite, die die Entwicklung von 1923–24 so deutlich spiegelt …“

Ohne im Entferntesten zu glauben, daß jemals ein jüdischer Schriftsteller sich auf dem Niveau Bartelsscher „Gedichte“ befinden könnte, muß man doch vor der Gefahr warnen, die Entwicklung widerspiegeln zu wollen. Morgenröte ist kein kontinuierlicher Zustand; sie hat vorüberzugehen, um das volle Tageslicht auf die Dinge fallen zu lassen. Etwa so, wie das in Gronemanns beiden Büchern geschah, in „Tohuwabohu“, das die Erlebnisse der Juden, in „Hawdoloh und Zapfenstreich“, das die Erlebnisse des Juden darstellte, – nein, nicht darstellte, sondern bemerkte, mit jener scharfen und geistvollen, nachdenklichen und überlegenen Genialität, die die des Epigrammatikers ist.

Dort, wo unsere Literatur nicht auf das individuelle Empfinden zurückgeht, sondern wo der dichtende Mensch nur dichtender Jude ist, gibt es nur zwei reine Quellen der Kunst: vorerst den Osten. Nicht derart wie in Bernhards interessantem Schauspiel „Jagd Gottes“ (Volksbühnenverlag, Berlin), das einen, wie mir scheint, völlig westlichen Konflikt (den „Vaterkomplex“) ins Milieu einer ostjüdischen Gemeinde transponiert und damit, anscheinend absichtlich, nichts als eine ungeheure Verwirrung zustande bringt. Sondern jenes Ostjudentum, das Buber vermittelt und die Uebersetzungen jüdischer und hebräischer Dichtungen, um dessen Material sich Eliasberg bemühte und dessen Volkslieder Nadel und Kaufmann uns brachten (das größere Sammelwerk ostjüdischer Lieder von Günzburg und Marek, Petersburg 1901, ist leider dem deutschen Leser noch nicht leicht zugänglich).

Und als zweites die Forderung jüdischer Dichtung und Betrachtung auf anderen Zeiten, so wie dies dem „Weltverlag“ jetzt mit der Heraushabe der Confessio judaica Heines gelingt. (Die allerdings Eulen nach Athen trägt, denn welche Zeilen von Heinescher Hand gibt es, in der er sich nicht, nolens volens, als Jude bekannt hätte): oder die Nachdichtung biblischer Lyrik, wie sie in einem prächtigen Deutsch durch Manfred Sturman vollbracht wurde („Althebr. Lyrik“, Allgem. Verlagsanstalt, München).

Alles dieses und nur dieses ist jüdische Literatur, weil es Kunst ist, die selbstverständlich und aussichtslos jüdisch ist. Dort, wo die Absicht zum Jüdischen besteht, mag das Jüdische zustandekommen, nicht aber die Literatur.

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, 20. Jahrgang, Ausgabe 13-14 vom 29.03.1926, S. 13

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Die Schierigkeit, das Wesen des radikalen Zionismus darzulegen, ist identisch mit der Schwierigkeit, der zionistischen Ideologie das Supremat in unserer heutigen Arbeit zu sichern. Diese Schwierigkeit ist sehr groß, da die Behauptung, daß die zionistische Ideologie dieses Supremat verloren habe, als nicht diskutabel, fast als eine Beleidigung der Organisation empfunden wird. Während sich der Majoritätszionist ohne weitere Empfindlichkeit von seiner Leitung im Ijaraufruf sagen läßt, er müsse „in seinem Herzen begreifen lernen, was der Zionismus bedeute – und daß es keinen Ersatz für Zionismus und keine Abschwächung seiner Wahrheiten geben kann“, empfindet er die gleiche Feststellung im Programme der Radikalen als eine ungeheuerliche Verdächtigung. Deshalb greift er dort, wo der radikale Zionismus in Erscheinung tritt, – beim Kampfe gegen die Politik der Leitung, beim Kampfe um die Souveränität des Kongresses, beim Kampfe um das Jewish Agency-Projekt, – diese zufälligen Anlässe heraus, um den radikalen Zionismus damit zu motivieren. Er will nicht begreifen, daß diese alle nur zufällige, wenn auch bedeutungsvolle, verhängnisvolle Anlässe sind, an denen sich die Einstellung des radikalen Zionismus manifestiert: daß dieser selbst aber nicht Opposition gegen „Personen“ oder gegen ein Projekt bedeutet, sondern eine prinzipielle Anschauung ist, die keinen aktuellen Ursprung aus politischen Ereignissen nahm, sondern tief und wesentlich die zionistische Existenz aller ihrer Anhänger kennzeichnet. Der radikale Zionismus ist die Forderung nach dem unbedingten Supremat der zionistischen Ideologie innerhalb der zionistischen Bewegung; das ist keine neue und keine sensationelle Forderung. Sie wurde es erst dadurch, daß der Majoritätszionismus sich neben der theoretischen Anerkennung des ideologischen Supremats ein Aktionsprogramm anfertigte, das die weitesten Abweichungen von der Theorie gestattete. Dieses Aktionsprogramm, nach dessen Weisungen die Organisation geführt wird, machte die Bewegung zu einer Kette zusammenhangloser Ereignisse, zerlegte sie in einzelne Phasen, die jeweils von den Forderungen des Augenblicks und dem Streben nach dem Augenblickserfolgt geformt waren. Sie raubte ihnen die Kontinuität, die aus der Reihe aufeinanderfolgender Schritte die einheitliche Bewegung schafft: diese Kontinuität ist die Ideologie. Da sie fehlte, wurden die einzelnen Effekte unter dem einzigen Ziel größtmöglichsten Erfolges im Augenblick angestrebt; und wo immer dies das einzige Ziel ist, ist der einzige Weg dazu das Kompromiß, das alles um des Erfolges willen zu geben bereit ist. Die Organisation hatte nur einen Besitz zu vergeben: ihre Ideologie. Diese mußte, wo immer ein Kompromiß geschlossen wurde, zum Opfer gebracht werden; und sie wurde zum Opfer gebracht. Wie schrankenlos diese Kompromißbereitschaft war, zeigte sich in der Frage der Jewish Agency.

Da die Kontinuität der Arbeitsepisoden fehlte, mußte jede dieser Episoden sich vollziehen, als wäre sie allein vorhanden: mit Beanspruchung aller Kräfte. So sahen und sehen wir bei jeder zionistischen Aktion Befehl zur Anspannung aller Kräfte, die Vorstellung, daß es heute und nur heute um alles ginge, – der Zustand einer perpetuellen Krisis, in die keine Kraft von gestern kam und keine für morgen aufbehalten wurde, in der alles nur dem Heute galt.

Der radikale Zionismus hat kein realpolitisches Aktionsprogramm neben seinem prinzipiellen Programme. Er hat nur das eine Programm, die unverletzliche zionistische Ideologie als einziger Motor aller zionistischen Arbeit. Deshalb gibt es für ihn kein Kompromiß, denn Ideologie und Kompromiß sind antagonistische Begriffe. Ideologie ist essentiell Unbedingtheit; Kompromiß bedeutet Bedingtheit. Das eine ist der Tod des anderen.

Wo immer der radikale Zionismus praktisch erscheint, muß er demnach dem Wesen des heutigen Majoritätszionismus entgegengesetzt sein. Da er nichts mehr und nichts anderes als das Phänomen des Zionismus darstellt, gelingt es dem Beschauer, der gewohnt ist, sich alle Zionisten unter bestimmten Ettiketten zu einer Art Kongreßpanorama zu gruppieren, wo er sich von links nach rechts und in allen Farbennuancen des Zentrums von tiefschwarz bis stagelgrün leicht zu orientieren vermag, nicht, den Radikalen zu placieren. So glaubt er in ihm einen gelegentlichen Oppositionellen ad hoc, zur Jewish Agency und derlei, zu verstehen und begreift nicht, daß es nicht die Anlässe, daß es der Geist ist, welcher die Anlässe der Jewish Agency und derlei geschaffen hat, gegen den es hier geht.

Der radikale Zionismus ist keine Fraktion. Er hat kein ephemeres Kongreßmotiv und kein Separatsprogramm. Er ist die sichtbar gewordene gewaltige Strömung, die ehedem in der Organisation universell war und heute auf einen kleinen Teil der Organisation beschränkt ist, morgen aber wieder universell sein wird: der unbedingte, kompromißlose herzliche Zionismus.

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, Jüd. Volksblatt, Prag, XIX. Jg. Nr. 31(1925), S. 5 (Beilage)

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Breslau/Hirschberg/Lissa 1800.

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➥ Zur Biographie: Siegfried Schmitz

Aus: Wiener Morgenzeitung, Nr. 812, 3. Jahrgang

Wien, Sonntag, den 01. Mai 1921, S. 4–5.

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Das Drama hat im jüdischen Denkkreise eigentlich niemals Raum finden können. Vielleicht deshalb, weil die kultische Verbindung nicht gegeben war. Die dramatische Form fand lange Zeit – wahrscheinlich schon von der frühesten Zeit des Exils an – eigentlich nur am Purim Anwendung, jenem Tage, da sich auch sonst die Geschlossenheit des jüdischen Lebenskreises löst. Es schein, daß der eigentlich nur dem lyrisch-explosiven Ausdruck geneigte Jude für den dramatischen Ausdruck überhaupt kein Verständnis hatte. Böswillige könnten behaupten, daß dieses dramatische Verständnis trotz der Gewandtheit, mit welcher Juden seit ein paar Generationen in der Gestaltung, Ausführung und dem Erlebnis der dramatischen Form als dramatische Autoren, Schauspieler und als Publikum tätig sind, bis heute dem Juden abgeht. Der Jude betrachtet bis heute Theater und Drama als eine „badchonische“ Angelegenheit. Symptomatisch dafür ist, daß einer der Vorläufer der Goldfadenschen Singspieldichter in jüdischer Sprache, Schlojme Badchen“ war, welcher eine Art Burleske, betitelt „Moses oder die Befreiung der Juden aus Aegypten“, verfaßte. 

Goldfaden, mit dessen 1877 erfolgter Theatergründung in Jassy die Entwicklung des modernen jüdischen Theaters beginnt, hat, wie David Pinski in seinen „Studien über das jüdische Drama“ mit tiefer Einsicht bemerkt, den Badchen, den Improvisator des Ghetto, zum Ausgangspunkt genommen und ihn in die ihm innewohnenden Unterhaltungselemente zerlegt, die er auf verschiedene Personen aufteilte. Schon dieser Ausgangspunkt für die moderne jüdische Bühne und die näheren Begleitumstände, welche mit ihrer Gründung verbunden waren, beeinflussen die Wertung des jüdischen Theaters beim Publikum. Goldfaden spielte in Rumänien Theater vorwiegend für die Kriegslieferanten, die sich dort während des russisch-türkischen Krieges zusammengefunden hatten, und wie richtig er sein Publikum einschätzte, beweist sein Ausspruch: „Ich spiele für Moische, nicht für Moses.“ Und es ist ebenso bezeichnend, daß die Entwicklung des neuen jüdischen Theaters eigentlich in Amerika erfolgt ist, wo Goldfadens Singspiel in die Niederungen der burlesken Operette und der Zote gelangte und wo eigentlich sozusagen der Anschluß an die europäische Dramatik und das europäische Theater gefunden wurde. Dem Publikum ist es wohl zuzuschreiben, daß zunächst in Amerika jene Umarbeitung europäischer dramatischer Dichtung erfolgte, welche Shakespeares, Hebbels und Molières gültigste Gestalten in ein jüdisches Milieu übertrug und aus „Romeo und Julia“ „Zwei Brüder Lurie“ machte und Hamlets Monolog „Sein oder Nichtsein“ in eine Betrachtung über die damaligen Zustände in Rußland umwandelte. Dies beweist am besten, daß das jüdische Theaterpublikum die absolute Gültigkeit dramatischer Gestaltung nicht versteht, daß es nicht die waltenden Mächte, welche die Gestalten des Dramas führen, anerkennt und begreift, da es eine ganz andere Auffassung vom Geschehen der Welt hat als die, welche das Drama hervorbrachte.  

Auf diese aus der Geschlossenheit der jüdischen Weltanschauung sich ergebende dramatische Verständnislosigkeit ist es auch zurückzuführen, daß vielfach noch bis heute das jüdische Theaterpublikum fordert, daß die Bühnenvorgänge gut ausgehen. Man kann nicht einwenden, daß die Zusammensetzung des Publikums in den ersten Jahrzehnten des jüdischen Theaters hier besondere Wirkung gehabt habe. Das sogenannte niedrige Publikum bietet ja überall den Gradmesser für das dramatische Verständnis. Erst als sich in Amerika eine jüdische Bühne entwickelt hat, als Gordins Theatertalent durch das Kompromiß zwischen europäischer Dramatik und jüdischem Milieu den Boden für die Aufnahmsfähigkeit beim ostjüdischen Publikum geebnet hatte, begann die eigentliche neujüdische dramatische Dichtung in Europa, welche durch die Namen Pinski, Kobrin, Libin, Asch, Perez, Hirschbein u. a. gekennzeichnet ist. Bei dieser neuen Dramatik ist noch immer das rein Milieuhafte mitbestimmend. Und es ist wieder bezeichnend, daß sie ihr Theater zunächst in Amerika fand. 

In Europa haben erst die letzten Jahre eine künstlerische Entwicklung des jüdischen Theaters angebahnt, welche der neuen jüdischen Dramatik und dem Drama überhaupt den richtigen Rahmen zu geben imstande ist. Das Theater, welches Amerika bis heute bietet, kann künstlerisch durchaus nicht allzu hoch gewertet werden. Der künstlerische Aufstieg der jüdischen Bühne ist mit der Wilnaer Theatertruppe eng verbunden. Dort wurde der Versuch gemacht, den Stil für ein jüdisches Theater zu finden, der es vom badchonischen Element wegführt und nicht bloß europäisch, sondern auch jüdisch macht. Lange Zeit fand solches Bestreben beim jüdischen Theaterpublikum geringes Verständnis. Abgesehen von der eingangs erwähnten, durch Anlage bedingten schweren Einstellung des Juden auf Drama und Theater, trug auch die possenhafte Vergröberung, die lange Zeit auf dem jüdischen Theater herrschte, das ihrige dazu bei, um die neuen Versuche ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Und der Jude, welcher bis heute Drama und Theater als Unterhaltungssache betrachtet, vermochte nicht, zum Neuen das richtige Verhältnis zu finden. Erst in den allerletzten Jahren, als die jüdische Intelligenz des Ostens sich auf Fortentwicklung des jüdischen Wesens einstellte, kam sie zum Teile dem neuen Streben des jüdischen Theaters näher.  

In dieses letzte Jahrzehnt fällt eine parallel gerichtete Tätigkeit in einem eigenartigen jüdischen Zentrum, in Wien. In diesem Kreuzungspunkt des jüdischen Ostens mit dem Westen ging gerade bei Juden, welche aus dem Westen stammten und irgendwie im jüdischen Drama und Theater einen Anknüpfungspunkt an die neue jüdische Entwicklung spürten, der Anstoß zu jüdischem Theater in spezifisch jüdischem Stil aus. Die ersten Versuche dieser Art sind mit den Namen Hugo Zuckermann, Egon Brecher und einiger anderer junger Menschen mit Streben nach Erfassung jüdischen Wesens verbunden. Sie fanden kein Publikum in Wien. Denn in dieser Stadt der Kreuzungen und Uebergänge konnte ein auf eindeutige jüdische Form gerichtetes Streben nirgends Widerhall finden. Inzwischen brachte der Krieg eine wesentliche Aenderung der jüdischen Physiognomie Wiens. Sie wurde bestimmter, eindeutiger. Wien, das unter den Verhältnissen, wie sie sich für die Judenheit gebildet haben, bestimmt ist, ein Zentrum für das neue Judentum zu werden, bekommt ein jüdisches Profil, das ihm bislang in der Sphäre einer Zeit, da der jüdische soziale Uebergang alle Formen des jüdisch-geistigen Unterganges hervorgebracht hatte, immer mehr geschwunden war. Und so konnte es kommen, daß in den letzten drei Jahren wieder Kräfte ans Werk gingen, um das jüdische Theater fortzuentwickeln. Es entstand die „Freie Jüdische Volksbühne“. Und ihr gelang es vor einigen Monaten, ein, wenn auch sehr bescheidenes, jedoch eigenes Theater zu erhalten. In diesem Theater wird jüdische dramatische Literatur gespielt, und es vollzog sich etwas Eigenartiges: Was so lange gesucht wird, was überall fast aussichtslos schien, das entwickelte sich hier mit unglaublicher Raschheit: Ein nicht nur künstlerisch ernstes, sondern auch mit jüdischem Stil, wenigstens mit Ansätzen eines solchen, gespieltes jüdisches Theater erstand. Es scheint, daß gerade in Wien die Entwicklungsmöglichkeit für jüdisches Theater mit wirklich eigener Note besteht. Dieser Kreuzungspunkt, welcher dem jüdischen Wesen bisher so viel Unsegen gebracht hat, scheint die Möglichkeiten in sich zu bergen, den neugerichteten Kräften im Judentum zum Durchbruch zu verhelfen. Wer je Aufführungen der „Jüdischen Volksbühne“ in Wien gesehen hat, die schon an Sorgfalt die der meisten Wiener Theater übertreffen, muß fühlen, daß sich hier Kräfte regen, welche zu neuen, nicht geahnten Möglichkeiten führen. 

Aber nicht nur für einen jüdischen Theaterstil sind in Wien Entfaltungsmöglichkeiten gegeben, sondern gerade hier besteht die Möglichkeit, dem jüdischen Theater ein Publikum zu schaffen, welches es braucht. Für das althergebrachte Theater hat der Jude nicht allzu viel Verständnis. Der Jude der starren Tradition kann es nicht haben. Wien ist aber jüdisch unbefangener, es ist heute Kreuzungspunkt der Juden, welche jüdisches Wesen in neuen Formen erfassen wollen, und derjenigen, welche die alten Formen mit neuem Leben zu erfüllen bestrebt sind. Daraus ergeben sich nicht nur die Grundlagen für neue Formen jüdischen Theaters, sondern auch für ein neues jüdisches Publikum, das für eben diese neuen Formen empfänglich ist und mit dessen Hilfe sie weitergebildet werden können. Das jüdische Theater im allgemeinen braucht ein Publikum. Es hat es noch nicht. In Wien kann ein jüdisches Theater, wenn es, wie die „Freie Jüdische Volksbühne“, so ungeahnte neue Perspektiven der Entwicklung jüdischen Wesens bietet, sich ein Publikum schaffen. Ja, es ist Pflicht aller, die die Entwicklung neuen jüdischen Wesens wollen, für solches Theater Publikum zu sein. Denn sie finden darin Angelpunkte für das, wonach sie streben. Und ein wirklich interessiertes Publikum wird den neuen Stil des jüdischen Theaters, der hier so glücklich angebahnt wurde, weiterführen zu neuen schöpferischen Möglichkeiten.