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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 3 vom 20.01.1888, S. 27f / Ausgabe 4 vom 27.01.1888, S. 37ff / Ausgabe 5 vom 03.02.1888, S. 47ff

 

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Ausgabe 3 vom 20.01.1888, S. 27f

I.

Es war an einem der letzten Novemberabende des Jahres 1869 Frühzeitig war der Winter ins Land gezogen und hatte Feld und Au in eine dichte Schneedecke gehüllt und krächzende Raben schwebten in der bleischweren Luft und schmetterten weithin in die Ferne ihre unheimlichen Töne hinaus. – Hie und da ragte da kahle, dürre Geäste einer Linde und eines Ahorns über den Schnee hervor, von den Meilensteinen hingegen, die die Straße umsäumen, war nichts zu sehen. Auf dieser aber, die sich zwischen Feld und Haide schnurgerade dahinzog, bewegte sich äußerst schwerfällig ein mit drei kräftigen Braunen bespanntes Fuhrwerk, dessen Insassen nebst dem Wagenlenker aus zwei bejahrten Männern bestanden. Der Eine von ihnen, eine durchaus ehrwürdige Gestalt mit edlen Zügen im schöngeformten, blassen Gesichte und langem, weißen Barte, mochte etwa sechzig Jahre zählen, indessen sein Reisegefährte, ein starker, behäbiger Mann mit rothem, aufgedunsenem Gesichte, von einem röthlichgrauem Barte umrahmt, nur um wenige Jahre jünger schien. – Lange waren sie schweigend nebeneinander gesessen, bald hinaus blickend in die schneebeleuchtete Nacht, bald wieder das geblendete Auge schließend und den dichten Bärenpelz, der auf ihren Knieen lag, straffer anziehend, als der Letztgenannte sich an seinen Gefährten wandte und ihn fragte: „Glaubt ihr nicht, Rabbi, daß es besser wäre, die Nacht im Grenzorte S. zu verbringen und erst morgen die österreichische Grenze zu passiren? Wir müßten sonst die ganze Nacht fahren; die Pferde sind sehr ermüdet und fühlt ihr nicht auch den starken Frost, der sich über die Nacht lagert?“ – Der Angeredete zögerte eine Weile mit der Antwort; er mochte wohl einsehen, daß sein Begleiter – oder wie dieser seinem officiellen Amte Gemäß hieß: sein „Gabbe“ – Recht hatte; er entschloß sich jedoch im Stillen auf dessen Vorschlag nicht einzugehen. Der Grund war folgender: Der Rabbi, wie wir ihn nennen gehört haben, machte wohl die merkwürdigste Reise, die je Einer seinesgleichen unternommen; er befand sich auf der Flucht, auf der Flucht von einem Orte, von welchem ihn niemand vertrieben; von einem Orte an dem er hochgeehrt, geliebt, ja vergöttert wurde, von der Gemeinde sowohl als auch von einer zahllosen Anhängerschaar aus den fernsten Gauen des weiten Russenreiches; und doch verließ er diesen Ort, um ihn nie wiederzusehen! – Viele Jahre hatte er, der in talmudisch-rabbinischem Wissen hochgelehrte Sohn des berühmten Rabbi Israel – oder Reb Srulze – von Sadagora den Wunderthron in einem kleinen Städtchen Rumäniens innegehabt und von dort aus sein magisches Szepter über Tausende und aber Tausende von rumänischen und russischen Cassidim geschwungen. Vor Ostern und Neujahr pflegten die Getreuen in hellen Haufen heranzuziehen, wie einst ihre Vorfahren aus allen Gegenden des gelobten Landes gegen Bion, kostbare und seltene Geschenke für denjenigen mitbringend, den sie als ihr geistliches Oberhaupt auf Erden, als den Mittler zwischen sich und dem allerhöchsten Wesen betrachteten und verehrten. – In Glanz und Pracht hatte der Rabbi in jenem Städtchen gelebt; denn unermeßlich waren die Reichthümer, zu denen die unter dem Namen „Pidion“ (etwa Lösegeld) ihm dargereichten Geschenke angewachsen waren. Eines Tages hatte ihn ein vornehmer Fremder besucht, sich mehrere Stunden lang mit ihm abgeschlossen, war dann fortgegangen und nie wieder gekommen.

Von dem Tage an war der Rabbi wie umgewandelt. Er schloß sich ganze Tage ab, wollte niemand mehr empfangen, ja er wurde sogar für seine eigenen Familienmitglieder unzugänglich! Man stellte allerlei Vermuthungen an; indessen brach sich jene von mehreren Hundert armen Juden, die jahraus – jahrein am „Hofe“ des Rabbi lebten und von seinem Tische gespeist wurden, ausgehende Ansicht allmälig Bahn, daß der Rabbi im Verborgenen mit abgeschiedenen Geistern des Jenseits, so mit Elia Hanowi, mit Rabbi Simon ben Jochai und seinem erleuchteten Schüler Chaim Vital gemeinsam den Sohar und andere Geheimlehren studiere. In Wahrheit jedoch verhielt sich die Sache ganz anders. Der Fremde, der einen so wichtigen Wendepunkt im Leben des Rabbi Ber bedeutete, war einer jener hochgelehrten Juden, die ihr Wissen und ihre Dialektik in den Dienst der englischen Missionsgesellschaft stellen und als Proselytenmacher besonders unter den entweder nur einseitig gebildeten oder ganz unwissenden Juden des Ostens herumziehen. Er war auch zu Rabbi Ber gekommen und hatte es versucht, ihm die Wahrheit und Richtigkeit der Lehre des Nazareners zu beweisen. Er hatte dies mit einem solchen Aufgebot seiner gewaltigen Beredsamkeit, seines profunden allseitigen Wissens gethan, daß, wenn er den Rabbi auch nicht ganz gewann, er doch seinem bisherigen Glaubengebäude, seiner messianischen Ueberzeugung einen bedenklichen Stoß versetzte – Rabbi war nämlich ein ruhig erwägender, gründlicher Geist. „Auf Trau und Glauben“ – hatte er den Missionär zugerufen – „folge ich euch nicht; ich will mich allein überzeugen, ob ihr Recht habt!“ – „Und wie wollt ihr das, Rabbbi?“ fiel jener ein; „ich will lernen, lernen solange, bis ich Alles weiß, was ihr wißt; dann werde ich wohl wissen, wie ich daran bin.“ – Und der Rabbi hat seinen Entschluß ausgeführt.

Nicht den Sohar studierte er, nicht ben Jochai war sein Lehrer, sondern ein jüdischer Arzt der Stadt, der durch einen geheimen Gang täglich zu ihm gelangte und stundenlang ihn zuerst in den Elementen der deutschen Sprache, dann in Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie unterwies. – Zwei Jahre hatte Rabbi Ber überaus eifrigem Studium gewidmet, und nach Verlauf dieser Zeit war sein Entschluß gereift. Nicht abschwören wollte er den Glauben seiner Väter, nicht entsagen dem alten Bunde, um sich dem neuen zuzuwenden, fand er doch trotz allen profanen Wissens in der reinen erhabenen Lehre Mosis und der Propheten eine noch genug mächtige Stütze für sein der Religion bedürftiges Gemüth. Aber die Bildung, die er sich mittlerweile angeeignet, die auf exacter Forschung beruhenden Lehren der Wahrheit, die er mit Gier eingesogen, hatten eine Läuterung seines Herzes, eine Umbildung seiner ganzen Denkweise zur Folge, was – vereint mit der Aufklärung seines Geistes – einen neuen Menschen aus ihm gemacht hatte. Mit Einemmale ward ihm die erbärmliche Rolle klar, die er, die seine Ahnen und viele, ah gar viele Männer dieser Art gespielt; er erröthete und empfand bittere Reue über den unwürdigen Schacher, der mit den edelsten Gefühlen der Menschenseele, mit dem Glauben an Einen Gott, getrieben wird. Er war fest entschlossen vom Wunder-Rabbi-Unwesen für immer zu lassen, sich in eine Einöde zurückzuziehen und da abgeschlossen von der verderbten Welt, die solange ihn und die auch er betrogen, seiner neuen geläuterten Weltanschauung zu leben. Er machte von diesem seinem Plane nur seinem Lehrer, dem Arzte, Mittheilung. Dieser aber erschrak, als er das hörte und hatte wohl auch Grund dazu.

Neben dem Rabbi und dem Gabbe, der von jedem Fremden gewissermaßen eine mitunter sehr beträchtliche Eintrittsgebühr erhob, machte der Arzt die besten Geschäfte im Orte. Er heuchelte eine Frömmigkeit, die er nicht besaß, um sich beim Rabbi und seinen Chassidim einzuschmeicheln, er pflegte, wenn er Samstags oder an einem Feiertag zu einem Kranken gerufen wurde, stets sich selbst in die Apotheke zu begeben und mündlich die Arznei zu ordiniren, um den Festtag nicht durch Schreiben zu entweihen, er war ein nie fehlender Gast beim Tische des Rabbi, wenn dieser beim Ausgang des Sabbath im Kreise einer großen Zahl der vornehmsten Frommen seine an den laufenden Wochenabschnitt der Bibel sich knüpfende Draschah hielt. – Und so pro- pagirte der Rabbi selbst des Arztes Heilkünste und Wunderthaten bei den zahlreichen Fremden, die eine beträchtliche Einnahmequelle für den originellen Aeskulapsohn wurden. Als nun dieser des Rabbis Entschluß vernahm, da ward ihm recht bange für seine eigene Zukunft. Ist der Rabbi fort, liegt ja das Städtchen verödet da, und die reiche Quelle würde für immer versiegen. – Er zog daher Reb Schmerl, den Gabbe, ins Mittel und veranlaßt diesen, seinen Einfluß, der allerdings ziemlich groß war, geltend zu machen und den Rabbi zum Bleiben zu bewegen. – Doch vergebens. – Der Rabbi erklärte mit Entschiedenheit bei seinem Entschlusse zu verharren, gebot Reb Schmerlen strengste Verschwiegeneheit, ließ eines Morgens einspannen, steckte eine ziemlich bedeutende Summe Baargeld in österreichischen und russischen Banknoten zu sich und bestieg mit dem Gabbe den Wagen, um, wie er sagte, nach Sadagora zum Grabe seines Vaters zu wallfahren. – Reb Schmerl sollte ihn thatsächlich dorthin begleiten, dann aber sich wenden, wohin es ihm beliebe, er, der Rabbi wollte vom Grabe seines Vaters und von seinem älteren in Sadagora thronenden Bruder Reb Abraham Jankes Abschied nehmen. – Einen ganzen Tag waren die beiden unter unsäglichen winterlichen Beschwerden gefahren, hatten unterwegs bloß einmal ein karges Mahl zu sich genommen, und als sie sich am Abend einem Grenzdorfe näherten und Reb Schmerl den Vorschlag machte, daselbst zu übernachten, wollte Rabbi Ber darauf nicht eingehen; denn er traute seinem Gabbe nicht recht. – Er glaubte, dieser hätte seinen Plan der Gemeinde verrathen, und fürchtete, er könnte zu jeder Stunde von Nacheilenden eingeholt und vielleicht gar mit Gewalt zur Rückkehr gezwungen werden. Deshalb wollte er so rasch als möglich den österreichischen Boden der Bukowina betreten, wo er auf jeden Fall gesichert wäre. – Sie fuhren also weiter, setzten über die Grenze, gelangten aber bald in eine kleine Stadt und verbrachten die Nacht auf österreichischem Gebiete. – Mit Anbruch des folgenden Morgens setzten sie ihre Reise fort und kamen nach einer weniger beschwerlichen Fahrt als am Vortage des Abends in Sadagora an.

Ausgabe vom 27.01.1888, S. 37ff

I. (Fortsetzung.)

Etwa eine Stunde von der anmuthig gelegenen, hübschen Landeshauptstadt Czernowitz liegt der kleine aber lebhafte Marktflecken Sadagóra. – Haus an Haus gedrängt, eines garstiger als das andere, alle schmutzig und verwahrlost, ewiger Mist und Unrath in den kurzen unregelmäßigen Gassen, und dazu eine vollkommen entsprechende Bewohnerschaft – zumeist verkommene, un- reinliche Gestalten, sowohl arischen als semitischen Stammes und beiderlei Geschlechtes – das ist das wahre Bild eines Ortes, der im europäischen Osten dieselbe Berühmtheit genießt, wie das gepriesene Mekka bei den Söhnen Muhammed’s. – Nur zwei Bauten heben sich vortheilhaft ab von den übrigen, zu denen sie in einem sonderbaren Contraste stehen. Das in einem großen, waldähnlichen, schön gepflegten Parke befindliche einstöckige Schloß des Gutsbesitzers Baron M. und das ebenerdige, äußerlich einfache, im Innern jedoch fürstlich geschmückte Wohnhaus sammt dem dazugehörigen geschmacklosen, aber mit wahrhafter Verschwendung erbauten, reichlich verzierten Tempel des Rabbi. – Wohnhaus und Nebengebäude umgibt ein geräumiger Hof, in welchem es den ganzen Tag und bis in die späte Nacht hinein von Menschen wimmelt. – Da sind vor allem etwa etliche hundert Männer aller Altersstufen, mit abgehärmten Gesichtern, verwilderten Bärten und unglaublich langen Gesichtslocken, im langen schmutzigen, zerrissenen und vielfach geflickten Kaftan, Männer, die ihre Familien daheim – oft weit von Sadagora – ihrem Schicksale und dem Willen Gottes überlassen haben und da als „Joschwim“ den Hofstaat des Rabbi ausmachen. Sie beten des Morgens bis gegen 11 Uhr, werden dann an deinem gemeinsamen Tische abgefüttert, begeben sich hierauf in das Bet ha-Midrasch und lernen einzeln oder in kleinen Gruppen ihren Schiur, während andere sich mit dem näselnden mechanischen Herunter- leiern von Psalmen die Zeit vertreiben, und wenn sie’s satt bekommen, spazieren sie, die kleine Pfeife im Munde, im Hofe auf und ab und erzählen sich von des Rabbi Wunderthaten. – Da kommt ein schwerbepackter Wagen gefahren, dem ein wohlgenährter, reich aussehender Jude aus der Ukraine entsteigt. Die Aerzte schicken ihn eines Magenübels wegen in ein böhmisches Bad; aber der Rabbi muß ihm den Segen dazu geben; denn was würden ihm sonst die Thermen von Karlsbad nützen? Der Gabbe, der zugleich Thürsteher ist, erkennt ihn schon von fern und ruft ihm laut ein „Scholaum aleichem“ zu, das dieser mit der landläufigen Inversion der beiden Worte und einer Rubelnote erwidert. Unverzüglich wird er vorgelassen. – Dort kommt eine jammernde Mutter geeilt, ihr jüngstes Kind liegt im Sterben, es ist von den Aerzten aufgegeben, nur der Rabbi kann helfen; hier ein betrübter Vater, dessen Tochter auf keinen Fall den Mann will, den Eltern und Schadchen ihr bestimmen, die gelobt nur der Neigung ihres Herzens zu folgen und dem jungen hübschen Nachbarssohn die Hand zu reichen, dem Abtrünnigen, von dem man weiß, daß er im Geheimen deutsche Bücher lese.

Der Vater ist überzeugt, daß seine Tochter besessen sei, er wendet sich an den heiligen Mann, daß er aus ihr den „Dibik“ heraustreibe. – Der Krämer, der schlechte Geschäfte macht, der Pächter, der fürchtet, man könne ihm zum nahe bevorstehenden Termine die Pachtung „ausdingen“, – – alle, alle kommen, vom Rabbi Hilfe zu erflehen. Alle werden vorgelassen, zuerst die Reichsten und so nach Maßgabe ihres Besitzes und der Höhe des dem Gabbe zugesteckten Obolus der Reihe nach die Uebrigen. – In einem kleinen, bescheiden eingerichteten Gemache sitzt der göttliche Mann im langen, schwarzseidenen Kaftan an einem Tische, das Auge unverwandt auf ein aufgeschlagenes Buch geheftet; der Eintretende legt einen Zettel, der die schriftliche Bitte enthält und eine Geldsumme auf den Tisch, der Rabbi durchfliegt dies Bittgesuch, nickt mit dem Kopfe und versichert, Gott wird helfen, womit der so Getröstete freudig sich entfernt! – So kommen und gehen sie, die armen Geschöpfe, diese bedauernswerthen Kinder eines traurigen, finsteren Landes! Wie? Sind denn ihnen jene Schätze verschlossen, die wir anderen mit vollen Händen aus dem Reiche des Wissens heben? Ist ihr Geist anders geschaffen, daß ihm das unfaßbar wäre, was jetzt Gemeingut Aller ist? Nein! Sie sind Menschen wie alle übrigen, mit denselben geistigen Anlagen, denselben seelischen Gefühlen, denselben Regungen des Gemüths! Aber sie schmachten in einem Jahrhunderte alten Banne, in Jahrhunderte alten Fesseln, welche der Aberglaube ihren Ahnen geschmiedet, und traditionelle Pietät gefestigt, ach! so stark gefestigt hat, daß ein bloßer Versuch, sie abzustreifen, als eine Erbsünde, als ein Vergehen gegen das Allerheiligste, betrachtet wird. Was sind ihnen die Errungenschaften des Wissens, die den Geist aufklären, was die Schöpfungen der Kunst, die Herz und Sinn veredeln? Hervorbringungen des Satans und Teufelsspuk, Verirrungen einer entfesselten Phantasie und Verleugnung des Schöpfers und seiner Heiligen! Und wie wird jede freie Regung eines begabten Geistes im Keime erstickt! Man dürfe nicht denken, gilt ihnen als oberster Grundsatz; man dürfe es auch nicht einmal versuchen, so zahlreiche Widersprüche, die zwischen traditioneller Lehre und individueller Anschauung entstehen, kritisch zu beleuchten. Blind gehorchen müsse man dem todten Buch- staben der Ueberlieferung, es nicht um ein Haar geringer nehmen, als es die Väter gethan; Fortschritt und Zeitgeist sind unbekannte, oder wenn gekannt, verdammte Begriffe! – – – Mit Spott und Hohn werden die Aufgeklärten überschüttet, die Frevler, ein Chassid betet und fastet und führt ein elendes Leben, wird doch bald, ja vielleicht schon morgen der gesalbte Sohn Davids erscheinen und ihn und seine näheren Glaubensgenossen ins gelobte Land führen. – – – –

Ist dieser Glaube übrigens, diese Hoffnung, diese Zuversicht nicht beseligend? Was vermöchte der Seele mehr Trost und Ruhe zu verleihen, als eine so feste, als eine solche religiöse Ueberzeugung? Wir bedauern jene Geschöpfe, sie zahlen es uns mit barer Münze; sie bedauern uns.

Mitten in das dichteste Gewühl, das den Hof des Sadagoraer Patriarchen erfüllte, fuhr der Wagen, der Rabbi Ber und seinen Gabbe, Reb Schmerl brachte. Es war fast Abend geworden, und dennoch vermehrte sich immer noch das Gedränge, man erwartete den Rabbi, der in seinem eigenen, reichlich ausgestatteten Gemache, einem Nebenraume des Tempels, das Mincha- und Maariwgebet verrichtete. – Rabbi Ber hatte schon unterwegs gebetet und begab sich daher in das Empfangszimmer seines Bruders, wo er ungeduldig dessen Rückkehr abwartete. – Nachdem er den Reisepelz abgelegt hatte, ließ er sich erschöpft auf das kleine Sofa nieder und brütete still vor sich hin. Da zog noch einmal seine ganze Vergangenheit an seinem geistigen Auge vorüber. Die verklärte Gestalt seines Vaters trat erzürnt vor ihn und drohte ihm mit dem Finger. – – Doch mit nie gekanntem Muthe verscheuchte er dieses Bild und erhob sich, um mit kräftigen Schritten das Zimmer zu durchmessen, damit er dadurch gleichsam die Worte übertöne, dir er aus dem Munde eines Gespenstes zu vernehmen wähnte. Da ging die Thüre auf, und Reb Abraham Jankes trat ins Zimmer. – „Boruch habo“ und „Scholaum“ ertönt es gegenseitig, ein Händedruck, eine Umarmung, und der von Sadagora zieht seinen liebwerthen Gast zum Sofa hin, auf das sich beide niederlassen. Der Herr des Hauses will vor Freude über den unerwarteten Besuch, den er ungestört zu genießen gedenkt, seinem Gabbe den Befehl ertheilen, heute Niemanden mehr vorzulassen; doch Rabbi Ber ersucht ihn, trotz seiner, die Geschäfte des Tages unverkürzt zu erledigen, er wolle ihm Gesellschaft leisten, er wolle noch einmal jene armseligen Geschöpfe sehen, die in ihrer Noth sich an den Sachwalter der Allmacht auf Erden wenden. Reb Abraham Jankes mißverstand seinen Bruder. Er faßte das so auf, wie wenn Rabbi Ber, dessen krankhafte Blässe ihm sofort aufgefallen war, von der Ahnung eines nahe bevorstehenden Todes ergriffen, vielleicht nur zu dem Zwecke nach Sadagora gekommen wäre, um neben seinem Vater bestattet zu werden. Auch den Ausdruck „armselige Geschöpfe“ bezog er lediglich auf die körperlich oder seelisch Leidenden und Hilfesuchenden, verstand ihn also ganz anders, als Rabbi Ber ihn gedacht. Er ließ sich also bestimmen, die Harrenden eintreten zu lassen und fertigte sie wie gewöhnlich kurz ab, indessen sein Bruder diese mit mitleidigem Blicke maß und in der Betrachtung dieser – wie es bei ihm bereits feststand – unmoralischen Handlungsweise nur noch mehr Festigung fand, für seinen so edel, so selbstlos und deshalb vereinzelt dastehenden Entschluß. „Bruder“, rief er und seine Stimme zitterte, nachdem hinter dem Letzten sich die Thüre geschlossen hatte, „Bruder“, ich komme Abschied von Dir zu nehmen, von Dir, dem Rabbi, der selbst in einem verderblichen Wahne, in einem gräßlichen Irrthume, in der Ueberzeugung seines göttlichen Berufes lebt und so viele Tausende mit geistiger Blindheit geschlagene Menschen in denselben Wahn, dieselbe Verirrung zieht! „Bruder Abraham“, rief er noch kräftiger und blickte dem erstaunten Rabbi fest ins Auge, „wir sind alle Betrüger, wir vergehen uns sehr hart gegen den einzigen allmächtigen Gott, wir lassen uns dafür bezahlen, daß wir für andere zu ihm beten und diese thun es in der festen Ueberzeugung, daß wir vom Ruach Hakoudesch inspirirt, viel bei der Gottheit vermögen! Wir begehen eine doppelte Sünde.

Erstens eignen wir uns Güter an, die uns nicht zukommen, denn wir können doch nichts bewirken, wir können ja das nicht thun, was die Leute von uns voraussetzen, zweitens erhalten wir diese in einem unheilvollen Aberglauben und verwirren ihre ohnehin unklaren Begriffe von der Gottheit noch mehr! Ich mache meinem bisherigen Treiben, das mir der liebe Gott verzeihen möge, – denn ich wußte nicht, was ich that, ein Ende, ich gebe das Rabonot, auf und ziehe mich in einen verborgenen und verlassenen Winkel Erde zurück, wo ich mir selbst eine Buße auferlegen will für meine so schweren Sünden! Du aber fahre fort, o Bruder“, sprach er mit Bitterkeit weiter, „das Erbe unseres Vaters in Ehre zu halten. Du kannst mich nicht verstehen, du wirst auch meinen Schritt nicht billigen, aber meinen Entschluß kannst du nicht ändern. Leb’ wohl!“ Wie vom Blitzstrahl getroffen stand Reb Arbraham Jankes da. „Was redest du, Ber,“ sprach er an allen Gliedern bebend, „was spricht aus dir, ich verstehe dich nicht; du bist krank, du fieberst, wo ist jemals so was gehört worden; denk’ an unseren Vater, sein Andenken sei uns zum Segen, an un- sern Urgroßvater Abraham, genannt „der Engel“, an unsern Ahn, dessen Namen du trägst an je- nen Reb Ber, der der vornehmste Schüler und ausgesprochene Liebling des heiligen Baal-Schem- Tow war: Sind wir nicht vom Stamme David, sind wir nicht die Auserwähltesten unter den Auserwählten, und wird nicht in unserer Familie der Gesalbte geboren werden, der uns ins heilige Land führen und uns die Weltherrschaft überantworten wird? Ber“ fuhr er mit weinerlicher, fast flehender Stimme fort, „erinnere dich jenes Tages, an welchem du Bar-Mizwah wurdest und unser heiliger Vater dich segnete und sprach, du werdest ein Meor godaul sein, du werdest ein großes Licht über Israel verbreiten, warst Du ja immer der gelehrteste und scharfsinnigste unter deinen Brüdern! Und was willst du beginnen, was wird unser Vater im Himmel dazu sagen? Was soll aus den vielen, vielen Kindern Israels werden, wenn sie eine so mächtige Stütze verlieren?“ Rabbi Ber stand ruhig da mit auf den Boden gerichtetem Blicke, er dachte wohl selber an die prophetischen Worte seines Vaters, daß er berufen sei, Israel zu erleuchten, aber in welchem Sinne?! Dem Bru- der antworten wollte und konnte er nicht. Wozu denn auch? Ueberzeugen konnte er ihn doch nicht. „Wozu bin ich denn überhaupt hergekommen, fragte er sich. warum bin ich nicht gleich dorthin geeilt, wo mich keine lebende Seele je fände? Doch nein! Am Grabe meines Vaters will ich noch einmal beten, will dem todten Steine, der seinen Hügel bedeckt, mein Fühlen und Denken sagen! – – –

(Schluß folgt.)

Ausgabe 5 vom 03.02.1888, S.47f

I. (Schluß.)

Bitter lächelnd schüttelt er das greise Haupt, streckte seinem Bruder die Rechte entgegen und wollte gehen. Doch dieser ließ ihn nicht fort. „Ber“, sagte er bittend, „bleibe bei mir, schlafe hier, in demselben Hause, das noch der Geist unseres abgeschiedenen Vaters verklärt, Friede soll wieder einkehren in deinem Sinn und deine verirrte Seele von den Klauen Satans befreien! Bleibe hier“, wiederholte er und eine Thräne stahl sich von der Wimper und rieselte die bleiche Wange herab, um sich im langen, grauen Barte zu verlieren. Rabbi Ber, gerührt vom sichtbaren Schmerze seines von im heißbeliebten Bruders, ließ sich erweichen und blieb über Nacht, jedoch nicht ohne ihm zu betheuern, daß sein Entschluß ein fester, ein unerschütterlicher sei.

Mittlerweile hatte Reb Schmerl, der Gabbe, zunächst seinen Sadagoraer Amtcollegen, Reb Pinches und Reb Kalmen, dann jedem, den er nur kannte und antraf, die Absicht seines Gebieters verrathen. Von Mund zu Mund ging die schauerliche Mähr und war gar bald in ganze Sadagora verbreitet. Reb Schmerl dachte durch eine Masseneinwirkung von Seiten so Vieler auf seinen Herrn, diesen bewegen zu können, daß er seinen Plan denn doch aufgebe. Er hatte kurz vor der Abreise aus Rumänien seinem Sohne und dem Arzte aufgetragen, sofort die Geschichte zu verbreiten und die Rebezen, die Frau Rabbi Ber’s, zu veranlassen, augenblicklich nach Sadagora nachzukommen. Am Tage, der jener Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern folgte, kam in der That die Rebezen, begleitet von einer zahllosen Schaar Chassidim, in Sadagora an. Da sah man viele verstörte Gesichter, aufgeregte Männer hin- und herlaufen, hastig mit einander discutiren; denn allen war der Schrecken in die Glieder gefahren, sie verloren fast die Besinnung. Rabbi Ber war am frühen Morgen auf den alten „guten Ort“ geeilt, hatte das von einem prächtigen Mausoläum überwölbte Grab Reb Srulze’s, seines Vaters, aufgesucht und mit bewegter Stimme die Worte gesprochen: „Vater, verzeih mir meinen Schritt, ich verlasse den Rabbinerstuhl, denn es widerspricht meiner innersten Ueberzeugung, noch ferner ein Amt zu verwalten, daß der liebe Gott unmöglich billigen kann! Nur Verblendung, Wahn, Trug sind die Stützen Deines und meines Thrones gewesen, und das Licht der Aufklärung, das über mich gekommen, hat jene Schatten verscheucht, und siehe da, mein Thron stürzte unter mir zusammen. Ich kann, ich mag ihn nicht wieder aufrichten, meine Seelenruhe will ich lieber bewahren und ein neues Leben, wenn anders dies noch lange dauern soll, beginnen. Verzeihung! Vergebung!“ Dann war er davongeeilt.

Die Bewegung im Hofe und in der Umgebung des Rabbi von Sadagora war Rabbi Ber nicht entgangen, zudem war der Verdacht gegen Reb Schmerl immer größer, er ahnte, man werde von seiner Heimat ihm bald nachfolgen, und da er allem Stürmen und Drängen ausweichen wollte, ja vielmehr, da er bei einer hochgradigen Erregung der Gemüter einen Gewaltact befürchtete, bestieg er, in seinen dichten Pelz gehüllt, am Marktplatze ein unscheinbares Fahrzeug und ließ sich unverzüglich nach Czernowitz führen. Hier war er gesonnen, sich zunächst nach einem Rechtsbeistand umzusehen, war ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß eine in Scene gesetzte Agitation die Einmengung der Gerichte zur Folge haben könnte, wenn, wie sein scharfer Verstand ihn ahnen ließ, er von den Chassidim für irrsinnig erklärt werden würde. Der Zufall führte ihn zu einem angesehenen jüdischen Advocaten, dem er sein Begehren kurz auseinandersetzte. Dieser, anfangs erstaunt, erkannte jedoch bald, daß er einen geistvollen, gebildeten, seiner Vernunft und Sinne durchaus mächtigen Menschen vor sich habe, erklärte sich bereit, ihm beizustehen und erbot sich, ihn sogar in Wohnung und gänzliche Verpflegung zu nehmen. Freudig nahm Rabbi Ber, der von nun an „Herr Friedmann“ (das war auch sein Familienname) genannt sein wollte, diesen Vorschlag an, richtete es sich im Hause des Advocaten recht behaglich ein, speiste an seinem Tische von den keineswegs rituell zubereiteten Speisen, was ihm auch ganz gut bekannt war, unterhielt sich mit den hübschen Töchtern des Doctors, ließ sich von ihnen vorspielen und vorsingen und beobachtete keinen einzigen Brauch, den fromme Juden üben.

In Czernowitz und in Sadagora und viele Meilen weit in der Runde war all das bekannt geworden. Die Chassadim geberdeten sich wie besessen; Die Einen bejammerten ihn, den Wahnsinnigen, den Satan überrumpelt, die Anderen fluchten ihm, daß es ein Graus war zuzuhören; einige Spitzköpfe wieder fanden sich, die lächelnd behaupteten, das sei gar nicht Rabbi Ber, sondern der Satan habe dessen Gestalt angenommen, indessen er selbst irgendwo im Geheimen mit Elia Hanowi lerne! Alle Versuche von Seiten des Sadagoraer „Hofes“, auf Rabbi Ber zu wirken, blieben erfolglos. Er wollte absolut keinen Juden im Kaftan empfangen, nur „Deutsche“ durften ihn besuchen und mit ihm sich unterhalten. Wochenlange bot der Platz vor dem Wohnhause des Advocaten, das merkwürdigste, aufregendste Schauspiel dar. Da standen Kopf an Kopf gedrängt Chassidim und Neugierige aus allen Gegenden der Windrose, laut redend und mit einander streitend, und wenn der Rabbi an der Seite des Advocaten eine Spazierfahrt im offenen Schlitten unternahm, folgten Hunderte fluchend dem Fahrzeug.

Rabbi Ber mochte nun mit der Zeit eingesehen haben, daß er denn doch ein wenig zu weit gegangen sei! Die erste Aufwallung seines Blutes hatte sich gelegt und allmählich einer kühleren Ueberlegung Platz gemacht; er wollte nun doch so viele errege Gemüther beruhigen und ließ in Sadagora verkünden, er wolle nunmehr hinkommen, dortselbst in großer Abgeschiedenheit leben, jedoch alle Vorschriften der jüdischen Religion, ja alle Sitten und Gebräuche aufs pünktlichste befolgen, sowie es einem Rabbi zieme, nur wolle er keiner mehr sein. Man möge ihn nicht mit Bitten und Klagen belästigten, man möge sich damit an seinen Bruder wenden, er werde Niemanden empfangen. Und so war es auch. Er zog nach Sadagora. Der Sturm hatte sich gelegt, Viele waren versöhnt, nur die strengen Fanatiker nicht; sie hörten zwar auf zu fluchen; doch wollten sie von ihm überhaupt nicht mehr wissen.

Er aber lebte in stiller Zurückgezogenheit, jedermann unsichtbar, las und lernte was ihm gefiel, bis an sein Lebensende, das wenige Jahre darauf erfolgte. Er ruht neben seinem Vater und sei- nem älteren Bruder, der ihn um mehr als zehn Jahre überlebt hat. –

Auf dem Throne in Sadagora aber sitzt gegenwärtig Reb Abraham Jankes’s Sohn, und ein zweiter Sohn desselben herrscht in einem anderen Marktflecken der Bukowina, zu Bojan; und noch immer ziehen Tausende und aber Tausende dorthin – – – – das „tempora mutantur“ kann sich dort keine Geltung verschaffen! Ob aber einmal doch? und wann? – – –

 

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Feulleton

Meine erste Damenbekanntschaft

Von F. Katz

I.Fortsetzung

In diesem großen Raume brannte nur ein Licht, und zwar vo einem aufgeschlagenen Folianten, sonst war das ganze Beshamidrasch in Finsternis gehüllt. Wie von Furien gepeitscht, ergriff ich die Flucht und lief, was ich laufen konnte, auf die menschenleere, finstere Straße, wobei ich immer das Gefühl hatte, als liefe mir die Wahnsinnige nach. Totenbleich erreichte ich mein Quartier, wo aber sonderbarerweise noch Licht brannte. Dies erschien mir auffallend, da niemals – außer am Freitag abends – in so später Stunde in dem Hause meiner Quartiergeber Licht brannte. Ich betrat erleichtert aufatmend die Stube, aber da bot sich mir ein höchst trauriger und rätselhafter Anblick dar. Die Quartiersfrau weinte bitterlich, ebenso ihre Mutter, eine Frau nahe der Siebziger und ihre zwei ledigen Töchter, die ich in jener Nacht zum ersten Male sah. Nur einer weinte nicht: der Mann. Er saß bleich da und zerrte nervös an seinem kleinen Bärtchen und sprach sonst kein Wort. Auf meine erstaunte Frage, was da vorgefallen sei, erhielt ich anfangs keine Antwort, dann aber begann die Mutter meiner Quartiersfrau szu sprechen und – zu schelten. Aus ihren unzusammenhängenden Worten entnahm ich so viel, daß sich in diesem Hause eine eheliche Szene abgespielt habe, deren Arrangeur mein liebenswürdiger Wirt, der Schwiegersohn, war. In ihrer Herzensnot lief die mißhandelte Frau zu ihrer greisen Mutter, diese weckte auch ihre unverheirateten Töchter und nun saßen sie alle da und beweinten das Mißgeschick der Tochter und Schwester. Man rief mich gleichsam als Schiedsrichter an und ich mit meinen 14  Jahren sollte ein Urteil fällen über einen Mann, der mindestens zweieinhalbmal älter war als ich und der sehr gut mein Vater hätte sein können. Außerdem genoß ich doch in seinem Hause Gastfreundschaft. Die Situation war für mich äußerst peinlich und ich bereute schon im Stillen meine Feigheit, daß ich nicht im Beshamidrasch blieb. Ich beschloß also zu schweigen und mich ganz neutral zu verhalten, um auf keiner Seite Anstoß zu erregen. Ich schwieg und auch der mißratene Gatte und Schwiegersohn. Endlich machte ich den Vorschlag: schlafen zu gehen. Etwas besseres fiel mir nicht ein und stumm dazusitzen, war mir für die Dauer peinlich. Dieser Vorschlag wirkte geradezu Wunder. Denn sofort erhoben sich die Mädchen und verließen das Haus, ihnen folgte die Mutter und ich blieb mit dem Ehepaar allein zurück. Nach einer kurzen Pause verließ auch meine Quartiersfrau das Zimmer und begab sich in das anstoßende Gemach, eine Art Schlafzimmer, wo auch die Kinder schliefen, und ihr folgte ihr gestrenger Ehemann. Anfangs hörte ich noch vom anstoßenden Zimmer ein leises, unterdrücktes Weinen und Seufzen, dann hörte ich nichts mehr. Ich schlief so fest, wie man mit 14 Jahren schläft, ruhig und sorgenlos . . . 

Mit meinem eisernen Fleiße war es zu Ende. Nachts fürchtete ich mich im Beshamidrasch länger als nötig zu bleiben und den kurzen Wintertag schlug ich auf andere Weise tot, so gut es eben ging. Ich begann mich mit Zeitungslektüre zu befassen und las den „Hameliz“, den „Hazefiroh“ und den „Hajom“ und versuchte sogar selber Artikel für diese Zeitungen zu schreiben. Ich hielt mich auch mehr in meinem Quartiere auf und erfuhr bald, daß es eine höchst unglückliche Ehe war, Zank und Streit war dort auf der Tagesordnung und der Störenfried war immer der Mann. Den Grund für diese ehelichen Zwistigkeiten wußte eigentlich niemand. Dagegen war es stadtbekannt, daß dieses Ehepaar sich nicht vertrage. Die Frau schüttete mir oft ihr Herz aus und bat mich flehentlich, beruhigend und besänftigend auf ihren Mann, den Urheber aller Zwistigkeit, einzuwirken. Sie vertraute mir bei dieser Gelegenheit Dinge an, die selbst einem alten Feldwebel die Schamröte ins Gesicht treiben mußten; sie tat es aber, teils aus Unverstand und Unbildung, teils deshalb, um mich als Vermittler gründlich zu informieren. Und die Informationen ließen auch an Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zum Glück habe ich sie damals nicht verstanden. Dabei erfuhr ich über diese Ehe folgendes: der Mann war früher ein armer Talmudjünger, der nichts hatte und nichts besaß als seine Thorakenntnisse. Die Frau war die Tochter eines „Hausbesitzers“, der zugleich eine Brotbäckerei und ein Produktengeschäft betrieb. Er galt in Sch. Als wohlhabend und hatte für jede seiner drei Töchter einige hundert Rubel erspart. Da starb er plötzlich und ließ eine Witwe mit drei unversorgten Töchtern zurück. Die Witwe führte die Bäckerei weiter und die älteste Tochter leitete das Produktengeschäft. 

Dieses Geschäft erforderte auch kleine Reisen, die das resolute und keineswegs unschöne Mädchen gerne unternahm. Auf einer solchen Reise lernte sie – im Wagen – ihren zukünftigen Mann kennen. Anfangs machte sie sich sogar lustig über ihn, seine Ungeschicklichkeit und seine Unerfahrenheit in „weltlichen Dingen“, dann aber kam er nach Sch. und hielt um ihre Hand an und sie heiratete ihn, weil eben das Produktengeschäft durchaus einen Mann erforderte. Der ehemalige Talmudjünger fühlte sich anfangs in der Ehe überglücklich. Hatte er doch ein Weib und auch satt zu essen, einige hundert Rubel und ein gutes Geschäft in Händen! Auf ein solches Glück hatte er nie zu hoffen gewagt. Überdies bemühte sich die Frau, aus ihm einen Menschen zu machen, wie sie sich ausdrückte. Und diese Mühe war auch vom schönsten Erfolge gekrönt. Er legte allmählich seine Schüchternheit ab, gewöhnte sich mit Menschen zu verkehren und sich unter Kaufleuten frei und unbefangen zu bewegen. Aber als er ein „Mensch“ wurde, hörte er auf, ein Kaufmann zu sein. Das Produktengeschäft ging ein und er verlor dabei seine ganze Mitgift. Sein Menschentum hat er teuer bezahlt, mit der Mitgift seiner Frau und dem guten Geschäft seines Schwiegervaters. Es ist eben nicht leicht, Mensch zu sein und vielweniger ein Mensch zu werden. Mit seinem Menschentum erwachten in ihm neue Regungen und Empfindungen, die er früher nicht kannte: seine Frau gefiel ihm nicht mehr und er machte aus seinen Gefühlen gar kein Geheimnis. Er kam unter Menschen, sah andere Frauen und jede gefiel ihm besser als seine Frau. Dieses pflegt zwar häufig vorzukommen und es dürfte vielleicht wenig Ehemänner geben, die nicht im Stillen Vergleiche anstellen zwischen ihren eigenen Frauen und denen anderer Männer, die meistens zu ungunsten ihrer Frauen ausfallen. Aber sie hüten sich wohlweislich, ihre Gefühle laut zu verraten. Anders jedoch mein Quartiergeber. Er sagte es bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit seiner Ehehälfte und allen, die es hören wollten, daß sie ihm nicht gefalle, daß sie häßlich sei und daß jede andere schöner und netter sei als sie. Er beneidete jeden Mann, der eine hübsche Frau sein Eigen nannte und rühmte und pries jede hübsche Frau in Gegenwart seiner Frau, ihrer Mutter und Schwester. Die Frau wendete alles auf, ihm zu gefallen: sie kochte seine Lieblingsspeise, pflegte und bemutterte ihn mit der ganzen Zärtlichkeit eines liebenden Weibes, das seinen erworbenen Besitz mit aller Gewalt sich zu erhalten suchte. Aber vergebens. Die Liebe des Mannes war einmal erloschen und alle verzweifelten Versuche des tiefgekränkten und unglücklichen Weibes, sie wieder anzufachen scheiterten an der Kälte und Gleichgültigkeit des Mannes. Die Frau hätte aber keine Frau sein müssen, um die Stichelreden ihres Mannes und seine hämischen Bemerkungen über ihre Person und ihre Reizlosigkeit ruhig hinzunehmen. Oft, sehr oft ließ sie ihre Geduld und Sanftmut im Stiche; dann pflegte sie ihm seine Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen und ihm zu sagen, was er war und was sie aus ihm gemacht habe, was er durch sie geworden und was sie durch ihn verloren habe: die Mitgift, das schöne Produktengeschäft, ihre Jugend und ihre Tugend.

(Fortsetzung folgt)

 

 

Zur Biographie: Rachel Ka(t)znelson

In: Der Jude, Heft 7-8, 1923, S. S. 439ff.

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Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Oesterreichisches Central-Organ für Glaubensfreiheit, Kultur, Geschichte und Literatur der Juden, 24.03.1848, S. 77f & 89f

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Tran-skription

 

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

 

Die Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin;

und uns ist keine Hilfe gekommen.

Jeremias VIII. 20.

 

Uns ist keine Hilfe gekommen! Die Sonne der Freiheit ist für das Vaterland aufgegangen, für uns nur als blutiges Nordlicht; die Lerchen der Erlösung schmettern in freier Luft; für uns sind es nur kreischende Möven des Sturmes. Schamröthe und bebender Zorn überwältigen uns, denken wir an das Fürchterliche, an das Haarsträubende, was uns die letzten Wochen angethan! Weil knechtische Horden und krämerische Häringsseelen den Geist der Freiheit nicht verstanden und verstehen, müssen wir es büßen. Da sei Gott dafür, daß wir unser Haupt für jeden Keulschlag bereit halten, daß unser Auge vor jedem Blitze unserer großen und kleinen Tyrannen erzittere! Dahin ist es gekommen, daß in der Stunde, die uns die Freiheit ins Land gebracht, kein anderer Wunsch in uns ist, als: dieser – Freiheit aus dem Wege zu gehen!

Sie wollen es nicht anders und so sei es! Nicht das erste Mal ist es, daß wir ihrem Willen nachgeben. Seit Jahrhunderten ist unsere Geschichte nichts Anderes, als ein stummes Bejahen auf jede uns aufgelegte Qual, auf jede Folter und Beschränkung! Aber immer bejahen, immer den Kopf neigen? Den Nacken krumm behalten und die Hände wie zum Gebete gefaltet? Wir wollen einmal mit Erlaubnis des »souveränen Volkes« die Geduld verlieren, wir wollen einmal verneinen – und dann aus dem Wege gehen!

Nach Amerika nämlich! Erkennet, die ihr das Wesen der Geschichte nicht verstehet, darin ihren Fingerzeig, daß vor vier Jahrhunderten eben als man die Juden am heftigsten verfolgte, ein Ge- nuese in seinem heißen Gehirne den Schöpfergedanken einer neuen Welt aushecken mußte, daß es ihm nicht Ruhe gönnte, bis eine spanische Königin, deren Gemal die finstere Gestalt eines Torquemada und seiner mit dem Blute tausender unserer Brüder befleckten Dominikaner heraufbeschworen, bis, sagen wir, Isabella von Spanien ihrem Admiral erlaubte, Amerika zu entdecken. Nach demselben Amerika geht nun unsere Sehnsucht, dahin sollet ihr ziehen! »Auf, nach Amerika!«

Wir kennen alle eure Einwände, alle eure Erwiederungen! Aber nur der Kleingläubige und Schwachmüthige werden sie thun, der Muthige, der Gefaßte nicht! Und keinen anderen Rath könnt ihr uns geben, fragen jene, als den Wanderstab zu ergreifen und mit Weib und Kind das ferne, fremde Land aufsuchen? Die Scholle, die uns geboren, genährt, darin wir unsere Todten begraben, sollen wir verlassen? Mich dünkt, schon etwas von den Fleischtöpfen Ägyptens zu hören, von den Goldbrühen und Saftbraten den Brodem einzuathmen – aber ich sehe auch die Leute, die das Feuer schüren, und aus den Flammen des Hasses, des Vorurtheils und der Beschränktheit sein tägliches Gericht holen, bei Gott, wem darnach der Gaumen steht, der bleibe und füttere sich!« –

Zwei Sätze sind es, die in dieser Zeit uns als Ausgangspuncte dienen können. Den einen sagt Moses: »Stehet fest und still;« den andern Jeremias: »Die Ernte ist vergangen und der Sommer ist dahin und für uns ist keine Hilfe gekommen.« Welchem Satz gebt ihr dem Vorzug? Stillstehen und harren, geduldig harren, bis alle uns widerstehenden Interessen versöhnt und gesühnt, bis der Geist der Humanität Sieger geworden? oder, da »uns keine Hilfe gekommen« sie uns aufsuchen – und nach Amerika ziehen?

Mich dünkt, die beiden Sätze lassen sich gar wohl vereinigen! Mögen diejenigen in unserem Vaterlande, die »fest, still stehen« wollen, diesen Standpunct in den Sand der Zukunft gründen! Wir wollen sie daran nicht hindern, wir wollen ihnen selbst Bausteine dazu liefern. Aber den Andern, den Bedrückten und Bedrängten, den Verjagten und Verarmten und Geplünderten in den bekannten Gemeinden, allen, denen die »Freiheit« Unheil gebracht, allen, denen das Herz sagt: noch lange nicht werden wir Ruhe genießen im Vaterlande, wir können uns sobald nicht ändern, sie auch nicht, Jahrzehende sind nothwendig, um die ersten Vorbereitungen des Friedens zu treffen, allen diesen sagen wir: für uns ist keine Hilfe gekommen. Suchet sie im fernen Amerika auf!

Der Gedanke ist nicht neu. Wir wissen es; aber er ist dafür praktisch. Schon vor längerer Zeit hat man Rothschild die Ehre erweisen wollen, als Gevatter diesem Gedanken zu stehen. Er hat die Ehre nicht angenommen – aber wozu Rothschild? Warum nicht auswandern ohne Rothschild? Dem Bedürfnis auszuwandern, der Nothwendigkeit fortzuziehen, kann Rothschild keinen Vorschub thun; er kann unterstützen, forthelfen, Mittel sein. Aber den Zweck, den müßt ihr ohne Rothschild suchen. Ihr werdet unterstützt werden, die ihr bedürftig seid – aber dies ist Mittel und nicht Zweck. Die Auswanderung, die Gründung eines neuen Vaterlandes, die augenblickliche Er- ringung der Freiheit ist Zweck!

Was ihr in Amerika thun werdet, das gehört nicht in die Zeilen dieses Aufrufs. Es soll nur ein Nothsignal, eine Lärmkanone oder wenn ihr wollt ein Musikton in dieser wildgestörten Zeit sein. Werdet Ackerbauer, Handelsleute oder Handwerker, Hausierer oder Mitglieder des Waschingtoner Kongresses, Wechselagenten oder Vicepräsidenten des nordamerikanischen Freistaates, werdet Baumwollpflanzer oder Zuckerraffineurs, das geht Euch, aber nicht uns an. Auch in dem Euch zugewiesenen Vaterlande wird Euch Niemand darum befragen; denn dort gilt der Mensch was er ist, und er ist, was er vorstellt. Vor Allem aber werdet frei und geht nach Amerika!

Tausende haben diesen Schritt vor Euch gethan und thun ihn noch! Verhältnismäßig haben ihn noch Wenige bereut. Über Euch wird der Gott Eurer Väter wachen. Er wird Euch sicher über die Fluten des Meeres, über die ersten Drangsale eines neuen Lebens geleiten! Mir ist nicht bange um Euch! Gerade ihr besitzet die Eigenschaften und Tugenden: Umsicht, Nüchternheit, Sparsamkeit, Zucht und Anhänglichkeit, die dort Euer Gedeihen und Euren Wohlstand aufbauen werden. Andere sind dort verfallen und verkommen, aber ihr werdet blühen und wachsen; mit Euch wird der Gott der Freiheit sein!

Im Geiste grüße ich schon Eure Kinder, die Kinder der Freigewordenen. Salem Alechem!

Aber helle Glut durchströmt mich, denke ich an die frei gebornen Kinder, denke ich an die Mütter, die sie Euch darbieten.

Darum, mitten durch die Gräuel der letzten Wochen, durch die Reihen der Euch Auflauernden, Verjagenden und Bedrängenden der »Freiheit eine Gasse« und auf, nach Amerika! *)

L. Kompert.

*) Eben während dieser Aufsatz zur Presse kömmt, lesen wir aus Pesth: Es hat sich in Folge der neuesten Zeitwirren ein Verein zur Auswanderung nach den vereinigten Staaten Nordamerikas gebildet, welcher zwar größtentheils Bekenner des mosaischen Glaubens, aber auch sehr viele christliche Professionisten und Techniker als Mitglieder zählt.

Auf, nach Amerika.

II.

Im Drange des Augenblickes, wohl auch unter dem Einfluss der von allen Seiten wie Keulschläge aufeinander schmetternden Ereignisse haben wir unsern Aufruf, das Land der Unfreiheit und der Sorge zu verlassen und die transatlantische Heimat aufzusuchen, an alle Verjagten und Bekümmerten in Israel erlassen. Es war vielleicht, indem wir dieses thaten, nur ein instinktmäßiges Antwortgeben auf die Fragen so mancher gedrückten Seele, in der das: »Fort, fort!« wie ein unge- duldiger Gläubiger pocht. War die Antwort aber eine richtige? Zeugt es überhaupt von einem rich- tigen Erkennen der Zeit, wenn wir zur Auswanderung rathen? Die Bewegungen und Stürme dieses Jahres gehen so ins Maaß- und Endlose, daß selbst die weit sehende Berechnung eines trefflichen Verstandes verwirrt und unklar wird. Für nichts läßt sich einstehen; selbst der Haß, selbst das Vorurtheil und die Beschränktheit können es sich nicht verbürgen, ob nicht die Judenfrage trotz ihrer Opposition heute oder morgen eine unerwartet günstige Wendung nimmt. Ja wir, die den Aufruf: »Nach Amerika!« gethan, wir leben der sichersten Überzeugung, daß die kürzeste Zeit über unsere Emanzipation den entscheidend höchsten Wurf gethan haben wird!

Dennoch stehen wir keinen Augenblick an, den Ruf: »Auf, nach Amerika!« dringender als je zu wiederholen. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eben die Lösung der Judenfrage eine so ungewisse ist. Zehn tausend Menschen, die durch ihren Auszug nach Amerika alsogleich sich die Freiheit erringen, sind für uns ein größerer Gewinn, als wenn Hunderttausende noch Jahre lang ohnmächtig oder zähneknirschend sich in Sehnsucht und Drang verzehren. In Büchern, in Romanzen und Legenden nimmt sich das gar schön aus, wenn Einer dem Andern zu Gefallen seine Freiheit ausschlägt, sich, ihm zu Gefallen, einsperren und abhungern läßt, mit ihm seufzet und klagt. In der Wirklichkeit erscheint so etwas als krankhafte Empfindelei, wenn nicht als Verbrechen. Ein Mensch, der frei werden kann, begeht das größte Unrecht, wenn er es nicht wird; ein frei gewordener Mensch ist ein Gewinn, der sich auf hundert, ja auf tausend Menschen vertheilt; die Ausrede, mit leiden zu wollen, wo andere leiden, hat keine Geltung und verräth Feigheit. Wer die Initiative der Freiheit ergreift, nützt mehr, ist zugleich Fahnenträger für tausend Andere! Und von diesem Gesichtspunkte aus wiederholten wir, nach reiflicher Überlegung, unsern Ruf: »Auf, nach Amerika!«

Das ist aber nur die eine, und gewiß nicht. die bedeutungsloseste Seite der Auswanderung Die nämlich: Den Muth der Zurückbleibenden zu stärken, ihnen mit dem Beispiele voranzugehen nicht etwa ebenfalls auszuwandern, aber die Freiheit zu erringen. So furchtbar haben sich unsere Verhältnisse gestaltet, so wenig hat sich noch die Lage geändert, daß wir die Verlierenden und Verlusttragenden, selbst da, wo wir Tausende unserer Brüder in ungewisse Weiten, zum Kampfe mit den Entbehrungen und Drangsalen eines neuen Lebens müssen ziehen lassen, daß wir selbst da auf Gewinn hoffen – den Gewinn unserer Freiheit. Oder ist dem nicht so?

Diese Seite der Auswanderungsfrage schrumpft aber beinahe zu einer unwesentlichen zusammen, im Hinblicke auf die wirklich Freiwerdenden. Ohne alles Zuthun, bloß durch die Gewalt des selbsteigenen Willens erhält hier unsere Emancipationssache eine Lösung, wie sie unter den gegenwärtigen Zuständen sie nicht zu hoffen hat. Mit einem Male frei werden, ohne alles Hinhalten, ohne parlamentarisches Für und Wider, ohne Sympathien und Antipathien, gleich und auf der Stelle, sobald das Schiff seine Anker wirft und der Ocean seine Scheidungsmauer abgrenzt. Sagt das doch diesen Leuten, sagt das alle den Verkümmerten und Trauernden, daß sie mit Vertretung des transatlantischen Bodens alsogleich freie Menschen, Bürger eines freien Staates sind, erhebt ihre Seelen mit diesem Klang, erwärmt damit namentlich unsere armen, unmenschlich geplagten armen Juden, bietet, denen die Sache heiliger Ernst ist, alle Schätze eurer Rede, alle Pfeile eurer Überredungskunst auf, um sie zu versichern, zu bestärken und hinzulenken auf den Ruf, den ihr ihnen wiederholen sollt: »Auf, nach Amerika!«

Kann man von der Freiheit leben? werden sie euch fragen. Antwortet ihnen: ja, ja, man kann leben. Bisher habt ihr in der Unfreiheit mehr vegetirt, als gelebt und selbst diesen Zustand, entwürdigend, aufreibend und gräßlich wie er war, schwankend zwischen Demuth und Beschränkung, zwischen Sonnenblicken und Finsterniß hat man euch vergällt und verbittert. In diesem Vegetiren seid ihr ihnen noch zu viel gediehen. Erst in der Freiheit werdet ihr leben. Ja, man kann von der Freiheit leben, besonders der Jude kann es. Wie werdet ihr gedeihen, wachsen und blühen! Ob man von der Freiheit leben kann? Nur von ihr – sie ist das eigentliche Lebenselement!

Wir haben es schon in einem frühern Aufsatze nachgewiesen, wie der Organismus des Judenthums, dem wir krankhafte Auswüchse und Gebreste keineswegs absprechen wollen, zu seiner Heilung und Förderung der nach allen Seiten unbeschränkten Thätigkeit, mit der vollsten Freiheit bedürfe. Sagt das allen, an die ihr euch wendet, daß sie diese in Amerika finden in einem Maße, das seit beinahe einem Jahrhundert der Sehnsuchtausdruck aller Europäer ist. Aus Deutschland z. B. ziehen jährlich tausende von Bauern über den Ocean fort nach der neuen Welt; Bauern, die Haus, Hof, Acker besitzen; die sie veräußern und verwerthen; ganze Dörfer entleeren sich oft. Diese beschränkten Naturen in ihrem überseeischen Drange waren sich ihres Strebens gar wohl bewußt, bewußter wohl, als manche auf allen Instrumenten der Zeitideen es versuchenden Freiheitshelden. Sie wollten frei sein, und tausende von ihnen, hätten sie ihren »Herrschaften« und Beamten, ihren Frohnvögten und Steuereintreibern nicht den Rücken gewandt, stünden jetzt in Waffen gegen sie und der Struve-Hecker’sche Anschlag hätte wahrscheinlich einen Ausgang genommen, der den Entwurf des Reichsgrundgesetzes, wie ihn der Siebzehnerausschuß in Frankfurt jetzt vorgelegt, wesentlich verändert hätte.

Führt doch unseren Leuten das Beispiel dieser deutschen Bauern vor! Unterrichtet sie doch in dem, was Freiheit ist. Sagt ihnen, daß keine Thätigkeit, vorausgesetzt, sie sei eine ehrenhafte, in Amerika eine Grenze findet, sagt ihnen, daß jüdische Betriebsamkeit, Vorsicht, Nüchternheit und Sparsamkeit in Amerika kein blutgieriges, plünderlustiges Auflauern hervorruft, sagt ihnen, daß Amerika groß genug ist, um nach keinem Glaubensbekenntnisse, keiner Zunft, keiner bestimmten und abgegrenzten Thätigkeit zu fragen; erklärt dem »gemeinen Manne« daß er die Religion seiner Väter mit hinübernehmen kann, wo er Tausende findet, mit denen er sie ausübt, daß das Juden- thum dort nicht wurzellos und entzweigt dasteht und endlich, daß doch früher der Mensch kommt, dann Religion, Staat u.s.w.

L. Kompert.

 

 

Indem wir die hochwichtige Angelegenheit, welche diese Zeilen besprechen, Allen empfehlen, die ein warmes Herz für die trostarme Lage der Juden haben und die Auswanderung, im Großen oder in kleinern Gruppen mit uns als das wünschenswertheste nachhaltigste Mittel anerkennen unseren bedrängten, verfolgten, erwerbslosen Brüdern beizustehen und eine besser Zukunft vorzubereiten, indem wir sie Allen ans Herz legen, welche selbst auf die Auswanderung, als ihren Erlöser harren, und nur jetzt noch durch Verhältnisse an das Land gefesselt sind – das sie ausstoßt und ihnen jedes Recht des Bürgers versagt, Allen endlich, welche diese Sache mit Rath, mit Wort und That unterstützen können und wollen, sprechen wir die Bitte aus: Es möge jeder dafür Stimmende sich mit den in einigen größern Gemeinden bildenden Comités für Auswanderung in Verbindung setzen, und selben ihre Spende, die gewiß die reichsten Früchte tragen wird, recht bald zukommen lassen. Auch das Comptoir dieses Blattes ist zur Annahme solcher Beiträge bereit, wird selbe ungesäumt dem sich hier bildenden Comité zustellen und durch einige der verbreitetsten Journale zur allgemeinen Kenntniß bringen.

Die Redaktion.

 

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Sonntagsblätter, 5. Jahrgang, Ausgabe 7 vom 15.02.1846, S. 149-154

Stichwörter: Sprachkultur, Okzident-Orient, böhmisch-jüdisch

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Umsonst versuchten wir es hier, die etimologische Abstammung des Wortes Schnorrer zu beweisen; es hat keine, oder es hat deren zu viele, wie der Jargon, dem es angehört, das vielfarbige Kind von tausend Eltern ist, ein Augiasstall aller Sprachen des Morgen- und Abendlandes, eine chirurgische Stube voll zerbrochener und verrenkter Gliedmaßen, worunter nur zuweilen eine gesunde Nase oder ein ganzes Schlüsselbein bunt abenteuerlich dazwischen läuft. Dieser Jargon, wir wollen es nicht verhehlen, es ist derselbe, den man nicht nur in den Ghettos, sondern überall in den deutschen Landen, wo man ihm nicht durch verbriefte Privilegien die Thüre vor der Nase zuschlägt, auf Straßen und Gassen zu hören bekommt. Dieser Jargon hat trotz aller Verrenktheit und Verzerrtheit, trotz aller mißtönenden Laute, so viel gesunde, kräftige, drastische und karakteristische Worte und Begriffe, er besitzt einen solchen Reichthum von Witz, enkaustischer Ironie, und jeder andern Sprache mangelnden Satirismen, daß sich vielleicht nur daraus die keineswegs erstorbene Vorliebe für ihn selbst bei dem Gebildeten herleiten läßt. Heine und Saphir haben hie und da gezeigt, wie man mehre solcher Worte sogar der deutschen Sprache einverleiben konnte, und in der That würde man ihr vielleicht nicht so bedeutend Gewalt anthun, wollte man die mit einigen Bedeutungen versuchen, die den Begriff viel straffer, drastischer und wirksamer bezeichnen, als in der eigenen Sprache. Fürwahr ein impium desiderium! Man betrachte z. B. dieses Wort: „Schnorrer“ – wie leicht und treffend hätte man damit das ganze Proletarienthum und den Pauperismus bezeichnen können, dem sie in neuerer Zeit so gewaltige Bissen in den Mund schieben. Was wissen die, die es angeht, von Pauperismus und Proletarienthum? Aber Schnorrer würden sie sehr gut verstehen, das Wort sagt Alles und noch mehr, als in dem ganzen Pauperismus liegt; es hat sogar die deutschen Endlaute für sich und ließe sich bei den Zeitumständen vortrefflich einbürgern.

Diese Art Leute mußten sich durch ihre Schnurren und Witze auf Hochzeiten, Beschneidungen und andern Festlichkeiten ihre Nahrung suchen. Anfangs bildeten sie wohl ein eigenes Handwerk, wie die Meistersänger im Mittelalter; später nahmen jedoch Bettler jeden Geschlechtes die Weise an, womit diese jüdischen Schalksnarren so trefflich bestanden. Sie schnorrten – obwohl ich recht gut weiß, was im Adelung über diesen Punkt steht: schnurren gehen ist so viel als betteln; in der rothwälschen Diebessprache schnorren. Wahrscheinlicher aber ist die Herleitung von Schnurre.

Schnorrer bedeutet so viel als armer Mann, im weitern Sinne herumziehender Bettler, einer, der auf die Wohlthaten Anderer angewiesen ist. Wir wollen sie hier nur im weiteren Sinne vorführen, das heißt als vagirende Bettler, wie sie einen der Grundtöne in dem vielfarbigen Gemälde des jüdischen Volkes bilden. Für das jüdische Leben sind die Schnorrer das, was die Geusen im 16. Jahrhundert für die Niederlande waren, jedoch ohne politischen Hintergrund. Jahr aus, Jahr ein sieht man Tausende von diesen wandernden Bettlern das ganze Ländergebiet der österreichischen Monarchie durcheilen, überall einkehrend, wo sie eine verwandte Seele herauswittern, Zugvögel, die bald hier, bald dort erscheinen, sich niederlassend, wo ihnen etwas winkt, und fortziehend, nachdem man sie befriedigt. Diese Bettler sind von jenem Gesetze selbst begünstigt, das da vor Jahrtausenden schon sagte: Sei wohlthätig gegen die Armen. Nie ist aber auch ein Gesetz vollkommener und buchstäblicher verstanden worden, denn diese „Schnorrer“ sind ganz auf die Unterstützung ihrer jüdischen Mitbrüder angewiesen. Sie sind eine Art Brandschatzer, die die Geldbeutel ihrer Stammgenossen in Kontribuzion versetzen. Man wird es auch aus Nachstehendem ersehen, mit welch lebendiger Liebe und unvergleichlicher Mildthätigkeit man diesen fahren- den Bettlern entgegenkommt, wie nach so vielen Stürmen und Wehen der alte, nie gebrochene Baum dieses Volkes sproßt und Keime treibt.

Diese herumziehenden jüdischen Bettler bilden eine der interessantesten Menschenklassen – voll Kekheit, Anmaßung, Witz, Humor, Schlauheit, Verstellung und allen jenen Eigenschaften, wie sie die Natur dem Bittenden gegenüber dem Gebenden zu verleihen schien. Das Vaterland dieser Schnorrer anzugeben wäre vergebene Mühe, sie komme aus allen Ländern und Gebieten hergeweht, ein ächtes Vagabundenvolk. Das größte Kontingent zu dieser Schnorrerarmee liefern Ungarn und Gallizien; man kann die Anzahl derer, die jährlich aus diesen beiden Ländern auswandern, um das edle Waidwerk des Bettelns zu betreiben, auf einige Tausende anschlagen; weniger ist Mähren, am wenigsten Böhmen selbst vertheilt. Vielleicht eben darum bietet dieses Land ein so gefälliges Stelldichein für die Alle; wie eine Heuschrekenwolke lagern sie darauf, nicht zu bestimmten Zeiten, sondern Jahr aus, Jahr ein in unabsehbaren Haufen. Karawanenweise durchziehen sie dieses Land nach allen Richtungen und Krümmungen, in Begleitung von Weib und Kindern; da wird keine Gemeinde, kein Dorf, selbst der entfernteste Pachthof nicht verschont. Es ist nicht eine Straße in Böhmen, worauf man nicht mehre dieser Wandervögel im vollsten Zuge erblikte, es ist, als wäre dieses Land nur für Marodeurs, worin jeder nach Lust und Belieben pfänden und brandschatzen kann.

Sobald sich Jemand zum „Schnorrer“ berufen fühlt, geht er auf das Amt seines Vaterortes und holt sich von dort einen Paß. In diesem Passe wird dem Vorzeiger dieses gerichtlich bestätigt, daß er berechtigt sei, als fahrender Bettler herumzuziehen. Hat der Schnorrer einen solchen Freibrief an die Geldbeutel seiner Stammgenossen erlangt, so bricht er aus seiner Heimat auf, läßt entweder sein Weib in treuer Freunde Obhut zurük, oder heißt es und die Kinder mitziehen, damit sie ihm in seinem trefflichen Vorhaben hülfreiche Hand böten. Da wird keine Rüksicht darauf genommen, ob die Kinder die Strapazen einer so weiten Reise werden ertragen können, ob sie krumm, blind oder taub sind – je mehr, desto besser, desto stärker kann er an das allgemeine Mitleid appelliren. Mit den wenigen Habseligkeiten auf dem Rüken, an der einen Hand ein Kind, in der andern einen Wanderstab haltend, schreitet der Mann einher, während das Weib einige Schritte hinter ihm hergeht, ein Säugekind an die Brust gelehnt oder ein Wägelchen rollend, woraus, in schmutzige Kissen gebettet, ein gar verkrüppeltes Geschöpf miserabel hervorlugt. Eine solche Familie hat, bei ihrem Herausgehen aus dem Vaterorte, oft nicht mehr, als womit sie ein dürftiges Nachtlager in der nächsten Herberge bezahlen kann; aber Muth und Vertrauen belebt sie und die erste, die beste Gemeinde, die sie berührt, bringt ihr Ueberfluß und Nahrung. Der Schnorrer verzweifelt nie – er kennt sein Volk. Ein Maler könnte sich oft keine lebendigeren Genrebilder wünschen, als sie diese wandernden Schnorrer bieten. Namentlich unter den polnischen Männern findet er eine Masse der schönsten und ausdruksvollsten Köpfe, weniger schön sind die Weiber. Hier hat Elend, Wettersturm und Mühsal die vielleicht einst schönen Züge vor der Zeit verwelken gemacht; aber blikt man auf diese von Lumpen umhüllten Glieder und in dieses zu früh zerstörte Antlitz, so wird man oft von dem unnennbar eigenthümlichen Ausdruke betroffen, der darüber lagert. Das Auge vorzüglich gemahnt oft an den funkelnden Edelstein, der in einer Kothlake liegt. Die Beschäftigung eines Schnorrers ist sehr einfach. Die Wochentage benützt er dazu, um Almosen einzusammeln; da sind es die kleineren Gemeinden und einzelnen Höfe, denen er seinen Besuch abstattet; aber neigt sich die Woche zu ihrem Ende, so sucht er es stets so einzurichten, daß er in eine größere Gemeinde einmündet, um in ihrem Schooße den Sabbath zuzubringen. An diesem Tage verbietet ihm das Gesetz zu wandern – man wird sogleich sehen, wie trefflich dieser Tag dem Schnorrer zu Statten kommt.

Sobald der Schnorrer in einer Gemeinde anlangt, begibt er sich sogleich in die sogenannte „Schlafstube,“ die zum Behufe dieser fahrenden Gäste eigens unterhalten wird, ein Etablissement, wo er für einige Kreutzer ein Nachtlager haben kann. Hier legitimirt er sich vor dem Herbergsvater, der gewöhnlich der Sinagogenküster ist, durch Paß und andere Papiere, und wird von ihm mit dem schönen Gruße, der auch den Arabern eigenthümlich ist, bewillkommt: Salem alekem (Friede sei mit euch.) Nachdem er da sein Gepäke abgelegt, begibt er sich zu dem Gemeindekassier, um sich bei ihm die Anweisung auf seine Sabbathkost abzuholen. Es besteht nämlich in jeder etwas größeren Gemeinde die Einrichtung, daß jedes verheiratete Mitglied, sobald es in den Verband der Steuer- und Abgabenpflichtigen aufgenommen ist, sich zu einer gewissen Anzahl von Sabbathen verpflichtet, d. h. zu einer gewissen Anzahl von diesen Schnorrern, die er über den Sabbath mit Kost versorgen will. Natürlich richtet sich dies immer nach den Vermögensumständen des Individuums; aber selbst der weniger Bemittelte übernimmt einige solcher Tage, um sich im Weigerungsfalle nicht selbst ein testimonium paupertatis auszustellen. Zu diesem Behufe schreibt man nun seinen Namen auf so viel Zetteln auf, als man sich zu Sabbathen verpflichtet; diese Zettel werden zusammengerollt, und mit denen der andern Gemeindeglieder in eine verschlossene Schachtel gethan. Sobald nun der Schnorrer zu dem Kassier kommt, wird die Schachtel geöffnet, damit er nach Belieben wähle. Der Zettel wird nun aufgerollt und der Kassier deutet dem Schnorrer an, wohin er zu gehen habe, um seine Sabbathkost zu empfangen. Mit dieser Anweisung macht sich der Schnorrer auf den Weg und erkundigt sich auf der Gasse nach der Familie, die ihm bezeichnet ist. Dort übergibt er den Zettel der Hausfrau oder dem Hausherrn, und die laden ihn auf den Abend zum Tische ein. Karakteristisch genug heißt dann ein solcher Schnorrer „Gast.“ Die Hausfrau bedeutet dann ihrer Köchin, eine größere Quantität Fleisches zuzurichten und sonst zu den Speisen ein Erklekliches hinzu zu thun, denn man habe einen „Gast“ bekommen.

Nachdem dieses wichtigste aller Geschäfte glüklich vorüber, geht der Schnorrer wieder in seine Schlafstube zurük. Hier findet er bereits mehre Kollegen, theils angekommene, theils anlangende, alle mit dem nämlichen Zweke, den Sabbath in der Gemeinde zu feiern. Da sitzen einige, die bereits versorgt, auf Tischen und Bänken umher, und erzählen und befragen sich gegenseitig um Vaterland, Verhältnisse und Schiksale; andere sind bereit, sich zum Kassier zu begeben, besorgt, wie es scheint, ob ihnen noch ein guter Hausherr zu Theil würde; andere neue Gäste langen erst an. An einem solchen Freitage steht die Schlafstube nie leer. Da noch einige Stunden bis zum Abendgottesdienste fehlen, der zur Vorfeier des Sabbaths an jedem Abende des Freitags gehalten wird, so sucht diese der Schnorrer so gut als möglich zu benutzen, um sich nach Kräften herauszuputzen, damit er im Hause des Herrn gereinigt erscheine. Er nimmt den Bart durch die gründliche Salbe hinweg, ein Gemische aus gelöschtem Kalk und Aurum, glänzt seine Schuhe und bürstet den Staub von seinen Kleidern. Ist die Zeit des Gottesdienstes endlich gekommen, so begibt er sich in die Sinagoge, wie er einen der untern Plätze, gewöhnlich gleich an dem Einfange einnimmt. Während des Gottesdienstes benimmt sich der Schnorrer mit aller Frömmigkeit und Devozion; er bükt und beugt sich nach allen Seiten, sagt seine Gebete laut her, damit Aller Augen auf ihm ruhen. Nach geendigtem Gottesdienste bleibt er in tiefster Demuth an der Schwelle des Gotteshauses stehen, und wartet, bis die Anderen hinausgegangen. Nun ereignet sich eine Szene, die wir nicht weglassen dürfen, weil sie einen bedeutenden Pendant zum Karakter eines Volkes bildet, das von jeher im regen Zusammenhalten sein politisches Dasein fristet. Ein jeder der Vorübergehenden strekt seine Hand dem Bettler entgegen und drükt die seine, und bewillkommt ihn mit dem trefflichsten aller Grüße: Salem alekem. Selbst der Reichste in der Gemeinde hält sich nicht für hoch genug, diese Bewillkommung einem Stammgenossen zu verweigern, dem er aus Gnade morgen die Mittagskost reicht. Wir wissen nicht, ob diese Sitte noch überall in gleicher Kraft ist – schwerlich dürfte aber der Schnorrer von der Hand eines jener papierenen Könige, die über Koupons und Akzien gebieten, einen Gegendruk zu erwarten haben. Das ist aber modern!

Nun begibt sich der Schnorrer zum Abendessen. Ein interessanter Augenblik in seinem Leben! In der Wohnung seines Hausherrn, der ihn zum Tische geladen, steht der Tisch, mit weißen Linnen bedekt, bereits gedekt; die Speisen des Sabbaths strömen aus der benachbarten Küche ihren Duft in die Stube, die vom Scheine der siebenzinkigen Lampe, oder flammenden Kerzen heimlich schön beleuchtet ist. Wie wohl mag es ihm da um’s Herz werden! Die ganze Woche dem Unbill des Wetters mit den Mühen einer Fußreise preisgegeben, und nun auf einmal in einer warmen, sabbathduftenden Stube, an einer wohl besetzten Tafel; mitten unter einer Familie; Wir erlassen den Kommentar zu einem solchen Verfahren! Nachdem man sich gewaschen und den Segen gesprochen, setzt man sich, wobei dem „Gaste“ einer der untern Plätze an dem Tische eingeräumt wird. Die Hausfrau übernimmt nun die edle Sorge für seinen Magen; es wird ihm von den reichlich aufgetragenen Speisen so viel aufgenöthigt, als sich ohne Gefahr thun läßt. Während des Essens hat der Schnorrer ein strenges Verhör, um Namen, Vaterort, Weib und Kinder u. s. w. zu bestehen, wobei denn der Schalk oft Dinge vorbringt, die der edlen Wahrheit eben nicht genügen mögen. Zuweilen ergötzt er auch den Hausherrn durch allerlei Witze, Anekdoten, talmudische Spitzfindigkeit und Schnurren allerhand von so drastischen, zwerchfellerschütterndem Inhalte, daß den Leuten darüber Essen und Trinken vergeht. Man muß diese köstlichen, witzsprühenden Anekdoten, namentlich die auf polnischem Gebiete spielen, verstehen und in ihre Feinheiten eingehen, um zu gestehen, daß hier nichts Gewöhnliches geleistet wird. Von diesen Schnurren mag auch der Name Schnorrer nicht herleiten, da diesen Leuten in frühern Tagen die Rolle der Hofnarren zugekommen sein mochte. Die köstliche Unterhaltung, die er aber dadurch der Familie verschafft, kommt dem „Gaste“ sehr gut zu Statten.

Beim Weggehen werden ihm noch die Ueberbleibsel der Speisen in die Tasche gestekt, und die Hausfrau schneidet noch ein großes Stük vom dem weißen Brode ab, das für den Sabbath eigens gebaken wird. Auf dieselbe Weise geht auch der folgende Tag, der Sabbath vorüber. Wie am vorhergehenden Abend besucht er wieder die Sinagoge, mit derselben Frömmigkeit und Devozion, wo möglich in noch verstärkterem Maße. An diesem Tage ereignet sich oft eine Szene ganz eigenthümlicher Art. Man weiß vielleicht, daß, nachdem die Stämme Israels in alle Enden und Eken der Welt zerstäubt und verweht wurden, so daß selbst ihre Namen untergingen, ein Stamm sich erhalten haben wollte, der der Priester und Leviten. Noch heut zu Tage führen diese den alten Namen, ob mit historischem Recht oder Unrechte, wissen wir nicht. Als die ehemalige Leiterin der Theokratie genießt diese Kaste noch jetzt einige, freilich sehr unwesentliche Vorrechte; so wird zum Beispiel beim Verlesen der Gesetzesrolle der Priester zuerst aufgerufen, hernach kommt der Levite und nach ihnen erst das gemeine Volke der Israeliten. Nun trifft es sich zuweilen, daß in manch kleinerer Gemeinde kein Priester sich vorfindet. Da kommt aber der „Schnorrer“, gibt sich als solchen zu erkennen und sogleich wird sein Name verlesen und der Vorzug des ersten Vortretens kommt ihm zu. Man erinnert sich, daß in den Büchern Moses ein Kapitel vorkommt, worin der Profet unter den schreklichsten Strafen, Plagen und Drohungen den Fall Israels voraussagt, wenn es je von seinen Geboten abweichen würde. Aus Vorurtheil oder Aberglauben will nun Niemand zu diesem Kapitel vorgerufen werde, weil sich vielleicht ein Theil des Gelesenen an seinem Theile erfüllen könnte. In solchen Fällen übernimmt der „Schnorrer“ die ganze Verantwortlichkeit auf sich – er tritt vor, wenn kein Anderer will, und auf sein Haupt ladet er die ganze Masse von Flüchen und Drohungen, von denen jenes Kapitel überfließt! Man sieht also, daß er trotz seines vagen Lebens dennoch eine Stellung einnimmt. Wenn so ein Sabbath heilbringend für den Magen des „Schnorrers“ gewesen, so ist es der nächstfolgende Sonntag noch mehr für seine Tasche. An diesem Tage bricht er wieder auf, bevor dies aber geschieht, stattet er allen Gemeindegliedern seinen Besuch ab, um Almosen für seine Wegzehrung zu empfangen. Oft aber befriedigt ihn das Geschenk mancher sparsamen Hausfrau nicht – da ergrimmt sein Zorn und mit den Geberden eines dazu Berechtigten wirft er ihr das Geldstük zurük und schleudert ihr eine Fluth von Flüchen zu. Vergrößert sie nicht das Geschenk, so vermehrt sich seine Insolenz; bis zum Zweke gelangt. Denn die Hausfrau fürchtet, die Flüche des Bettlers könnten wahr werden, und Gott erhört zumeist seine Worte!

Wohin aber der Schnorrer am liebsten seine Schritte richtet, das sind die Wohnungen der „Randars“. Dieses Wort ist der verdorbene Ausdruk für Arendator, einer jenen Besitzer oder Pächter von herrschaftlichen Branntweinhäusern, wie man sie in Böhmen überall findet. Diese Randars sind gewöhnlich über Maß mit zeitlichen Gütern beschenkt; „er ist ein Randar“ reicht hin, um ei- nen Begriff von Wohlhabenheit und Reichthum zu erweken. Die Wohnungen dieser Krösusse hegen aber eine Fülle von landschaftlicher Poesie in sich, wie sie ihr erster Anblik vielleicht nicht glauben läßt. Sie sind in gewisser Hinsicht jüdischer Klöster;* wie der Arme und Hungrige von jeher in der stillen Vorhalle der Mönche seine Suppe erhielt, so empfängt hier jeder Vorüberreisende, der einspricht, mehr als dies. Der „Randar“ ist gewöhnlich ein wohl gemästeter, jovialer Mann, der gerne lacht und lustige Geschichtchen hört. Diese Eigenheit des Randars kennt nun der Schnorrer sehr gut und weiß sie auch trefflich zu benützen. Bei ihm spricht er am liebsten ein; mit Hülfe einiger witzigen Anekdoten und Bonmots weiß er ihn in eine so glükliche Laune zu bringen, daß er dann Alles von ihm erlangen kann. Hier verlebt er denn auch seine glüklichsten Tage; er ißt und trinkt vortrefflich, wozu noch zuweilen ein Glas vom stärksten Branntwein kommt, gegen den namentlich der Pole eine etwas zu ausgesprochene Vorliebe zeigen soll. Man denke sich das köstliche Genrebild: Die Branntweinschenke eines böhmischen „Randars“, der Schnorrer am Tische vor der dampfenden Schüssel, und ihm gegenüber das feiste, mondglänzende Antlitz des Randars, der sich vor Lachen den Bauch hält, während er die Anekdoten des Schnorrers hört.

So gestaltet sich das Leben des jüdischen Bettlers – wenigstens nicht uninteressant, wie man doch eingestehen wird. Noch gibt es unter diesen Schnorrern eine vornehme Aristokratie – die der armen reisenden Gelehrten. Da wir aber in Zweifel befangen sind, ob wir denn diese Gelehrten überhaupt in die Kategorie der Schnorrer werfen sollen, so erlasse man uns ihre Schilderungen auf eine andere Gelegenheit. Wahr bleibt es aber: ohne diese Schnorrer gäbe es im jüdischen Volke eine Nazionaltugend weniger und ein Zug fiele aus ihrem Karakter weg, der am glänzendsten den Vorurtheilen und Gehässigkeiten entgegen steht. Der heißt: Mildthätigkeit gegen den Mitbruder.

* Vor einigen Jahren gab J. Kaufmann in Leipzig eine wunderschöne Schilderung dieser poetischen Wohnungen im Taschenbuche „Jeschurnu!“ Man lese sie dort.

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Leopold Kompert: Die beiden Schwerter. In: Ders.: Geschichten einer Gasse [1865], zit. nach: Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Stefan Hock. Leipzig: M. Hesses Verlag 1906, Bd. 5., S. 281-332

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Vier Wochen nach diesem Besuche Josefs des Zweiten auf dem Pfarrhofe in Kojetein langte an den Dechanten eine aus dem kaiserlichen Kabinette herrührende beträchtliche Geldsumme mit der Weisung an, diesen Betrag dem jungen „Samuel“ Fingerhut für die „vorzuhabende Reise“ einzuhändigen.

Mitten unter den Zurüstungen zum bevorstehenden Türkenkriege, mitten im Sorgendrange über die von Tag zu Tag schlimmer lautenden Nachrichten aus den Provinzen, Entwürfe hegend und vernichtend, halb an sich irre geworden, und dann wieder mit einem Hoffnungslächeln selbst einen geringen Erfolg seiner Regierungsmaßregeln begrüßend, hatte der Kaiser den Sohn des jüdischen Handelsmannes und das böhmische Städtchen nicht vergessen.

Samuel Fingerhut kam getreulich dem Willen des Kaisers nach. Mit blutendem Herzen fügten sich Vater und Mutter in das Unabänderliche und segneten Josef den Einzigen, nachdem sie durch den Pfarrer belehrt worden waren, wie sich für den Kaiser kein anderer Ausweg gezeigt, ihnen den einzigen Son zu erhalten – als indem er ihn ihnen nahm.

Samuel Fingerhut nahm seinen Weg zuerst nach Holland, der alten Heimatstätte der Glaubensfreiheit. Er hielt sich aber daselbst aus uns unbekannten Gründen nur kurze Zeit auf, dann ging er nach Antwerpen. Dort in der Scheldemündung lag ein Schiff, das in den nächsten Tagen die Fahrt nach dem fernen Amerika antreten wollte. Samuel Fingerhut besann sich nicht lange und nahm einen Platz auf dem Kauffahrer, der eigentümlicherweise den Namen „Josef der Zweite“ trug. Glücklich und wohlbehalten kam er in dem damals schon aufblühenden Neuyork an.

In der fernen neuen Heimat gelang es ihm bald, es zu Wohlstand und Ansehen zu bringen. Sein Haus erwuchs allmählich zu einem geachteten und weithin genannten. Hochbetagt, von einem Kreise blühender Kinder und Enkel umgeben, beschloß er vor wenigen Jahren sein Leben. In seinem Testamente fand man ein beträchtliches Legat verzeichnet, das zu gleichen Teilen an die Armen christlicher und jüdischer Konfession seiner Vaterstadt Kojetein, und zwar unmittelbar durch einen seiner Enkel, der zu diesem Zwecke die Reise nach Böhmen anzutreten hatte, verteilt werden sollte.

In einer dem Testamente beiliegenden Aufzeichnung erzählte Samuel Fingerhut seinen Kindern und Enkelkindern, unter welchen wunderbaren Umständen er den Weg nach Amerika gefunden, welchen Gefahren er entgangen und wie Kaiser Josef der Unvergeßliche in sein Leben eingegriffen habe, – er erzählte ihnen die Geschichte von den „beiden Schwertern“.

Zur Biographie: Leopold Kompert

Transkription

In: Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Stefan Hock. Leipzig: Max Hesse 1906, Bd. 1, S. 146-148.

[…]
Über die Stiege herab kam gerade eine hohe Männergestalt in polnisch-jüdischer Tracht langsam gewandelt. Als sie an Moritz vorüber wollte, fuhr er auf, ein freudiger Schreck durchbebte ihn.
„Mendel Wilna,“ schrie er, „das ist Mendel Wilna!“
Der Bettler war darauf stehen geblieben; er sah den unbekannten Knaben lange an.
„Schmah Jisroel,“ rief er endlich, „ist das nicht Schmul Randars Sohn, ist das nicht Moschele?“
„Hätt‘ ich Euch denn gleich erkannt, wenn ich’s nicht wär‘?“ sagte Moritz.
„Also Salem Alechem! (Friede mit Euch!)“
„Alechem Salem! (auch mit Euch), „gab Moritz zurück. Sie schüttelten sich freudig die Hände.
[147/ ] Mendel wußte nicht Worte genug für das Glück zu finden, daß er Moritz auf eine so unerwartete Weise getroffen habe. Er fragte nach Vater und Mutter und ob noch viel Schnorrer zu ihnen ins Haus kämen. Moritz beantwortete diese Fragen, so gut er vermochte.
„Ich bring jetzt die Erd‘ aus Jeruschalaim mit“, sagte er dann, „die ich deinen Eltern versprochen habe. Ich trag‘ sie schon über fünf Jahr bei mir herum und hab‘ sie nicht abgeben können, weil ich nicht nach Böhmen gekommen bin. Das ist schon eine lange Zeit, man wird mich beim Randar schon ganz vergessen haben.“
Moritz beteuerte ihm, daß man zu Hause seiner oft erwähnt, ja daß er selbst einige Augenblicke vorher an ihn gedacht habe.
„Also denkst du noch an Jeruschalaim,“ rief Mendel laut, „hast du noch den Schabbes im Sinn? Und wie du mit mir hast gehen wollen und ich dich habe zurückschicken müssen? Großer Gott! welch ein gebrochen Herz hab‘ ich damals gehabt; ich hab‘ ein paar Meilen müssen fortgehen, bis ich dich aus meinen Gedanken habe bringen können.“
„Ich hab mich noch gut vor Augen,“ sagte Moritz, „wie ich damals ausgesehen, ja, ich fühle noch den Schmerz, als ich so allein ins Haus zurück mußte, voll Scham und Furcht, daß man mich auslachen würde.“
Sie waren bei diesen Worten, die Moritz in rein deutscher Sprache gesprochen, unter eine Laterne gekommen, und an dem fremdartigen Klange, sowie beim Schein des Lichtes, erkannte der Schnorrer, daß er nicht mehr das achtjährige Kind des Randars, sondern einen hochaufgeschossenen Knaben vor sich stehen hatte. […]
Moritz bemerkte, daß der Schnorrer mit einem Male//ganz verlegen wurde; er war einige Schritte zurückgetreten wie wenn er sich in einer fremden Person getäuscht hätte. Moritz erbebte im Innern, er glaubte schon, er habe ihm die ‚Sünde‘ angesehen.
„Wie ist mir,“ sprach Mendel nach einer langen Pause, „ich hab gemeint, des Randars Moschele zu finden, und wen seh‘ ich? Verzeihen Sie mir, ich hab‘ mich gewiß geirrt. Wie soll jetzt der Schnorrer noch mit Ihnen reden?“

[…]

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Sonntagsblätter, Wien, 2.1.1848, S. 7-8.

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Nicht sterben können. Eine Legende aus dem Ghetto.

Von Leopold Kompert

In stiller Nacht war es einmal dem Schulklopfer, als hörte er den Hammer, womit er Früh Morgens und Abends die Leute zur Synagoge rief, in leisen Schwingungen auf und nieder gleiten. „Der Hammer läßt mich nicht schlafen“, sagte er zu seiner Tochter, die ebenfalls wach den unheimlich leisen Schlägen lauschte. „Einer wird sterben wollen in der Gasse“, sagte sie schaudernd, aber gleich darauf schrie sie in ungeheuerer Angst: „Schmah Israel! (höre Israel) der Rabbi wird`s seyn.“ In demselben Augenblicke hörten die Schwingungen des Hammers auf; draußen aber pochte Jemand ans Fenster und eine hastige Stimme rief: „Steht auf, und geht in Schul klopfen, die Leut` sollen Thillim (Psalmen) sagen, denn der Rabbi liegt im Sterben.“ In stiller Nacht ertönten nun die drei bekannten Zeichen des Hammers an jeder Thüre, aufschauernd in den innersten Fasern ihrer Seele hörte die Tochter, wie ihr Vater von Haus zu Haus schritt, und als nun der letzte Schlag an der letzten Thüre der Gasse verschollen war, meinte sie, jetzt müsse der Rabbi seinen letzten Athemzug gethan haben. Da mußte sie bitter weinen. Aber das Thillimsagen der Leute hielt seine scheidende Seele noch zurück, dennoch wichen die Schatten des Todes nicht vom Rabbi. Früh Morgens war er sterbender, und seine Bochrim (Schüler) wehklagten lauter. Man nahm nun Wachs und Docht, man maß die ganze Körperlänge des kranken Rabbi, und formte darnach ein riesiges Licht. Dem zog man Sterbekittel an, und trug es dann hinaus auf den „guten Ort“, (Friedhof), wo man es zu den Todten begrub. Dennoch mußte man bald darauf denken, die Körperlänge des Rabbi – – für die sechs Breter seines Sarges zu brauchen. „Gott, starker Gott!“ schrieen die Bochrim, „was sollen wir denn anfangen, daß der Rabbi leben bleibt?“ – „Kommt Jahre für ihn fangen“, sprach darauf Einer, „vielleicht hört uns Gott.“ Ein Bocher ging nun von Haus zu Haus, ein Papier in der Hand, dahin ein Jeder schrieb, wie viel Jahre, Wochen oder Tage seines eigenen Lebens er für den sterbenden Rabbi gab. Des Schulklopfers Tochter stand vor der Hausthüre, als der Bocher mit dem Papiere gerade vorbeiging. „Und du gibst nichts für den Rabbi her?“ rief er ihr zu. – „Mein Leben, mein ganzes Leben geb` ich für ihn“, sprach sie schluchzend. „Soll ich das einschreiben?“ – „Schreibt, schreibt!“ So zeichnete der Bocher das Leben Hannele`s ein. Zur selben Stunde genas der Rabbi, am andern Tage begrub man eine junge Leiche auf dem „guten Ort“ – nun, es war des Schulklopfers Tochter. Aber so hastig das Mädchen unter die Todten gegangen war, so schwer fiel es nun dem Rabbi, seinen Nahmen aus dem Buche der Lebenden wegzulöschen. Es war merkwürdig, in der ersten Zeit nach seiner Genesung war der Rabbi fröhlich und guter Dinge; er blühte in wunderbarer Kraft wieder auf. Dann aber ward er schwermüthig und bleich; die Leute wußten nicht, woher das kam. Die Leute wußten nicht, daß, wenn der Rabbi in später Nacht über der Gemarah saß und lernte, unten im Hofe ein leiser Gesang ertönte, und daß, wenn er das Fenster öffnete, ein schönes Mädchen dastand, dessen Todeslächeln er durch den Schleier der Finsterniß hinaufleuchten sah. „Sie könnte jetzt singen, und frei seyn, wie der Vogel in der Luft“, dachte dann der Rabbi, und in stiller Nacht weinte er über den dumpfen Blättern der Gemarah. Einmal um Mitternacht erschollen bange Wehklagen um das Haus, sonderbare Töne, wie sie der Schmerz erpreßt. Gleich darauf hörte er die Stimme eines neugebornen Kindes. „Weh` geschrien!“ rief der Rabbi, „um das hab` ich sie gebracht.“ In jeder Nacht vernahm er nun dies Kinderwimmern, dazwischen aber auch so himmlische Wiegenlieder, daß er aus tiefstem Herzensgrunde weinen mußte. Sechsmal wiederhohlten sich die Schmerzensklagen jener Nacht, dann kam das Neugeborne, dann die wunderbaren Wiegenlieder. Dann ward es lange still, einmal jedoch erscholl wieder schöner, jubelnder Gesang, und der Rabbi wußte: „Jetzt macht ihr erstes Kind Bar-Mitzweh (das ist die Feierlichkeit des dreizehnten Lebensjahres bei den Knaben), ich hab` sie darum gebracht.“ Wieder ward es still, bis nach Jahren einmal neuer, schöner Gesang ertönte, und der Rabbi wußte: „Jetzt führt sie ihre Tochter unter die Chuppe, (das ist unter den Trauungshimmel), ach und weh, ich hab` ihr das genommen.“ Nie kam nun die Stimme klagend oder weinend; immer war es herrlicher, unaussprechlich süßer Gesang und der Rabbi ward inne: „Eine glückliche Mutter wär` sie geworden, ich hab` ihr das vernichtet.“ So lebte der Rabbi das ganze Daseyn des Mädchens durch, ja ihn gelüstete es einmal, die schönen Melodien verstummen und Wehklagen dafür zu hören, daß er doch wüßte, sie hätte auf Erden gelitten. Aber das kam nicht, und der Rabbi weinte über der Gemarah: „So glücklich wäre sie geworden!“ Nun wollte er sterben, vergehen; der Gesang ermüdete sein Leben; dennoch konnte er nicht sterben. So war er alt und greisenschwach geworden; die Leute in der Gemeinde sanken vor ihm ins Grab, ja selbst die Kinder, die er einmal gebenscht (gesegnet), schlichen nun als finstere, hinfällige Alte herum, und höhnten furchtlos mit ihrer Krücke dem Tode. Sie starben; er aber konnte es nicht. „Wann ist`s an der Zeit, du Mädchen?“ fragte er oft, „wie lang willst du denn leben?“ Da ertönte einmal um Mitternacht ein banger Wehruf, wie der eines Sterbenden vom Hofe herauf. „Jetzt ist sie todt“, sagte der Rabbi, „Gott sey ewig Dank!“ Früh Morgens fanden ihn die Bochrim entseelt vor der Gemarah sitzen.

➥ Zur Biographie: Simon Kronberg

Geb. 26.6. 1891 in Wien, gest. 1.1.1947 in Haifa (Israel). Schriftsteller, Handwerker, Gesangslehrer, Kibuzznik.

Materialien und Quellen:

Armin A. Wallas: Kibbuznik, Schuhmacher, Gesangslehrer und Dichter. Simon Kronberg in Palästina. Online zugänglich auf: hagalil.com: hier.

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