Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Oesterreichisches Central-Organ für Glaubensfreiheit, Kultur, Geschichte und Literatur der Juden, 24.03.1848, S. 77f & 89f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

 

Die Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin;

und uns ist keine Hilfe gekommen.

Jeremias VIII. 20.

 

Uns ist keine Hilfe gekommen! Die Sonne der Freiheit ist für das Vaterland aufgegangen, für uns nur als blutiges Nordlicht; die Lerchen der Erlösung schmettern in freier Luft; für uns sind es nur kreischende Möven des Sturmes. Schamröthe und bebender Zorn überwältigen uns, denken wir an das Fürchterliche, an das Haarsträubende, was uns die letzten Wochen angethan! Weil knechtische Horden und krämerische Häringsseelen den Geist der Freiheit nicht verstanden und verstehen, müssen wir es büßen. Da sei Gott dafür, daß wir unser Haupt für jeden Keulschlag bereit halten, daß unser Auge vor jedem Blitze unserer großen und kleinen Tyrannen erzittere! Dahin ist es gekommen, daß in der Stunde, die uns die Freiheit ins Land gebracht, kein anderer Wunsch in uns ist, als: dieser – Freiheit aus dem Wege zu gehen!

Sie wollen es nicht anders und so sei es! Nicht das erste Mal ist es, daß wir ihrem Willen nachgeben. Seit Jahrhunderten ist unsere Geschichte nichts Anderes, als ein stummes Bejahen auf jede uns aufgelegte Qual, auf jede Folter und Beschränkung! Aber immer bejahen, immer den Kopf neigen? Den Nacken krumm behalten und die Hände wie zum Gebete gefaltet? Wir wollen einmal mit Erlaubnis des »souveränen Volkes« die Geduld verlieren, wir wollen einmal verneinen – und dann aus dem Wege gehen!

Nach Amerika nämlich! Erkennet, die ihr das Wesen der Geschichte nicht verstehet, darin ihren Fingerzeig, daß vor vier Jahrhunderten eben als man die Juden am heftigsten verfolgte, ein Ge- nuese in seinem heißen Gehirne den Schöpfergedanken einer neuen Welt aushecken mußte, daß es ihm nicht Ruhe gönnte, bis eine spanische Königin, deren Gemal die finstere Gestalt eines Torquemada und seiner mit dem Blute tausender unserer Brüder befleckten Dominikaner heraufbeschworen, bis, sagen wir, Isabella von Spanien ihrem Admiral erlaubte, Amerika zu entdecken. Nach demselben Amerika geht nun unsere Sehnsucht, dahin sollet ihr ziehen! »Auf, nach Amerika!«

Wir kennen alle eure Einwände, alle eure Erwiederungen! Aber nur der Kleingläubige und Schwachmüthige werden sie thun, der Muthige, der Gefaßte nicht! Und keinen anderen Rath könnt ihr uns geben, fragen jene, als den Wanderstab zu ergreifen und mit Weib und Kind das ferne, fremde Land aufsuchen? Die Scholle, die uns geboren, genährt, darin wir unsere Todten begraben, sollen wir verlassen? Mich dünkt, schon etwas von den Fleischtöpfen Ägyptens zu hören, von den Goldbrühen und Saftbraten den Brodem einzuathmen – aber ich sehe auch die Leute, die das Feuer schüren, und aus den Flammen des Hasses, des Vorurtheils und der Beschränktheit sein tägliches Gericht holen, bei Gott, wem darnach der Gaumen steht, der bleibe und füttere sich!« –

Zwei Sätze sind es, die in dieser Zeit uns als Ausgangspuncte dienen können. Den einen sagt Moses: »Stehet fest und still;« den andern Jeremias: »Die Ernte ist vergangen und der Sommer ist dahin und für uns ist keine Hilfe gekommen.« Welchem Satz gebt ihr dem Vorzug? Stillstehen und harren, geduldig harren, bis alle uns widerstehenden Interessen versöhnt und gesühnt, bis der Geist der Humanität Sieger geworden? oder, da »uns keine Hilfe gekommen« sie uns aufsuchen – und nach Amerika ziehen?

Mich dünkt, die beiden Sätze lassen sich gar wohl vereinigen! Mögen diejenigen in unserem Vaterlande, die »fest, still stehen« wollen, diesen Standpunct in den Sand der Zukunft gründen! Wir wollen sie daran nicht hindern, wir wollen ihnen selbst Bausteine dazu liefern. Aber den Andern, den Bedrückten und Bedrängten, den Verjagten und Verarmten und Geplünderten in den bekannten Gemeinden, allen, denen die »Freiheit« Unheil gebracht, allen, denen das Herz sagt: noch lange nicht werden wir Ruhe genießen im Vaterlande, wir können uns sobald nicht ändern, sie auch nicht, Jahrzehende sind nothwendig, um die ersten Vorbereitungen des Friedens zu treffen, allen diesen sagen wir: für uns ist keine Hilfe gekommen. Suchet sie im fernen Amerika auf!

Der Gedanke ist nicht neu. Wir wissen es; aber er ist dafür praktisch. Schon vor längerer Zeit hat man Rothschild die Ehre erweisen wollen, als Gevatter diesem Gedanken zu stehen. Er hat die Ehre nicht angenommen – aber wozu Rothschild? Warum nicht auswandern ohne Rothschild? Dem Bedürfnis auszuwandern, der Nothwendigkeit fortzuziehen, kann Rothschild keinen Vorschub thun; er kann unterstützen, forthelfen, Mittel sein. Aber den Zweck, den müßt ihr ohne Rothschild suchen. Ihr werdet unterstützt werden, die ihr bedürftig seid – aber dies ist Mittel und nicht Zweck. Die Auswanderung, die Gründung eines neuen Vaterlandes, die augenblickliche Er- ringung der Freiheit ist Zweck!

Was ihr in Amerika thun werdet, das gehört nicht in die Zeilen dieses Aufrufs. Es soll nur ein Nothsignal, eine Lärmkanone oder wenn ihr wollt ein Musikton in dieser wildgestörten Zeit sein. Werdet Ackerbauer, Handelsleute oder Handwerker, Hausierer oder Mitglieder des Waschingtoner Kongresses, Wechselagenten oder Vicepräsidenten des nordamerikanischen Freistaates, werdet Baumwollpflanzer oder Zuckerraffineurs, das geht Euch, aber nicht uns an. Auch in dem Euch zugewiesenen Vaterlande wird Euch Niemand darum befragen; denn dort gilt der Mensch was er ist, und er ist, was er vorstellt. Vor Allem aber werdet frei und geht nach Amerika!

Tausende haben diesen Schritt vor Euch gethan und thun ihn noch! Verhältnismäßig haben ihn noch Wenige bereut. Über Euch wird der Gott Eurer Väter wachen. Er wird Euch sicher über die Fluten des Meeres, über die ersten Drangsale eines neuen Lebens geleiten! Mir ist nicht bange um Euch! Gerade ihr besitzet die Eigenschaften und Tugenden: Umsicht, Nüchternheit, Sparsamkeit, Zucht und Anhänglichkeit, die dort Euer Gedeihen und Euren Wohlstand aufbauen werden. Andere sind dort verfallen und verkommen, aber ihr werdet blühen und wachsen; mit Euch wird der Gott der Freiheit sein!

Im Geiste grüße ich schon Eure Kinder, die Kinder der Freigewordenen. Salem Alechem!

Aber helle Glut durchströmt mich, denke ich an die frei gebornen Kinder, denke ich an die Mütter, die sie Euch darbieten.

Darum, mitten durch die Gräuel der letzten Wochen, durch die Reihen der Euch Auflauernden, Verjagenden und Bedrängenden der »Freiheit eine Gasse« und auf, nach Amerika! *)

L. Kompert.

*) Eben während dieser Aufsatz zur Presse kömmt, lesen wir aus Pesth: Es hat sich in Folge der neuesten Zeitwirren ein Verein zur Auswanderung nach den vereinigten Staaten Nordamerikas gebildet, welcher zwar größtentheils Bekenner des mosaischen Glaubens, aber auch sehr viele christliche Professionisten und Techniker als Mitglieder zählt.

Auf, nach Amerika.

II.

Im Drange des Augenblickes, wohl auch unter dem Einfluss der von allen Seiten wie Keulschläge aufeinander schmetternden Ereignisse haben wir unsern Aufruf, das Land der Unfreiheit und der Sorge zu verlassen und die transatlantische Heimat aufzusuchen, an alle Verjagten und Bekümmerten in Israel erlassen. Es war vielleicht, indem wir dieses thaten, nur ein instinktmäßiges Antwortgeben auf die Fragen so mancher gedrückten Seele, in der das: »Fort, fort!« wie ein unge- duldiger Gläubiger pocht. War die Antwort aber eine richtige? Zeugt es überhaupt von einem rich- tigen Erkennen der Zeit, wenn wir zur Auswanderung rathen? Die Bewegungen und Stürme dieses Jahres gehen so ins Maaß- und Endlose, daß selbst die weit sehende Berechnung eines trefflichen Verstandes verwirrt und unklar wird. Für nichts läßt sich einstehen; selbst der Haß, selbst das Vorurtheil und die Beschränktheit können es sich nicht verbürgen, ob nicht die Judenfrage trotz ihrer Opposition heute oder morgen eine unerwartet günstige Wendung nimmt. Ja wir, die den Aufruf: »Nach Amerika!« gethan, wir leben der sichersten Überzeugung, daß die kürzeste Zeit über unsere Emanzipation den entscheidend höchsten Wurf gethan haben wird!

Dennoch stehen wir keinen Augenblick an, den Ruf: »Auf, nach Amerika!« dringender als je zu wiederholen. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eben die Lösung der Judenfrage eine so ungewisse ist. Zehn tausend Menschen, die durch ihren Auszug nach Amerika alsogleich sich die Freiheit erringen, sind für uns ein größerer Gewinn, als wenn Hunderttausende noch Jahre lang ohnmächtig oder zähneknirschend sich in Sehnsucht und Drang verzehren. In Büchern, in Romanzen und Legenden nimmt sich das gar schön aus, wenn Einer dem Andern zu Gefallen seine Freiheit ausschlägt, sich, ihm zu Gefallen, einsperren und abhungern läßt, mit ihm seufzet und klagt. In der Wirklichkeit erscheint so etwas als krankhafte Empfindelei, wenn nicht als Verbrechen. Ein Mensch, der frei werden kann, begeht das größte Unrecht, wenn er es nicht wird; ein frei gewordener Mensch ist ein Gewinn, der sich auf hundert, ja auf tausend Menschen vertheilt; die Ausrede, mit leiden zu wollen, wo andere leiden, hat keine Geltung und verräth Feigheit. Wer die Initiative der Freiheit ergreift, nützt mehr, ist zugleich Fahnenträger für tausend Andere! Und von diesem Gesichtspunkte aus wiederholten wir, nach reiflicher Überlegung, unsern Ruf: »Auf, nach Amerika!«

Das ist aber nur die eine, und gewiß nicht. die bedeutungsloseste Seite der Auswanderung Die nämlich: Den Muth der Zurückbleibenden zu stärken, ihnen mit dem Beispiele voranzugehen nicht etwa ebenfalls auszuwandern, aber die Freiheit zu erringen. So furchtbar haben sich unsere Verhältnisse gestaltet, so wenig hat sich noch die Lage geändert, daß wir die Verlierenden und Verlusttragenden, selbst da, wo wir Tausende unserer Brüder in ungewisse Weiten, zum Kampfe mit den Entbehrungen und Drangsalen eines neuen Lebens müssen ziehen lassen, daß wir selbst da auf Gewinn hoffen – den Gewinn unserer Freiheit. Oder ist dem nicht so?

Diese Seite der Auswanderungsfrage schrumpft aber beinahe zu einer unwesentlichen zusammen, im Hinblicke auf die wirklich Freiwerdenden. Ohne alles Zuthun, bloß durch die Gewalt des selbsteigenen Willens erhält hier unsere Emancipationssache eine Lösung, wie sie unter den gegenwärtigen Zuständen sie nicht zu hoffen hat. Mit einem Male frei werden, ohne alles Hinhalten, ohne parlamentarisches Für und Wider, ohne Sympathien und Antipathien, gleich und auf der Stelle, sobald das Schiff seine Anker wirft und der Ocean seine Scheidungsmauer abgrenzt. Sagt das doch diesen Leuten, sagt das alle den Verkümmerten und Trauernden, daß sie mit Vertretung des transatlantischen Bodens alsogleich freie Menschen, Bürger eines freien Staates sind, erhebt ihre Seelen mit diesem Klang, erwärmt damit namentlich unsere armen, unmenschlich geplagten armen Juden, bietet, denen die Sache heiliger Ernst ist, alle Schätze eurer Rede, alle Pfeile eurer Überredungskunst auf, um sie zu versichern, zu bestärken und hinzulenken auf den Ruf, den ihr ihnen wiederholen sollt: »Auf, nach Amerika!«

Kann man von der Freiheit leben? werden sie euch fragen. Antwortet ihnen: ja, ja, man kann leben. Bisher habt ihr in der Unfreiheit mehr vegetirt, als gelebt und selbst diesen Zustand, entwürdigend, aufreibend und gräßlich wie er war, schwankend zwischen Demuth und Beschränkung, zwischen Sonnenblicken und Finsterniß hat man euch vergällt und verbittert. In diesem Vegetiren seid ihr ihnen noch zu viel gediehen. Erst in der Freiheit werdet ihr leben. Ja, man kann von der Freiheit leben, besonders der Jude kann es. Wie werdet ihr gedeihen, wachsen und blühen! Ob man von der Freiheit leben kann? Nur von ihr – sie ist das eigentliche Lebenselement!

Wir haben es schon in einem frühern Aufsatze nachgewiesen, wie der Organismus des Judenthums, dem wir krankhafte Auswüchse und Gebreste keineswegs absprechen wollen, zu seiner Heilung und Förderung der nach allen Seiten unbeschränkten Thätigkeit, mit der vollsten Freiheit bedürfe. Sagt das allen, an die ihr euch wendet, daß sie diese in Amerika finden in einem Maße, das seit beinahe einem Jahrhundert der Sehnsuchtausdruck aller Europäer ist. Aus Deutschland z. B. ziehen jährlich tausende von Bauern über den Ocean fort nach der neuen Welt; Bauern, die Haus, Hof, Acker besitzen; die sie veräußern und verwerthen; ganze Dörfer entleeren sich oft. Diese beschränkten Naturen in ihrem überseeischen Drange waren sich ihres Strebens gar wohl bewußt, bewußter wohl, als manche auf allen Instrumenten der Zeitideen es versuchenden Freiheitshelden. Sie wollten frei sein, und tausende von ihnen, hätten sie ihren »Herrschaften« und Beamten, ihren Frohnvögten und Steuereintreibern nicht den Rücken gewandt, stünden jetzt in Waffen gegen sie und der Struve-Hecker’sche Anschlag hätte wahrscheinlich einen Ausgang genommen, der den Entwurf des Reichsgrundgesetzes, wie ihn der Siebzehnerausschuß in Frankfurt jetzt vorgelegt, wesentlich verändert hätte.

Führt doch unseren Leuten das Beispiel dieser deutschen Bauern vor! Unterrichtet sie doch in dem, was Freiheit ist. Sagt ihnen, daß keine Thätigkeit, vorausgesetzt, sie sei eine ehrenhafte, in Amerika eine Grenze findet, sagt ihnen, daß jüdische Betriebsamkeit, Vorsicht, Nüchternheit und Sparsamkeit in Amerika kein blutgieriges, plünderlustiges Auflauern hervorruft, sagt ihnen, daß Amerika groß genug ist, um nach keinem Glaubensbekenntnisse, keiner Zunft, keiner bestimmten und abgegrenzten Thätigkeit zu fragen; erklärt dem »gemeinen Manne« daß er die Religion seiner Väter mit hinübernehmen kann, wo er Tausende findet, mit denen er sie ausübt, daß das Juden- thum dort nicht wurzellos und entzweigt dasteht und endlich, daß doch früher der Mensch kommt, dann Religion, Staat u.s.w.

L. Kompert.

 

 

Indem wir die hochwichtige Angelegenheit, welche diese Zeilen besprechen, Allen empfehlen, die ein warmes Herz für die trostarme Lage der Juden haben und die Auswanderung, im Großen oder in kleinern Gruppen mit uns als das wünschenswertheste nachhaltigste Mittel anerkennen unseren bedrängten, verfolgten, erwerbslosen Brüdern beizustehen und eine besser Zukunft vorzubereiten, indem wir sie Allen ans Herz legen, welche selbst auf die Auswanderung, als ihren Erlöser harren, und nur jetzt noch durch Verhältnisse an das Land gefesselt sind – das sie ausstoßt und ihnen jedes Recht des Bürgers versagt, Allen endlich, welche diese Sache mit Rath, mit Wort und That unterstützen können und wollen, sprechen wir die Bitte aus: Es möge jeder dafür Stimmende sich mit den in einigen größern Gemeinden bildenden Comités für Auswanderung in Verbindung setzen, und selben ihre Spende, die gewiß die reichsten Früchte tragen wird, recht bald zukommen lassen. Auch das Comptoir dieses Blattes ist zur Annahme solcher Beiträge bereit, wird selbe ungesäumt dem sich hier bildenden Comité zustellen und durch einige der verbreitetsten Journale zur allgemeinen Kenntniß bringen.

Die Redaktion.

 

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Sonntagsblätter, 5. Jahrgang, Ausgabe 7 vom 15.02.1846, S. 149-154

Stichwörter: Sprachkultur, Okzident-Orient, böhmisch-jüdisch

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Umsonst versuchten wir es hier, die etimologische Abstammung des Wortes Schnorrer zu beweisen; es hat keine, oder es hat deren zu viele, wie der Jargon, dem es angehört, das vielfarbige Kind von tausend Eltern ist, ein Augiasstall aller Sprachen des Morgen- und Abendlandes, eine chirurgische Stube voll zerbrochener und verrenkter Gliedmaßen, worunter nur zuweilen eine gesunde Nase oder ein ganzes Schlüsselbein bunt abenteuerlich dazwischen läuft. Dieser Jargon, wir wollen es nicht verhehlen, es ist derselbe, den man nicht nur in den Ghettos, sondern überall in den deutschen Landen, wo man ihm nicht durch verbriefte Privilegien die Thüre vor der Nase zuschlägt, auf Straßen und Gassen zu hören bekommt. Dieser Jargon hat trotz aller Verrenktheit und Verzerrtheit, trotz aller mißtönenden Laute, so viel gesunde, kräftige, drastische und karakteristische Worte und Begriffe, er besitzt einen solchen Reichthum von Witz, enkaustischer Ironie, und jeder andern Sprache mangelnden Satirismen, daß sich vielleicht nur daraus die keineswegs erstorbene Vorliebe für ihn selbst bei dem Gebildeten herleiten läßt. Heine und Saphir haben hie und da gezeigt, wie man mehre solcher Worte sogar der deutschen Sprache einverleiben konnte, und in der That würde man ihr vielleicht nicht so bedeutend Gewalt anthun, wollte man die mit einigen Bedeutungen versuchen, die den Begriff viel straffer, drastischer und wirksamer bezeichnen, als in der eigenen Sprache. Fürwahr ein impium desiderium! Man betrachte z. B. dieses Wort: „Schnorrer“ – wie leicht und treffend hätte man damit das ganze Proletarienthum und den Pauperismus bezeichnen können, dem sie in neuerer Zeit so gewaltige Bissen in den Mund schieben. Was wissen die, die es angeht, von Pauperismus und Proletarienthum? Aber Schnorrer würden sie sehr gut verstehen, das Wort sagt Alles und noch mehr, als in dem ganzen Pauperismus liegt; es hat sogar die deutschen Endlaute für sich und ließe sich bei den Zeitumständen vortrefflich einbürgern.

Diese Art Leute mußten sich durch ihre Schnurren und Witze auf Hochzeiten, Beschneidungen und andern Festlichkeiten ihre Nahrung suchen. Anfangs bildeten sie wohl ein eigenes Handwerk, wie die Meistersänger im Mittelalter; später nahmen jedoch Bettler jeden Geschlechtes die Weise an, womit diese jüdischen Schalksnarren so trefflich bestanden. Sie schnorrten – obwohl ich recht gut weiß, was im Adelung über diesen Punkt steht: schnurren gehen ist so viel als betteln; in der rothwälschen Diebessprache schnorren. Wahrscheinlicher aber ist die Herleitung von Schnurre.

Schnorrer bedeutet so viel als armer Mann, im weitern Sinne herumziehender Bettler, einer, der auf die Wohlthaten Anderer angewiesen ist. Wir wollen sie hier nur im weiteren Sinne vorführen, das heißt als vagirende Bettler, wie sie einen der Grundtöne in dem vielfarbigen Gemälde des jüdischen Volkes bilden. Für das jüdische Leben sind die Schnorrer das, was die Geusen im 16. Jahrhundert für die Niederlande waren, jedoch ohne politischen Hintergrund. Jahr aus, Jahr ein sieht man Tausende von diesen wandernden Bettlern das ganze Ländergebiet der österreichischen Monarchie durcheilen, überall einkehrend, wo sie eine verwandte Seele herauswittern, Zugvögel, die bald hier, bald dort erscheinen, sich niederlassend, wo ihnen etwas winkt, und fortziehend, nachdem man sie befriedigt. Diese Bettler sind von jenem Gesetze selbst begünstigt, das da vor Jahrtausenden schon sagte: Sei wohlthätig gegen die Armen. Nie ist aber auch ein Gesetz vollkommener und buchstäblicher verstanden worden, denn diese „Schnorrer“ sind ganz auf die Unterstützung ihrer jüdischen Mitbrüder angewiesen. Sie sind eine Art Brandschatzer, die die Geldbeutel ihrer Stammgenossen in Kontribuzion versetzen. Man wird es auch aus Nachstehendem ersehen, mit welch lebendiger Liebe und unvergleichlicher Mildthätigkeit man diesen fahren- den Bettlern entgegenkommt, wie nach so vielen Stürmen und Wehen der alte, nie gebrochene Baum dieses Volkes sproßt und Keime treibt.

Diese herumziehenden jüdischen Bettler bilden eine der interessantesten Menschenklassen – voll Kekheit, Anmaßung, Witz, Humor, Schlauheit, Verstellung und allen jenen Eigenschaften, wie sie die Natur dem Bittenden gegenüber dem Gebenden zu verleihen schien. Das Vaterland dieser Schnorrer anzugeben wäre vergebene Mühe, sie komme aus allen Ländern und Gebieten hergeweht, ein ächtes Vagabundenvolk. Das größte Kontingent zu dieser Schnorrerarmee liefern Ungarn und Gallizien; man kann die Anzahl derer, die jährlich aus diesen beiden Ländern auswandern, um das edle Waidwerk des Bettelns zu betreiben, auf einige Tausende anschlagen; weniger ist Mähren, am wenigsten Böhmen selbst vertheilt. Vielleicht eben darum bietet dieses Land ein so gefälliges Stelldichein für die Alle; wie eine Heuschrekenwolke lagern sie darauf, nicht zu bestimmten Zeiten, sondern Jahr aus, Jahr ein in unabsehbaren Haufen. Karawanenweise durchziehen sie dieses Land nach allen Richtungen und Krümmungen, in Begleitung von Weib und Kindern; da wird keine Gemeinde, kein Dorf, selbst der entfernteste Pachthof nicht verschont. Es ist nicht eine Straße in Böhmen, worauf man nicht mehre dieser Wandervögel im vollsten Zuge erblikte, es ist, als wäre dieses Land nur für Marodeurs, worin jeder nach Lust und Belieben pfänden und brandschatzen kann.

Sobald sich Jemand zum „Schnorrer“ berufen fühlt, geht er auf das Amt seines Vaterortes und holt sich von dort einen Paß. In diesem Passe wird dem Vorzeiger dieses gerichtlich bestätigt, daß er berechtigt sei, als fahrender Bettler herumzuziehen. Hat der Schnorrer einen solchen Freibrief an die Geldbeutel seiner Stammgenossen erlangt, so bricht er aus seiner Heimat auf, läßt entweder sein Weib in treuer Freunde Obhut zurük, oder heißt es und die Kinder mitziehen, damit sie ihm in seinem trefflichen Vorhaben hülfreiche Hand böten. Da wird keine Rüksicht darauf genommen, ob die Kinder die Strapazen einer so weiten Reise werden ertragen können, ob sie krumm, blind oder taub sind – je mehr, desto besser, desto stärker kann er an das allgemeine Mitleid appelliren. Mit den wenigen Habseligkeiten auf dem Rüken, an der einen Hand ein Kind, in der andern einen Wanderstab haltend, schreitet der Mann einher, während das Weib einige Schritte hinter ihm hergeht, ein Säugekind an die Brust gelehnt oder ein Wägelchen rollend, woraus, in schmutzige Kissen gebettet, ein gar verkrüppeltes Geschöpf miserabel hervorlugt. Eine solche Familie hat, bei ihrem Herausgehen aus dem Vaterorte, oft nicht mehr, als womit sie ein dürftiges Nachtlager in der nächsten Herberge bezahlen kann; aber Muth und Vertrauen belebt sie und die erste, die beste Gemeinde, die sie berührt, bringt ihr Ueberfluß und Nahrung. Der Schnorrer verzweifelt nie – er kennt sein Volk. Ein Maler könnte sich oft keine lebendigeren Genrebilder wünschen, als sie diese wandernden Schnorrer bieten. Namentlich unter den polnischen Männern findet er eine Masse der schönsten und ausdruksvollsten Köpfe, weniger schön sind die Weiber. Hier hat Elend, Wettersturm und Mühsal die vielleicht einst schönen Züge vor der Zeit verwelken gemacht; aber blikt man auf diese von Lumpen umhüllten Glieder und in dieses zu früh zerstörte Antlitz, so wird man oft von dem unnennbar eigenthümlichen Ausdruke betroffen, der darüber lagert. Das Auge vorzüglich gemahnt oft an den funkelnden Edelstein, der in einer Kothlake liegt. Die Beschäftigung eines Schnorrers ist sehr einfach. Die Wochentage benützt er dazu, um Almosen einzusammeln; da sind es die kleineren Gemeinden und einzelnen Höfe, denen er seinen Besuch abstattet; aber neigt sich die Woche zu ihrem Ende, so sucht er es stets so einzurichten, daß er in eine größere Gemeinde einmündet, um in ihrem Schooße den Sabbath zuzubringen. An diesem Tage verbietet ihm das Gesetz zu wandern – man wird sogleich sehen, wie trefflich dieser Tag dem Schnorrer zu Statten kommt.

Sobald der Schnorrer in einer Gemeinde anlangt, begibt er sich sogleich in die sogenannte „Schlafstube,“ die zum Behufe dieser fahrenden Gäste eigens unterhalten wird, ein Etablissement, wo er für einige Kreutzer ein Nachtlager haben kann. Hier legitimirt er sich vor dem Herbergsvater, der gewöhnlich der Sinagogenküster ist, durch Paß und andere Papiere, und wird von ihm mit dem schönen Gruße, der auch den Arabern eigenthümlich ist, bewillkommt: Salem alekem (Friede sei mit euch.) Nachdem er da sein Gepäke abgelegt, begibt er sich zu dem Gemeindekassier, um sich bei ihm die Anweisung auf seine Sabbathkost abzuholen. Es besteht nämlich in jeder etwas größeren Gemeinde die Einrichtung, daß jedes verheiratete Mitglied, sobald es in den Verband der Steuer- und Abgabenpflichtigen aufgenommen ist, sich zu einer gewissen Anzahl von Sabbathen verpflichtet, d. h. zu einer gewissen Anzahl von diesen Schnorrern, die er über den Sabbath mit Kost versorgen will. Natürlich richtet sich dies immer nach den Vermögensumständen des Individuums; aber selbst der weniger Bemittelte übernimmt einige solcher Tage, um sich im Weigerungsfalle nicht selbst ein testimonium paupertatis auszustellen. Zu diesem Behufe schreibt man nun seinen Namen auf so viel Zetteln auf, als man sich zu Sabbathen verpflichtet; diese Zettel werden zusammengerollt, und mit denen der andern Gemeindeglieder in eine verschlossene Schachtel gethan. Sobald nun der Schnorrer zu dem Kassier kommt, wird die Schachtel geöffnet, damit er nach Belieben wähle. Der Zettel wird nun aufgerollt und der Kassier deutet dem Schnorrer an, wohin er zu gehen habe, um seine Sabbathkost zu empfangen. Mit dieser Anweisung macht sich der Schnorrer auf den Weg und erkundigt sich auf der Gasse nach der Familie, die ihm bezeichnet ist. Dort übergibt er den Zettel der Hausfrau oder dem Hausherrn, und die laden ihn auf den Abend zum Tische ein. Karakteristisch genug heißt dann ein solcher Schnorrer „Gast.“ Die Hausfrau bedeutet dann ihrer Köchin, eine größere Quantität Fleisches zuzurichten und sonst zu den Speisen ein Erklekliches hinzu zu thun, denn man habe einen „Gast“ bekommen.

Nachdem dieses wichtigste aller Geschäfte glüklich vorüber, geht der Schnorrer wieder in seine Schlafstube zurük. Hier findet er bereits mehre Kollegen, theils angekommene, theils anlangende, alle mit dem nämlichen Zweke, den Sabbath in der Gemeinde zu feiern. Da sitzen einige, die bereits versorgt, auf Tischen und Bänken umher, und erzählen und befragen sich gegenseitig um Vaterland, Verhältnisse und Schiksale; andere sind bereit, sich zum Kassier zu begeben, besorgt, wie es scheint, ob ihnen noch ein guter Hausherr zu Theil würde; andere neue Gäste langen erst an. An einem solchen Freitage steht die Schlafstube nie leer. Da noch einige Stunden bis zum Abendgottesdienste fehlen, der zur Vorfeier des Sabbaths an jedem Abende des Freitags gehalten wird, so sucht diese der Schnorrer so gut als möglich zu benutzen, um sich nach Kräften herauszuputzen, damit er im Hause des Herrn gereinigt erscheine. Er nimmt den Bart durch die gründliche Salbe hinweg, ein Gemische aus gelöschtem Kalk und Aurum, glänzt seine Schuhe und bürstet den Staub von seinen Kleidern. Ist die Zeit des Gottesdienstes endlich gekommen, so begibt er sich in die Sinagoge, wie er einen der untern Plätze, gewöhnlich gleich an dem Einfange einnimmt. Während des Gottesdienstes benimmt sich der Schnorrer mit aller Frömmigkeit und Devozion; er bükt und beugt sich nach allen Seiten, sagt seine Gebete laut her, damit Aller Augen auf ihm ruhen. Nach geendigtem Gottesdienste bleibt er in tiefster Demuth an der Schwelle des Gotteshauses stehen, und wartet, bis die Anderen hinausgegangen. Nun ereignet sich eine Szene, die wir nicht weglassen dürfen, weil sie einen bedeutenden Pendant zum Karakter eines Volkes bildet, das von jeher im regen Zusammenhalten sein politisches Dasein fristet. Ein jeder der Vorübergehenden strekt seine Hand dem Bettler entgegen und drükt die seine, und bewillkommt ihn mit dem trefflichsten aller Grüße: Salem alekem. Selbst der Reichste in der Gemeinde hält sich nicht für hoch genug, diese Bewillkommung einem Stammgenossen zu verweigern, dem er aus Gnade morgen die Mittagskost reicht. Wir wissen nicht, ob diese Sitte noch überall in gleicher Kraft ist – schwerlich dürfte aber der Schnorrer von der Hand eines jener papierenen Könige, die über Koupons und Akzien gebieten, einen Gegendruk zu erwarten haben. Das ist aber modern!

Nun begibt sich der Schnorrer zum Abendessen. Ein interessanter Augenblik in seinem Leben! In der Wohnung seines Hausherrn, der ihn zum Tische geladen, steht der Tisch, mit weißen Linnen bedekt, bereits gedekt; die Speisen des Sabbaths strömen aus der benachbarten Küche ihren Duft in die Stube, die vom Scheine der siebenzinkigen Lampe, oder flammenden Kerzen heimlich schön beleuchtet ist. Wie wohl mag es ihm da um’s Herz werden! Die ganze Woche dem Unbill des Wetters mit den Mühen einer Fußreise preisgegeben, und nun auf einmal in einer warmen, sabbathduftenden Stube, an einer wohl besetzten Tafel; mitten unter einer Familie; Wir erlassen den Kommentar zu einem solchen Verfahren! Nachdem man sich gewaschen und den Segen gesprochen, setzt man sich, wobei dem „Gaste“ einer der untern Plätze an dem Tische eingeräumt wird. Die Hausfrau übernimmt nun die edle Sorge für seinen Magen; es wird ihm von den reichlich aufgetragenen Speisen so viel aufgenöthigt, als sich ohne Gefahr thun läßt. Während des Essens hat der Schnorrer ein strenges Verhör, um Namen, Vaterort, Weib und Kinder u. s. w. zu bestehen, wobei denn der Schalk oft Dinge vorbringt, die der edlen Wahrheit eben nicht genügen mögen. Zuweilen ergötzt er auch den Hausherrn durch allerlei Witze, Anekdoten, talmudische Spitzfindigkeit und Schnurren allerhand von so drastischen, zwerchfellerschütterndem Inhalte, daß den Leuten darüber Essen und Trinken vergeht. Man muß diese köstlichen, witzsprühenden Anekdoten, namentlich die auf polnischem Gebiete spielen, verstehen und in ihre Feinheiten eingehen, um zu gestehen, daß hier nichts Gewöhnliches geleistet wird. Von diesen Schnurren mag auch der Name Schnorrer nicht herleiten, da diesen Leuten in frühern Tagen die Rolle der Hofnarren zugekommen sein mochte. Die köstliche Unterhaltung, die er aber dadurch der Familie verschafft, kommt dem „Gaste“ sehr gut zu Statten.

Beim Weggehen werden ihm noch die Ueberbleibsel der Speisen in die Tasche gestekt, und die Hausfrau schneidet noch ein großes Stük vom dem weißen Brode ab, das für den Sabbath eigens gebaken wird. Auf dieselbe Weise geht auch der folgende Tag, der Sabbath vorüber. Wie am vorhergehenden Abend besucht er wieder die Sinagoge, mit derselben Frömmigkeit und Devozion, wo möglich in noch verstärkterem Maße. An diesem Tage ereignet sich oft eine Szene ganz eigenthümlicher Art. Man weiß vielleicht, daß, nachdem die Stämme Israels in alle Enden und Eken der Welt zerstäubt und verweht wurden, so daß selbst ihre Namen untergingen, ein Stamm sich erhalten haben wollte, der der Priester und Leviten. Noch heut zu Tage führen diese den alten Namen, ob mit historischem Recht oder Unrechte, wissen wir nicht. Als die ehemalige Leiterin der Theokratie genießt diese Kaste noch jetzt einige, freilich sehr unwesentliche Vorrechte; so wird zum Beispiel beim Verlesen der Gesetzesrolle der Priester zuerst aufgerufen, hernach kommt der Levite und nach ihnen erst das gemeine Volke der Israeliten. Nun trifft es sich zuweilen, daß in manch kleinerer Gemeinde kein Priester sich vorfindet. Da kommt aber der „Schnorrer“, gibt sich als solchen zu erkennen und sogleich wird sein Name verlesen und der Vorzug des ersten Vortretens kommt ihm zu. Man erinnert sich, daß in den Büchern Moses ein Kapitel vorkommt, worin der Profet unter den schreklichsten Strafen, Plagen und Drohungen den Fall Israels voraussagt, wenn es je von seinen Geboten abweichen würde. Aus Vorurtheil oder Aberglauben will nun Niemand zu diesem Kapitel vorgerufen werde, weil sich vielleicht ein Theil des Gelesenen an seinem Theile erfüllen könnte. In solchen Fällen übernimmt der „Schnorrer“ die ganze Verantwortlichkeit auf sich – er tritt vor, wenn kein Anderer will, und auf sein Haupt ladet er die ganze Masse von Flüchen und Drohungen, von denen jenes Kapitel überfließt! Man sieht also, daß er trotz seines vagen Lebens dennoch eine Stellung einnimmt. Wenn so ein Sabbath heilbringend für den Magen des „Schnorrers“ gewesen, so ist es der nächstfolgende Sonntag noch mehr für seine Tasche. An diesem Tage bricht er wieder auf, bevor dies aber geschieht, stattet er allen Gemeindegliedern seinen Besuch ab, um Almosen für seine Wegzehrung zu empfangen. Oft aber befriedigt ihn das Geschenk mancher sparsamen Hausfrau nicht – da ergrimmt sein Zorn und mit den Geberden eines dazu Berechtigten wirft er ihr das Geldstük zurük und schleudert ihr eine Fluth von Flüchen zu. Vergrößert sie nicht das Geschenk, so vermehrt sich seine Insolenz; bis zum Zweke gelangt. Denn die Hausfrau fürchtet, die Flüche des Bettlers könnten wahr werden, und Gott erhört zumeist seine Worte!

Wohin aber der Schnorrer am liebsten seine Schritte richtet, das sind die Wohnungen der „Randars“. Dieses Wort ist der verdorbene Ausdruk für Arendator, einer jenen Besitzer oder Pächter von herrschaftlichen Branntweinhäusern, wie man sie in Böhmen überall findet. Diese Randars sind gewöhnlich über Maß mit zeitlichen Gütern beschenkt; „er ist ein Randar“ reicht hin, um ei- nen Begriff von Wohlhabenheit und Reichthum zu erweken. Die Wohnungen dieser Krösusse hegen aber eine Fülle von landschaftlicher Poesie in sich, wie sie ihr erster Anblik vielleicht nicht glauben läßt. Sie sind in gewisser Hinsicht jüdischer Klöster;* wie der Arme und Hungrige von jeher in der stillen Vorhalle der Mönche seine Suppe erhielt, so empfängt hier jeder Vorüberreisende, der einspricht, mehr als dies. Der „Randar“ ist gewöhnlich ein wohl gemästeter, jovialer Mann, der gerne lacht und lustige Geschichtchen hört. Diese Eigenheit des Randars kennt nun der Schnorrer sehr gut und weiß sie auch trefflich zu benützen. Bei ihm spricht er am liebsten ein; mit Hülfe einiger witzigen Anekdoten und Bonmots weiß er ihn in eine so glükliche Laune zu bringen, daß er dann Alles von ihm erlangen kann. Hier verlebt er denn auch seine glüklichsten Tage; er ißt und trinkt vortrefflich, wozu noch zuweilen ein Glas vom stärksten Branntwein kommt, gegen den namentlich der Pole eine etwas zu ausgesprochene Vorliebe zeigen soll. Man denke sich das köstliche Genrebild: Die Branntweinschenke eines böhmischen „Randars“, der Schnorrer am Tische vor der dampfenden Schüssel, und ihm gegenüber das feiste, mondglänzende Antlitz des Randars, der sich vor Lachen den Bauch hält, während er die Anekdoten des Schnorrers hört.

So gestaltet sich das Leben des jüdischen Bettlers – wenigstens nicht uninteressant, wie man doch eingestehen wird. Noch gibt es unter diesen Schnorrern eine vornehme Aristokratie – die der armen reisenden Gelehrten. Da wir aber in Zweifel befangen sind, ob wir denn diese Gelehrten überhaupt in die Kategorie der Schnorrer werfen sollen, so erlasse man uns ihre Schilderungen auf eine andere Gelegenheit. Wahr bleibt es aber: ohne diese Schnorrer gäbe es im jüdischen Volke eine Nazionaltugend weniger und ein Zug fiele aus ihrem Karakter weg, der am glänzendsten den Vorurtheilen und Gehässigkeiten entgegen steht. Der heißt: Mildthätigkeit gegen den Mitbruder.

* Vor einigen Jahren gab J. Kaufmann in Leipzig eine wunderschöne Schilderung dieser poetischen Wohnungen im Taschenbuche „Jeschurnu!“ Man lese sie dort.

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Leopold Kompert: Die beiden Schwerter. In: Ders.: Geschichten einer Gasse [1865], zit. nach: Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Stefan Hock. Leipzig: M. Hesses Verlag 1906, Bd. 5., S. 281-332

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Vier Wochen nach diesem Besuche Josefs des Zweiten auf dem Pfarrhofe in Kojetein langte an den Dechanten eine aus dem kaiserlichen Kabinette herrührende beträchtliche Geldsumme mit der Weisung an, diesen Betrag dem jungen „Samuel“ Fingerhut für die „vorzuhabende Reise“ einzuhändigen.

Mitten unter den Zurüstungen zum bevorstehenden Türkenkriege, mitten im Sorgendrange über die von Tag zu Tag schlimmer lautenden Nachrichten aus den Provinzen, Entwürfe hegend und vernichtend, halb an sich irre geworden, und dann wieder mit einem Hoffnungslächeln selbst einen geringen Erfolg seiner Regierungsmaßregeln begrüßend, hatte der Kaiser den Sohn des jüdischen Handelsmannes und das böhmische Städtchen nicht vergessen.

Samuel Fingerhut kam getreulich dem Willen des Kaisers nach. Mit blutendem Herzen fügten sich Vater und Mutter in das Unabänderliche und segneten Josef den Einzigen, nachdem sie durch den Pfarrer belehrt worden waren, wie sich für den Kaiser kein anderer Ausweg gezeigt, ihnen den einzigen Son zu erhalten – als indem er ihn ihnen nahm.

Samuel Fingerhut nahm seinen Weg zuerst nach Holland, der alten Heimatstätte der Glaubensfreiheit. Er hielt sich aber daselbst aus uns unbekannten Gründen nur kurze Zeit auf, dann ging er nach Antwerpen. Dort in der Scheldemündung lag ein Schiff, das in den nächsten Tagen die Fahrt nach dem fernen Amerika antreten wollte. Samuel Fingerhut besann sich nicht lange und nahm einen Platz auf dem Kauffahrer, der eigentümlicherweise den Namen „Josef der Zweite“ trug. Glücklich und wohlbehalten kam er in dem damals schon aufblühenden Neuyork an.

In der fernen neuen Heimat gelang es ihm bald, es zu Wohlstand und Ansehen zu bringen. Sein Haus erwuchs allmählich zu einem geachteten und weithin genannten. Hochbetagt, von einem Kreise blühender Kinder und Enkel umgeben, beschloß er vor wenigen Jahren sein Leben. In seinem Testamente fand man ein beträchtliches Legat verzeichnet, das zu gleichen Teilen an die Armen christlicher und jüdischer Konfession seiner Vaterstadt Kojetein, und zwar unmittelbar durch einen seiner Enkel, der zu diesem Zwecke die Reise nach Böhmen anzutreten hatte, verteilt werden sollte.

In einer dem Testamente beiliegenden Aufzeichnung erzählte Samuel Fingerhut seinen Kindern und Enkelkindern, unter welchen wunderbaren Umständen er den Weg nach Amerika gefunden, welchen Gefahren er entgangen und wie Kaiser Josef der Unvergeßliche in sein Leben eingegriffen habe, – er erzählte ihnen die Geschichte von den „beiden Schwertern“.

Zur Biographie: Leopold Kompert

Transkription

In: Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Stefan Hock. Leipzig: Max Hesse 1906, Bd. 1, S. 146-148.

[…]
Über die Stiege herab kam gerade eine hohe Männergestalt in polnisch-jüdischer Tracht langsam gewandelt. Als sie an Moritz vorüber wollte, fuhr er auf, ein freudiger Schreck durchbebte ihn.
„Mendel Wilna,“ schrie er, „das ist Mendel Wilna!“
Der Bettler war darauf stehen geblieben; er sah den unbekannten Knaben lange an.
„Schmah Jisroel,“ rief er endlich, „ist das nicht Schmul Randars Sohn, ist das nicht Moschele?“
„Hätt‘ ich Euch denn gleich erkannt, wenn ich’s nicht wär‘?“ sagte Moritz.
„Also Salem Alechem! (Friede mit Euch!)“
„Alechem Salem! (auch mit Euch), „gab Moritz zurück. Sie schüttelten sich freudig die Hände.
[147/ ] Mendel wußte nicht Worte genug für das Glück zu finden, daß er Moritz auf eine so unerwartete Weise getroffen habe. Er fragte nach Vater und Mutter und ob noch viel Schnorrer zu ihnen ins Haus kämen. Moritz beantwortete diese Fragen, so gut er vermochte.
„Ich bring jetzt die Erd‘ aus Jeruschalaim mit“, sagte er dann, „die ich deinen Eltern versprochen habe. Ich trag‘ sie schon über fünf Jahr bei mir herum und hab‘ sie nicht abgeben können, weil ich nicht nach Böhmen gekommen bin. Das ist schon eine lange Zeit, man wird mich beim Randar schon ganz vergessen haben.“
Moritz beteuerte ihm, daß man zu Hause seiner oft erwähnt, ja daß er selbst einige Augenblicke vorher an ihn gedacht habe.
„Also denkst du noch an Jeruschalaim,“ rief Mendel laut, „hast du noch den Schabbes im Sinn? Und wie du mit mir hast gehen wollen und ich dich habe zurückschicken müssen? Großer Gott! welch ein gebrochen Herz hab‘ ich damals gehabt; ich hab‘ ein paar Meilen müssen fortgehen, bis ich dich aus meinen Gedanken habe bringen können.“
„Ich hab mich noch gut vor Augen,“ sagte Moritz, „wie ich damals ausgesehen, ja, ich fühle noch den Schmerz, als ich so allein ins Haus zurück mußte, voll Scham und Furcht, daß man mich auslachen würde.“
Sie waren bei diesen Worten, die Moritz in rein deutscher Sprache gesprochen, unter eine Laterne gekommen, und an dem fremdartigen Klange, sowie beim Schein des Lichtes, erkannte der Schnorrer, daß er nicht mehr das achtjährige Kind des Randars, sondern einen hochaufgeschossenen Knaben vor sich stehen hatte. […]
Moritz bemerkte, daß der Schnorrer mit einem Male//ganz verlegen wurde; er war einige Schritte zurückgetreten wie wenn er sich in einer fremden Person getäuscht hätte. Moritz erbebte im Innern, er glaubte schon, er habe ihm die ‚Sünde‘ angesehen.
„Wie ist mir,“ sprach Mendel nach einer langen Pause, „ich hab gemeint, des Randars Moschele zu finden, und wen seh‘ ich? Verzeihen Sie mir, ich hab‘ mich gewiß geirrt. Wie soll jetzt der Schnorrer noch mit Ihnen reden?“

[…]

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Sonntagsblätter, Wien, 2.1.1848, S. 7-8.

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Nicht sterben können. Eine Legende aus dem Ghetto.

Von Leopold Kompert

In stiller Nacht war es einmal dem Schulklopfer, als hörte er den Hammer, womit er Früh Morgens und Abends die Leute zur Synagoge rief, in leisen Schwingungen auf und nieder gleiten. „Der Hammer läßt mich nicht schlafen“, sagte er zu seiner Tochter, die ebenfalls wach den unheimlich leisen Schlägen lauschte. „Einer wird sterben wollen in der Gasse“, sagte sie schaudernd, aber gleich darauf schrie sie in ungeheuerer Angst: „Schmah Israel! (höre Israel) der Rabbi wird`s seyn.“ In demselben Augenblicke hörten die Schwingungen des Hammers auf; draußen aber pochte Jemand ans Fenster und eine hastige Stimme rief: „Steht auf, und geht in Schul klopfen, die Leut` sollen Thillim (Psalmen) sagen, denn der Rabbi liegt im Sterben.“ In stiller Nacht ertönten nun die drei bekannten Zeichen des Hammers an jeder Thüre, aufschauernd in den innersten Fasern ihrer Seele hörte die Tochter, wie ihr Vater von Haus zu Haus schritt, und als nun der letzte Schlag an der letzten Thüre der Gasse verschollen war, meinte sie, jetzt müsse der Rabbi seinen letzten Athemzug gethan haben. Da mußte sie bitter weinen. Aber das Thillimsagen der Leute hielt seine scheidende Seele noch zurück, dennoch wichen die Schatten des Todes nicht vom Rabbi. Früh Morgens war er sterbender, und seine Bochrim (Schüler) wehklagten lauter. Man nahm nun Wachs und Docht, man maß die ganze Körperlänge des kranken Rabbi, und formte darnach ein riesiges Licht. Dem zog man Sterbekittel an, und trug es dann hinaus auf den „guten Ort“, (Friedhof), wo man es zu den Todten begrub. Dennoch mußte man bald darauf denken, die Körperlänge des Rabbi – – für die sechs Breter seines Sarges zu brauchen. „Gott, starker Gott!“ schrieen die Bochrim, „was sollen wir denn anfangen, daß der Rabbi leben bleibt?“ – „Kommt Jahre für ihn fangen“, sprach darauf Einer, „vielleicht hört uns Gott.“ Ein Bocher ging nun von Haus zu Haus, ein Papier in der Hand, dahin ein Jeder schrieb, wie viel Jahre, Wochen oder Tage seines eigenen Lebens er für den sterbenden Rabbi gab. Des Schulklopfers Tochter stand vor der Hausthüre, als der Bocher mit dem Papiere gerade vorbeiging. „Und du gibst nichts für den Rabbi her?“ rief er ihr zu. – „Mein Leben, mein ganzes Leben geb` ich für ihn“, sprach sie schluchzend. „Soll ich das einschreiben?“ – „Schreibt, schreibt!“ So zeichnete der Bocher das Leben Hannele`s ein. Zur selben Stunde genas der Rabbi, am andern Tage begrub man eine junge Leiche auf dem „guten Ort“ – nun, es war des Schulklopfers Tochter. Aber so hastig das Mädchen unter die Todten gegangen war, so schwer fiel es nun dem Rabbi, seinen Nahmen aus dem Buche der Lebenden wegzulöschen. Es war merkwürdig, in der ersten Zeit nach seiner Genesung war der Rabbi fröhlich und guter Dinge; er blühte in wunderbarer Kraft wieder auf. Dann aber ward er schwermüthig und bleich; die Leute wußten nicht, woher das kam. Die Leute wußten nicht, daß, wenn der Rabbi in später Nacht über der Gemarah saß und lernte, unten im Hofe ein leiser Gesang ertönte, und daß, wenn er das Fenster öffnete, ein schönes Mädchen dastand, dessen Todeslächeln er durch den Schleier der Finsterniß hinaufleuchten sah. „Sie könnte jetzt singen, und frei seyn, wie der Vogel in der Luft“, dachte dann der Rabbi, und in stiller Nacht weinte er über den dumpfen Blättern der Gemarah. Einmal um Mitternacht erschollen bange Wehklagen um das Haus, sonderbare Töne, wie sie der Schmerz erpreßt. Gleich darauf hörte er die Stimme eines neugebornen Kindes. „Weh` geschrien!“ rief der Rabbi, „um das hab` ich sie gebracht.“ In jeder Nacht vernahm er nun dies Kinderwimmern, dazwischen aber auch so himmlische Wiegenlieder, daß er aus tiefstem Herzensgrunde weinen mußte. Sechsmal wiederhohlten sich die Schmerzensklagen jener Nacht, dann kam das Neugeborne, dann die wunderbaren Wiegenlieder. Dann ward es lange still, einmal jedoch erscholl wieder schöner, jubelnder Gesang, und der Rabbi wußte: „Jetzt macht ihr erstes Kind Bar-Mitzweh (das ist die Feierlichkeit des dreizehnten Lebensjahres bei den Knaben), ich hab` sie darum gebracht.“ Wieder ward es still, bis nach Jahren einmal neuer, schöner Gesang ertönte, und der Rabbi wußte: „Jetzt führt sie ihre Tochter unter die Chuppe, (das ist unter den Trauungshimmel), ach und weh, ich hab` ihr das genommen.“ Nie kam nun die Stimme klagend oder weinend; immer war es herrlicher, unaussprechlich süßer Gesang und der Rabbi ward inne: „Eine glückliche Mutter wär` sie geworden, ich hab` ihr das vernichtet.“ So lebte der Rabbi das ganze Daseyn des Mädchens durch, ja ihn gelüstete es einmal, die schönen Melodien verstummen und Wehklagen dafür zu hören, daß er doch wüßte, sie hätte auf Erden gelitten. Aber das kam nicht, und der Rabbi weinte über der Gemarah: „So glücklich wäre sie geworden!“ Nun wollte er sterben, vergehen; der Gesang ermüdete sein Leben; dennoch konnte er nicht sterben. So war er alt und greisenschwach geworden; die Leute in der Gemeinde sanken vor ihm ins Grab, ja selbst die Kinder, die er einmal gebenscht (gesegnet), schlichen nun als finstere, hinfällige Alte herum, und höhnten furchtlos mit ihrer Krücke dem Tode. Sie starben; er aber konnte es nicht. „Wann ist`s an der Zeit, du Mädchen?“ fragte er oft, „wie lang willst du denn leben?“ Da ertönte einmal um Mitternacht ein banger Wehruf, wie der eines Sterbenden vom Hofe herauf. „Jetzt ist sie todt“, sagte der Rabbi, „Gott sey ewig Dank!“ Früh Morgens fanden ihn die Bochrim entseelt vor der Gemarah sitzen.