➥ Zur Biographie: Baer-Issacher Marta

Aus: Lazar Schön (Hg.): Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus. 1 (1905),

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➥ Zur Biographie: Baer-Issacher Marta

In: Die Welt, 8. Jahrgang, Ausgabe 22 vom 27.05.1904, S. 16f

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Nicht länger träum ‚ den alten Traum

 Von Festeslust und kurzer Freude;

Blick um dich, Weib! Dein Bruder bricht

Zusammen fast, erdrückt vom Leide.

Streich von der Stirn, was dich verwirrt

Und was dein Denken unklar macht,

Zu schwer auf deinem Bruder liegt

 Die ewiglange Leidensnacht.

Nach Osten sieh! Und wenn dein Herz

Noch jüdisch fühlt, muss es dich fassen:

 Du darfst dein Volk nicht tatenlos

 Im Elend untergehen lassen.

 Nach Osten sieh, nach Hilfe schau,

 Bring selbst dem Volke dar dein Leben,

 Du sollst ’s als Tochter deines Stamm`s

 Auf deines Volkes Altar geben.

Du sollst die Wege deines Volks

 In Liebe treu, in Liebe gehen,

 Und leuchtend wird vor diesem Weg

 Das Bild vom neuen Zion stehen.

Das wird in deine Augen klar

Und hell den Gottesfrieden giessen,

Und alle bitt ‚re Wegemüh‘

 Wird dir das grosse Ziel versüssen.

 Wenn du dies Ziel vor Augen hast,

Wird jede Mühe leicht dir scheinen,

 All ‚ das, was du an Glück erträumst,

Wird sich in diesem Wort vereinen.

 Geh nur den Weg, den ich dir sag:

Sieh, deine Kinder sind mein Hoffen,

 An deine Kinder reiner Hand

 Steht dir auch deine Heimat offen.

 Zieh auf den Schoss dein Mädchen dir,

Zu Füssen sitze dir dein Knabe,

Und male leuchtend ihm das Bild

Von deiner einst ‚gen Heimathabe.

Und wenn an dir sein Auge hängt

Und schnell das Herz des Mädchens schlägt,

Dann reiss sie auf und zeig das Leid,

Das noch ihr Bruder stöhnend trägt.

Dann weise hin sie auf das Blut,

Das man aus ihrem Leib gesogen;

Zeig, wie man sie um Heimatsluft

Und Menschenrechte hat betrogen.

Und wenn dir dann ihr Auge folgt,

Umflort vom tiefen Leid, dem trüben,

Dann zeige ihnen, was du willst:

„. . . Ein stolzes Hoffen ist uns blieben . .

 Ein Hoffen, das uns Arbeit heisst,

Ein Streben, Schaffen, volles Leben,

Dass unserm wandermüden Volk

Wir wieder Heimatfrieden geben.

Zeig ihnen, dass der Weg noch frei,

Dass unser Pfad noch unberührt

Dass er an aller Welt vorbei

In unser Land nach Zion führt.

Weck dann im ihm die Sehnsucht auf

Zu seinem Volk, dem er entstammt,

Dass alle seine Leidenschaft

Und Liebe ihm entgegenflammt.

Er wird mit seiner starken Hand

Dem Volke seinen Frieden geben,

Und du, o Weib, wirst froh vereint

Mit ihm im diesem Frieden leben.

Lass fahren du den alten Traum

Von Festeslust und kurzer Freude,

Blick um dich, Weib, dein Bruder bricht

Zusammen fast, erdrückt vom Leide!

M a r t a Baer – Issachar

➥ Zur Biographie: Barach Rosa

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 34. Jahrgang, Ausgabe 34 vom 24.08.1894, S. 346f / Ausgabe 35 vom 31.08.1894, S. 357 / Ausgabe 36 vom 07.09.1894, S. 366f / Ausgabe 37 vom 14.08.1894, S. 376 / Ausgabe 39 vom 28.09.1894, S. 396f

Transkription Rosa Barach Gegen den Strom

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Ausgabe 34 vom 24.08.1894, S. 346f

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Tran-skription

Transkription Rosa Barach Gegen den Strom

I.

„Nun Meister, wie gehts?“ fragte Herr Seider mit seiner weinheiseren Stimme den Mann mit dem zufriedenen Gesichte, der, die Hemdärmel aufgestreckt, gemüthlich seine Pfeife rauchend, mit seiner Frau und seinem Kinde unter der großen Linde saß, die gerade vor dem Fenster seiner ebenerdigen Wohnung stand, und die die Zierde des großen Hofes war.

„Danke für die Nachfrage, Herr Nachbar, mir gehts gut“, antwortete der Bernsteindrechsler Frühauf, den alle Leute im Hause wegen seines Fleißes und seiner Anständigkeit hochschätzten. „Viel Arbeit und gute Zahlung, was will der Mensch mehr? „Immer besser – nimmer schlechter“, hatte mein Vater selig gesagt.“

„Gott sei Dank, kanns uns ja immer nur besser gehen“, nahm Frau Frühauf das Wort, „denn wenn man ein so tüchtiger, fleißiger Arbeiter ist wie Du, kriegt man auch bald sein Schäfchen ins Trockene“.

„Man muß aber auch Alles so zusammenhalten können, wie Du“, antwortete der Mann, und sich an Herrn Seider wendend fuhr er fort: „Ich sage Ihnen, sie ist eine rare Frau. Ja, ja, wenn ich denke, wie wir vor zehn Jahren dagestanden sind, mit leerer Hand, wie sie Lehrbub und Geselle in einem gewesen, wie sie dabei die Wirthschaft so führte, daß, wenn wir auch schmale Bissen ma- chen mußten, man doch noch immer Etwas weglegen konnte, so ..“

„Ja, strecken nach den Decken“, hat mein Vater selig gesagt“ gab sie zurück. „Uebrigens mußt Du nicht so viel Wesens davon machen, ich habe nur meine Pflicht gethan.“

„Ja wenn Jeder seine Pflicht thäte“, meinte Frühauf, „möchte es um so Manchen anders ste- hen“.

Er streifte mit einem vielsagenden Blicke die deroute Gestalt Seiders, der einst ein reicher Gla- sermeister gewesen und der durch Faulheit und Trunksucht so herabgekommen war, daß er sich nur als Bettgeher einmiethen konnte, nachdem er seiner Familie die Sorge für sich selbst überlas- sen, d. h. sie im Stiche gelassen hatte. Er ging von einem Wirthshaus ins andere und gesellte sich jenen unlauteren Elementen, die ohne jeden sittlich, moralischen Halt, ohne jeden ethischen Werth, ohne jedes Verständnis für die socialen Interessen eine andere Ordnung der Dinge einfüh- ren wollten, nachdem sie durch eigene Schuld Schiffbruch gelitten, wofür sie die alte Ordnung verantwortlich machen zu müssen meinten.

Seider, welcher behauptete, er wäre zu Grunde gegangen, weil ein Jude in der nächsten Gasse sich als Concurrent niedergelassen hatte, war einer der ärgsten Schreier und Wühler. Er bedachte nicht, daß, während er im Wirthshause saß und das wenige, das er verdiente, vertrank, der Jude nüchtern und bescheiden lebte, keine Stunde im Geschäft fehlte und Kreuzer auf Kreuzer legte, um bald ein wohlhabender Mann zu sein.

„Ihr seid eben, was man „dumm-zufrieden“ nennt“, sagte er jetzt und zog die Schultern hoch. „Ihr arbeitet im Schweiße Eueres Angesichtes für schäbigen Lohn und während der Jude Braun, dem Ihr die Arbeit liefert, im Fiaker fährt und fürstlich lebt, nehmt ihr mit Butterbrod und schlech- tem Biere vorlieb.“

Er sah verächtlich auf die Reste des frugalen Nachtmahls, das die Eheleute soeben eingenommen hatten.

„Laßt Herrn Braun ungeschoren“, antwortete Frühauf. „Er lebt und läßt leben und ist ein braver Mann“.

„Ja!“ rief Seider hämisch, „er läßt leben. Heißt Euer Leben auch leben? Wie ich sage, Ihr seid dumm-zufrieden, aber selbst das wird Euch der Jude nehmen, er wird Euch zu Grunde richten, so wie mich der Jude zu Grunde gerichtet hat.“

Frühauf schüttelte energisch den Kopf, während seine Frau den Sprecher wüthend ansah und so aufgeregt ihre Arbeit zusammenraffte, daß ihr die Hände zitterten.

„Ueber Herrn Braun lasse ich nichts kommen“, rief auch sie jetzt. „Er ist ein braver, ehrlicher und herzensguter Mann. Er hat uns schon oft ausgeholfen und ohne ihn wären wir heute am Bettelstab.“

„Es ist wahr“, sagte Frühauf. „Als vor fünf Jahren unsere Kinder im Scharlach lagen, die Arbeit stockte und Krankheit und Begräbnisse unser Letztes verschlangen, streckte uns Herr Braun aus freien Stücken 500 Gulden vor, so daß wir Material kaufen und Vorrath arbeiten konnten. Das Material ist dann im Preise rapid gestiegen und ich habe ein schönes Stück Geld verdient, das jetzt als wohlgeborgener Nothpfennig in der Sparcassa liegt.“

„Ha, ha, ha!“ lachte Seider. „Und Ihr begreift nicht, warum der Jude das gethan? Um Euch in seiner Hand zu haben, um Euch später zu billiger Arbeit zu zwingen, auf seinen Schein pochend, um sagen zu können: Ich will mein Pfund Fleisch und müßte ich es auch aus Euren Rippen schneiden.“

Frau Frühauf starrte den Sprecher einen Augenblick wortlos an. „Ich sage Euch, das ist erlo- gen“, rief sie entrüstet, „das ist schlecht von Euch, so zu reden und einen Mann zu verleumden den Ihr nicht kennt, der Euch nichts zu Leide gethan hat. Und glaubt Ihr, die christlichen Fabrikan- ten und Exporteure stellen ihren Vortheil unter den Scheffel? Jeder trachtet so viel als ihm möglich zu verdienen und sein Geschäft hat mit seinem Glaubensbekenntniß weiter nichts zu schaffen.“

Sie nahm ihre Arbeit und den Schemel, auf dem sie gesessen hatte und ging, unmuthig über den Störenfried, ins Haus.

„Freilich, wenn man bedenket wie blutig wir uns plagen müssen“, sagte Frühauf sinnend.

Seider streifte den Meister mit einem Blick, als ob er sagen wollte: „Sitzt schon“. Frühauf aber, den seine Aeußerung schon reuen mochte, fügte rasch hinzu: „Uebrigens muß Jeder arbeiten der rechtschaffen leben will und somit, gute Nacht.“

Mit diesen Worten ließ er den Mann stehen, der ihm hämisch nachsah und etwas wie „Judenknecht“ in den Bart murmelte.

„Was nur die Leute wollen?“ sagte Frühauf sinnend, als er in die Stube trat.

„Das wissen sie selber nicht“, entgegnete die Frau, indem sie den Schemel, den sie noch in der Hand hielt, energisch auf den Boden stellte. „Ich aber weiß es. Sie wollen genießen ohne zu arbeiten, es sind gefährliche Menschen, vor deren Einflüsterungen sich Jeder hüten soll. Es ist der Brodneid, sonst nichts. Braun hat uns Arbeit gegeben und gut gezahlt, er hat uns oft, und aus höchster Noth geholfen, wir müssen das dankbar anerkennen, gleich viel ob der Mann Jude ist oder Christ.“

„Gewiß“, entgegnete Frühauf mit einer Bewegung, als ob er einen häßlichen Gedanken abschütteln wollte, der einen Augenblick seine Stirne getrübt hatte. Er küßte sein Kind zur Nacht, sah sich zufrieden um in dem schönen Heim, das ihm Arbeit und Fleiß gegründet hatten und als er sich zur Ruhe begab, träumte er von goldenen Bergen , auf denen – der Jude Braun saß, der ihn faßte und in die Tiefe schleuderte, und als er sich an ihn klammern wollte, trug er plötzlich die Züge – Seiders.

Ausgabe 35 vom 31.08.1894, S. 357

(Fortsetzung folgt.)

(Fortsetzung.)

II.

Im Gasthause „Zum goldenen Fuchsen“ saßen zwei Männer an einem Tische und die Zahl dergeleerten Gläser, welche vor ihnen stand, bewies, daß sie dem Tropfen tüchtig zugesprochen hatten.

„Blöd seit Ihr“, rief Seider, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Gläser heftig aneinander klirrten, „blöd sage ich, daß Ihr dem Juden Eure Arbeit liefert. Und für so ein Spottgeld! Ha, ha! Während Euer Schweiß auf die Drehbank tropft, lebt er herrlich und in Freuden. Warum arbeitet der Jude nicht?“

„Kellner! Noch ein Glas, sonst ersticke ich an dem vermal . . . . Juden.“

„Nun, Einer muß doch das Capital haben, um die Arbeit der Anderen verwerthen zu können“, wagte Frühauf schüchtern zu erwidern. „Ich habe weder das Geld, noch den Geschäftsgeist, um damit speculiren zu können.“

„Habt nur einmal das Geld, der Geist kommt schon von selbst dazu. Ja, Ja! Warum habt Ihr das Geld nicht? Könnte er nicht an der Drehbank stehen und arbeiten, bis ihm . . . Kellner! Noch ein ein Glas und für den Meister da auch eines!“

„Nein, nein!“ wehrte Frühauf ab.

„Lächerlich!“ rief der Andere. „Trinkt! Der Jude lebt ja auch und saugt und raubt Euch aus. Ihr werdet bald weder Etwas zu beißen noch zu trinken haben und was Ihr da durch die Kehle jagt, raubt er Euch nicht mehr. Profit! Ihr sollt leben und nieder mit den Juden!“

Beide leerten die Gläser.

Lange hatte sich Seider vergebens bemüht, den fleißigen Frühauf ins Wirthshaus zu locken, um, wie er es schon mit vielen Andern gethan, auf dessen Kosten zu leben und so nebenbei für die Vergrößerung der Partei zu sorgen.

Frau Frühauf, mit ihrem einfachen Naturverstande, der dies Treiben in der Seele zuwieder war, redete genug dagegen. „Was gehen uns diese Parteien an“, sagte sie oft, „wir arbeiten und verdienen genug und scheren uns nicht um Jud und Christ und wo die Menschen aufgewiegelt werden, Excesse machen und Unfrieden stiften, da bleibe Du weg, denn das kann nicht vom Guten sein. Der verständige Mensch in unseren Verhältnissen kümmert sich um sein Geschäft, um Weib und Kind und läßt den lieben Herrgott einen guten Mann sein.“

So suchte die den Einfluß des bösen Menschen abzuwehren, allein in dem Momente, wo durch die steten Vergleiche seiner Verhältnisse mit denen des Herrn Braun der Dämon Unzufriedenheit in dem Herzen Frühauf’s platzgegriffen, hatte der Hetzer auch gewonnenes Spiel. Mit unwiederstehlicher Gewalt zog es Jenen immer in die Nähe Seiders, dessen giftgeschwollenen Worten er mit beinahe wollüstigem Ingrimm lauschte und dessen Versicherung er gierig in sich aufnahm, daß ihn der Jude aussauge, daß die Juden gar kein Recht hätten, in diesem Lande zu leben, daß man sie hinausjagen müsse, um die Christen von dieser Plage zu erlösen, ehe die Zeit komme, in welcher die armen Christen von den Juden gänzlich erdrückt sein werden.

Frühauf konnte lange nicht begreifen, wieso die Handvoll Juden, welche verhältnißmäßig der großen christlichen Bevölkerung gegenübersteht, diese erdrücken könnte, allein er hörte dies so oft, daß er sich weiter nicht den Kopf darüber zerbrach, sondern halbtrunken und verständnißlos diese „Schlager“ nachplapperte und mit der Faust auf den Tisch schlug, wie Seider, wenn er sich in einen unbändigen Zorn hineingeredet hatte.

Dann zahlte er gewöhnlich für sich und seinen sauberen Kumpan, schlang den Arm in den des Mannes, dem er vor Wochen nicht die ehrliche Hand gereicht hätte und dann taumelten sie nach Hause und riefen: „Nieder mit den Juden!“ Frühauf, der seiner Sinne nicht mächtig, durch seine Trunkenheit einem Thiere glich und Seider, der, da er nichts Anderes mehr hatte, vom Antisemi- tismus lebte, nachdem er durch Faulheit und Schlemmerei es so weit gebracht, daß ihm die Zehen aus den Schuhen schauten, sie beschimpften den Juden, der ihnen begegnete, der anständig aussah, seinem Erwerbe ruhig nachging, sich den Bissen vom Munde sparte, um für Weib und Kind zu sorgen, und sie riefen: „Nieder mit dem Juden!“

Frau Frühauf war lange nicht mehr die glückliche, zufriedene Frau, die sie gewesen. Ihr Mann war ja nie zu Hause, um nach der Arbeit zu sehen. Er saß den ganzen Tag und bis spät in die Nacht beim goldenen Fuchsen, oder zog mit seinen Kumpanen in ähnlichen Localen umher und wenn ihm seine Frau Vorstellungen machte, so schlug der mit der Faust auf den Tisch, hieß sie mit rohen Worten schweigen und schrie: was ein fürstlicher Herr thue, dürfe er auch thun. So ein hoher Herr wisse, was er rede, er und die andern Herren, unter denen sogar Doctoren und andere gelehrte Männer wären, wissen auch, was sie zu thun haben, sie werden auch für den kleinen Mann handeln und ihm helfen und er brauche sich daher weiter nicht den Kopf zu zerbrechen. Uebrigens könne der Seider, der gewiß noch einmal ein großer Mann wird, nicht so schlecht sein, denn, sonst würde ein so hoher Herr ihm nicht die Hand reichen und ihn seinen „Freund“ nennen.

Und indeß er mit seinen Gesinnungsgenossen, meist verrohten Gesellen, dem „hohen Herrn“ nachzog und sich geschmeichelt fühlte, eine Luft mit ihm zu athmen, amusirten sich zuhause seine Gesellen, vernachlässigten die Arbeit, die von Tag zu Tag weniger und schlechter wurde, so daß Herr Braun, nach vergeblichen Ermahnungen, ausmustern und zurückstellen mußte, was ihm für den Export zu schlecht war. Dadurch schmolz natürlich der Verdienst Frühauf’s nicht unerheblich zusammen, und wüthend fuhr er jetzt aus eigener Ueberzeugung (?) in den Versammlungen über die Juden her. Seider habe Recht gehabt, schrie er, der Jude sauge ihn aus und erdrücke ihn und er fordere die Gesinnungsgenossen auf, nicht mehr für den Juden zu arbeiten.

Die größten Schreier schloßen sich ihm an. Was aber dann kam, berechneten sie nicht. Durch diesen „Strike“ gegen die jüdischen Exporteure stand den christlichen Arbeitgebern plötzlich eine große Summe Arbeitskraft zur Verfügung, was sie veranlaßte, die Löhne bedeutend herabzusetzen und so kam es, daß Frühauf, so wie die Andern kaum mehr das nackte Brod verdienen konnten.

Indeß ihr Mann nach wie vor im Gasthause saß und fast niemals mehr nüchtern war, arbeitete die arme Frau jetzt wieder wie einst als Lehrbub und Geselle, denn sie hatte alle verabschieden müssen und sie hatte Mühe, das nothwendigste für den armseligen Haushalt zu erschwingen. Der Nothpfennig war aufgezehrt, die besten Sachen waren ins Leihaus getragen und während sie sich mühte und grämte und mit ihrem Kinde darbte, saß ihr Mann beim goldenen Fuchsen und statt an die Arbeit zu denken, hatte er für nichts mehr Sinn, als für den einen Gedanken: die Juden bekämpfen bis aufs Messer.

Ausgabe 36 vom 07.09.1894, S. 366f

(Fortsetzung folgt.)

(Fortsetzung.)

III.

In der einst so traulichen, von Fleiß und Wohlstand zeugenden Wohnung Meister Frühauf’s sah es traurig, ja erschütternd aus.
Die meisten Möbelstücke, die Frau Frühauf, stolz auf ihre Ersparungskünste, nach und nach angeschafft, waren verkauft. Ein armseliges Bett, ein Tisch und einige wackelige Stühle waren die traurigen Reste aus besseren Zeiten. Doch ein noch traurigeres Bild war es, welches die Augen überfließen und das Herz erstarren machten.

Auf zwei Stühlen gebettet, mit einem zerschlitzten Linnen bis an den Hals gedeckt, die bleichen, wachsähnlichen, abgemagerten Hande auf der Brust gefaltet, lag – eine Leiche.

Eine tückische Krankheit hatte das einzige Kind Frühauf’s hingerafft, – hingerafft, weil die Mittel nicht reichten, um es zu pflegen, und der Krankheit den Boden zu entziehen, auf dem sie am besten und meisten gedeiht, „Leid und Entbehrung“. An der Leiche saß mit starrem, weißen Gesichte, das fast so fahl anzusehen war, wie das des entseelten Lieblings, die arme Mutter, und hörte fast theilnahmslos die Trostesworte, die ihr ein Mann in geistlichem Gewande spendete.

Der greise Seelsorger mit dem ehrwürdigen, von Liebe und Güte verklärten und durchgeistigten Antlitze, hatte sie einst getauft, er hatte sie confirmirt und in seine Hand hatte sie später das Ja- wort gelegt, als sie dem fleißigen, braven Manne zum Altare gefolgt war. Er hatte ihr Kind in die christliche Gemeinde aufgenommen, sie war ihm ein liebevolles Pfarrkind gewesen, dessen ehrsames, arbeitsames Leben wie ein offenes Buch vor ihm lag. Und darum war er gekommen, um sie in ihrem größten Schmerze zu trösten und er war nicht wenig erstaunt, sie in solcher Armut zu finden.

Endlich löste sich die Starre ihres Schmerzes, ihr Herz that sich auf vor seinen liebevollen Worten, ihre Augen floßen über und nun schüttete sie all ihren Gram, all den Jammer der letzten Jahre in seinen Busen aus.

Ruhig, nur manchmal mit dem Kofe nickend, wie um eine Wahrheit zu bestätigen, die in ihren Anklagen lag, hatte er ihr zugehört. Und sie erzählte, wie glücklich sie gewesen, wie sie gearbeitet und gespart hatten und fast wohlhabende Leute genannt werden konnten, wie ordentlich und brav ihr Mann gewesen, bis er den Hetzern und Verführern, die langsam das Gift in sein Ohr träufelten, in die Arme gefallen war, wie er das Wenige, das er dann noch verdiente, im Wirthshause vertrank, wie sie nicht mehr hatte, um ihr Kind zu pflegen und wie sie jetzt nicht einmal mehr die die armseligen Bretter bezahlen könne, in welchen das arme Kind von aller Noth und Entbehrung ausruhen sollte.

Laut aufschluchzend warf sich die arme Frau über den entschlafenen Liebling.

„O, könnte ich mit Dir gehen, mein geliebtes Kind! rief sie in höchster Verzweiflung „und allem Leid ein Ende machen“.

„Da liegt sie wieder und heult. Machst sie mit all dem Geplärre nicht lebendig“.

Wie ein gellender Mißton fielen diese Worte mitten in die sanften Tröstungen des greisen Priesters. Ueberrascht blickte sich dieser um und gewahrte Frühauf, der eben durch die Thüre getreten war. Beim Anblicke des allverehrten Seelsorgers zuckte er zusammen und ließ sich, wie vernichtet von dem strafenden Blicke desselben, schwer auf einen Sessel fallen.

„Ich – – – ich meinte nur – – – es hilft ja nichts, todt ist todt“, stotterte er verlegen.

„Ehret den Schmerz der Mutter, die an der Leiche des Kindes, das ihr einziger Trost gewesen, auch um den Vater weint“, sagte strenge der Priester, und nachdem er den Mann, dem man es ansah, daß er im Wein seinen Schmerz ertränken gewollt, durchdringend angesehen, fuhr er mit seiner tiefen, zum Herzen dringenden, von einem Ton unendlicher Herzensgüte und tiefen Mitleids durchzitterten Stimme fort.

„So weit ist es also mit Ihnen, mein lieber Frühauf, gekommen? Schlagen Sie sich an die Brust und sprechen sie reuig: „mea culpa, mea culpa“.

„Ich bin nicht schuld“, entgegnete Frühauf mürrisch, ohne daß er es jedoch wagte, den Blick zu dem Antlitze des Priesters zu erheben.

„Der Jude ist schuld, der mir die Arbeit schlecht bezahlte. Auf ihn fällt die Verantwortung für all das Elend“.

Seine Blicke irrten durch die kahle, armselige Stube und als sie auf der Leiche des Kindes haften blieben, ballte er die Faust, als ob er jenen niederschlagen müßte, der in seiner Einbildung auch das verschuldet.

„Der praßt von meinem Gelde“, brummte er mit einer in Schluchzen übergehenden Stimme, der man es anhörte, daß die Rührung eher ein Product des genossenen Weines, als seines Schmerzes war, „der praßt und mein Kind – mein Kind“. – – –

„Der hat gespart und gearbeitet und Kreuzer auf Kreuzer gelegt, bis er zum wohlhabenden Mann geworden. Warum habt Ihr nicht das Gleiche gethan?“ fragte der Priester strenge.

„Weil er die Arbeit ausmusterte und schlecht bezahlte und jetzt arbeite ich nicht für den Juden und wenn ich crep – – –“

„Haltet ein mit so gottloser Rede“, rief der Geistliche in einem Tone“, der Frühauf völlig nüchtern machte. „Ihr babt die Arbeit vernachlässigt und seit den Verführern und Hetzern gefolgt. Und jetzt wollt Ihr Andere für Euren Ruin verantwortlich machen. Kein Wunder, denn das thun all

Jene, welche nicht durch Fleiß und Ausdauer, sondern über Nacht auf Kosten Anderer erringen und von dem was sie ergattert, nicht was sie erarbeitet, leben wollen. Ihr schwört auf die Worte jener Gewissenlosen, die nicht gegen den Juden, nicht für das Christenthum, sondern unter die- sen Deckmantel für sich kämpfen, ehr- und gewinnsüchtige Pläne verfolgend. Sie wissen es, daß man nur das Wort „Jude“ als Brandfackel in die Massen zu schleudern braucht, die ihnen wie eine Heerde Schafe folgt, und wenn die aufgewühlten Massen sich die Köpfe blutig geschlagen, dann lachen sie sich ins Fäustchen, denn dann haben sie ihre niedrigen Ziele erreicht“.

„Der Jude betrügt uns, wo er nur kann und man muß ihn unschädlich machen“, eiferte Frühauf. „Was verdrängt er uns von unserem Boden und bringt uns um Summen, die sonst uns zufallen müßten? Hier ist seine Heimat nicht, er gehe dahin, woher er gekommen“.

„Verblendeter Thor“, rief entrüstet der Priester. „Sucht nicht Jeder seinen Vortheil wo er ihn findet, sei es Jude oder Christ? Und wenn Dich ein Jude betrog, that er es, weil ein Jude ist, weil seine Religion ihm das gebietet? Seine Religion baut sich auf den heiligen Schatz der zehn Gebote auf, wie die unsere, der Betrug ist ihm verboten wie uns, und wen er Dich dennoch betrogen, oder übervortheilt, so that er es nicht, weil er Jude, sondern weil er ein schlechter, gewissenloser Mensch ist. Wem fiel es ein, zu sagen, daß ein Hugo Schenk so viele Morde begangen, weil er ein Christ war? Er beging sie, weil er ein böser Mensch war. Keine Religion gebietet ihren Bekennern Sünden und man kann sie niemals für die Verbrechen der Menschen verantwortlich machen. Ihr sagt, der Jude nehme Euch das Brod, betrüge Euch um Summen, die sonst Euch gehören wür- den, weil er sie zu erwerben trachtet?“

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 37 vom 14.08.1894, S. 376

(Fortsetzung.)

Die Anwesenheit des Juden im Lande entzieht Euch den Gewinn, hier ist seine Heimat nicht, sagt Ihr und er habe hier auch keine Rechte?
Wo ein Mensch geboren ist, wo er Geld- und Blutsteuer bezahlt, da ist seine Heimat, sein Vaterland gleichviel welcher Confession er angehört.
Gleiche Pflichten schaffen gleiche Rechte.
Was hat Euch der Jude gethan? Er erwirbt? Erwerbet auch. Er ist nüchtern und sucht sich durch Bildung und Fleiß emporzubringen, er spart sich den Bissen vom Munde für Weib und Kind und ruht und rastet nicht, bis er für sie gesorgt hat. Thut es ihm nach. Unser erhabener Monarch, der ein wahrer Vater seines Volkes ist, gab allen seinen Unterthanen gleiche Rechte, zu welcher Religion sie sich auch bekennen mögen. Vor dem Staate, wie vor dem Gesetze sind nach seinem erhabenen Willen Alle gleich Ist es nicht eine Art Hochverrath an diesem Willen des Herrschers, wie an dem Gesetze, dieses stürzen und Bürger ihrer Rechte berauben zu wollen, den Frieden der Bevölkerung zu stören, allen Errungenschaften der Civilisation und der Humanität ins Antlitz zu schlagen und Allem, was große Männer Befreiendes gedacht und vollbracht, Hohn zu sprechen? Und dann. Werden Euere Kinder als Christen geboren? Nein. Durch die Taufe wird das Kind zum Christen, durch die Erziehung wird es zum Juden, Gott und Natur schicken den Menschen auf die Welt und die Erde deckt sie einst Alle liebevoll zu, gleich viel was sie gewesen. Gott in seiner unfaßbaren Größe und Unendlichkeit, in seiner Liebe, die wir armen Menschen ja kaum zu fassen vermögen, läßt die Sonne scheinen für Alle, ohne nach ihrem Glaubensbekenntnisse zu fragen, die Blumen duften für Alle, die Erde bringt ihre Früchte für Alle hervor und nur ihr armseligen Geschöpfe, die ihr kaum ein verschwindender Punkt im Weltall, kaum ein Hauch seid im Vergleiche zur Unendlichkeit Gottes, Ihr erfrecht Euch einen Unterschied zu machen zwischen Menschen und Menschen, weil der Zufall der Geburt sie daher und nicht dorthin gestellt, wie es ja auch Euer Verdienst nicht ist, Christen zu sein, weil ebenfalls nur der Zufall der Geburt Euch dazu gemacht. Wie könnt Ihr also Jene dafür verantwortlich machen, daß sie Juden sind und sie darum hassen und verfolgen, weil sie ihren Gott, der ja auch der Euere ist, in anderer Form verehren wie Ihr? Ihr wollt klüger sein als Staat und Gesetz, ja als der Allmächtige selbst, und begehet – Verbrechen gegen Recht und Staat und Pflicht unter dem Deckmantel des Christenthums. Seid Ihr denn Christen? Ihr seid Katholiken, ja, weil Ihr getauft wurden; Christen? Nein, und tausendmal nein und wenn Ihr Euch auch tausendmal so nennet. Christus predigte Liebe, Ihr prediget Haß, Christus predigte Frieden, Ihr predigt Zwietracht, er wollte alle Menschen als Brüder vereinen durch das Band allumschließender Menschenliebe, Ihr entzweit die Menschen und hetzet sie gegeneinander wie wilde Thiere. Ihr plappert sinn- und verständnißlos die heftigen, allem menschlichen Empfinden Hohn sprechenden Worte Euerer Verführer nach, die nur ihr eigenes Interesse im Auge haben, während sie Euch goldene Berge versprechen, wenn der Jude nicht mehr ist, von dessen Drucke (?) sie Euch befreien wollen. Was haben Sie all die Jahre her schon für Euch gethan? Nichts.

Allein die Volksseele haben sie vergiftet, die Menschen gegen einander gehetzt, allen Errungenschaften der Humanität und der Civilisation, für die die Edelsten ihr Bestes geopfert und geblutet haben ins Antlitz geschlagen und auf Jahre hinaus zurückgestaut, die zur Liebe und Duldsamkeit mahnenden Worte aller Edeldenkenden verhöhnt, weil sei den Dämon Unzufriedenheit in Euere Herzen gesenkt, ein Boden, auf welchem Haß und Neid gedeihen, dies giftige Unkraut, welches alle guten Triebe überwuchert und vernichtet. Haß, nur Haß habt Ihr auf Euere Fahne geschrieben, und wahrlich, würde der Heiland heute erstehen und predigen wie er damals gepredigt, Ihr, die Ihr Euch Christen nennet, Ihr würdet ihn kreuzigen so wie Ihr Alles in den Koth zerret, was an Menschlichkeit in Euch appellirt. Ja, heute würdet Ihr den Heiland kreuzigen, Ihr, die Ihr seine Lehre, die ihr das wahre Christentum täglich durch Wort und That schändet, besudelt und in den Staub zerret.“

„Bei diesem Kreuze“, fuhr der edle Priester begeistert fort, indem er das Kreuz von seiner Brust nahm und die Hand wie zum Schwure erhob, „es ist nicht der Wille Gottes nicht der Wille der Religion, Haß und Zwietracht unter den Menschen zu säen, sondern Liebe, Liebe, Liebe und bei dieser entsetzlichen Verkörperung Eueres Elends, bei dieser armen Leiche beschwöre ich Euch, kehret um, schwöret ab den Irrwahn, daß ein Mensch anders sei, wie der Andere so lange er gut und rechtschaffen ist, schwöret ab den Haß gegen Andere, der Euch ins Verderben stürzt, seid ein Mensch, seid ein Christ.“

Es war ein erhebender Anblick, wie der greise Priester dastand, mit vor Erregung glühenden Wangen und mit vor Begeisterung leuchtenden Augen, eingedenk seiner heiligen Pflicht, der wahre Vertreter der allumschlingen Menschenliebe auf Erden, der wahre Priester, den, wohl wissend was seiner Amtes ist, nicht anders reden konnte, der wahre Mensch und Christ, dessen Herz vor Mitleid und heiliger Entrüstung überfloß angesichts des ungeheueren Unrechtes, das Haß und Verblendung stifteten, angesichts der Verbrechen, welche sie an der Menschlichkeit begegehen.

Frühauf war unter der Macht der begeisterten Worte, welche wie eine unabweisbare Anklage auf sein Haupt niederfuhren und sein Innerstes erschütterten, ganz zerknirscht dagesessen. Jetzt beugte er sich demüthig nieder, um den Saum des priesterlichen Gewandes zu küssen und wie Vergebung und Hilfe flehend sah er dann zu dem gottgeweihten Manne empor.

„Der Allmächtige segne Sie und Ihre Worte“, sagte in dem Augenblicke eine tiefe Männerstimme. Es war die des Herrn Braun, welcher eintretend die letzten Worte vernommen hatte. Ehrfurchtsvoll verbeugte er sich vor dem Priester, der so hehr seine Mission auf Erden erfaßte, und wiederholte gerührt: „Gott segne Sie“, dann sich an Frühauf wendend fuhr er fort:

„Ich habe von Ihrem Unglück gehört und möchte Ihnen gerne helfen, Herr Frühauf. Hier eine kleine Summe für die nächsten Tage“ – er legte eine wohlgefüllte Börse auf den Tisch – „und wenn Sie mir wieder Ihre Arbeit liefern wollen, so will ich mir denken, ich habe sie niemals früher gesehen, und will Ihnen Arbeit geben.“

Bei diesen, die Vergangenheit und das Unrecht Frühauf’s auslöschenden und aussöhnenden Worten verbeugte er sich wieder vor dem Priester, drückte Frau Frühauf in stummem Mitgefühle die Hand und ging.

Frühauf stand tief beschämt und als die Frau aus ihrem Staunen sich aufraffend, dem Retter in der Noth danken wollte, war er verschwunden.

„Ihr seht, das Herz, das der Allmächtige in die Menschenbrust gelegt, fragt nicht, ob es einem Juden oder Christen gehöre, es fragt auch nicht, ob derjenige, der der Hilfe bedarf, Jude sei oder Christ, es hilft dem Menschen aus reiner Menschlichkeit“, sagte der Priester. „Möge diese edle That, deren Zeuge ich gewesen, den letzten Zweifel, die letzten Schatten aus Euerer verirrten Seele bannen, das walte Gott!“

Ausgabe 39 vom 28.09.1894, S. 396f

(Fortsetzung folgt.)

(Schluß.)

IV.

Frau Frühauf wähnte, mit dem Kinde, an dessen Leiche der würdige Prediger so begeisterte und versöhnende Worte gesprochen, auch den Irrwahn ihres Mannes begraben zu haben und hoffte, daß, wenn ihr auch das Schicksal schwere Wunden geschlagen, doch wider bessere Zeiten kommen werden. Allein der Glaube, daß der menschliche Geist so rasch Irrthümer abstreife, in die er sich verrannt, erwies sich als ein irriger. Auf jene Menschen, die nicht durch Bildung gelehrt wurden logisch zu denken, jene, die nur die Ergebnisse der socialen Schäden sehen, ohne diesel- ben aus den Antecedentien ableiten zu können, wirkt immer das Wort, welches zuletzt gesprochen wurde. Ihnen fehlt der moralische „Fundus instructus“ eine Ueberzeugung festzuhalten und daher war auch die Hoffnung Frau Frühauf’s, daß ihr Mann wieder arbeiten und ein neues Leben beginnen werde, eine irrige. Er begann zwar ein neues Leben, da ihm Herr Braun, seinem Worte getreu, wieder Arbeit gab; allein alle guten Vorsätze zerstoben vor den infamen Anschuldigungen Seiders, daß auch der ehrwürdige Pfarrer ein gezahlter Judenknecht sei, und daß Frühauf erwiesenermaßen von dem Juden Geld genommen hatte, um die Fahne zu verlassen. Er hätte sich seinen Haß abkaufen lassen und zerfließe nun wieder bei schwerer Arbeit in Demuth vor dem „goldenen Kalbe“.

Dagegen wehrte sich der Stolz des sonst tiefgesunkenen Mannes, er mußte nicht nur beweisen, daß dem nicht so sei, sondern, als ihm Seider versicherte, Braun habe ihm abermals geholfen, um abermals billige Arbeit in Händen zu haben, erwachten all die kaum niedergedrückten irren Ansichten und wilden Triebe wieder im Herzen Frühauf’s, die Worte des ehrwürdigen Mannes verblichen vor der Wucht der unfläthigen Reden und der giftigen Worte Seiders und Genossen und bald war er wieder ganz der ihrige, indem er schwor, sich nie wieder durch so ein frommes Gewinsel der heiligen Sache des – Hasses abwendig machen zu lassen.

Er hatte demzufolge die Arbeit wieder verloren und war so herabgekommen, daß er nicht einmal die Miethe für das kleine Zimmerchen bezahlen konnte, welches er jetzt neben seiner schönen, geräumigen Wohnung von früher inne hatte.

Gram und Kummer hatten die arme Frau aufs Siechbett geworfen, da lag sie nun den ganzen Tag auf das Mitleid guter Nachbarn angewiesen und wenn der Mann Abends trunken heim, so war sie nicht selten noch seinen Mißhandlungen ausgesetzt.

„Da, da hast den Wisch“, lallte er eines Abends mit schwerer Zunge, indem er ihr die Kündigung der Wohnung hinhielt.

„Ausziehen heißt’s morgen – – – Ausziehen – – hast g’hört? – – Wenn ich ausziehen muß, so – so – kann der Braun sich freuen.

Er ist schuld – – der Jud ist an Allem schuld – – nicht reden“ rief er und schlug wüthend auf den Tisch „nicht reden, der . . . Jud ist schuld, sag’ ich . . . er muß unschädlich gemacht werden, unschädlich . . . hörst du . . . nicht reden, sag’ ich.“

Die arme Frau hatte kein Wort gesprochen und wagte es auch nicht. Hilflos wie sie dalag, hätte er sie erdrosselt.

Von Wuth und Besinnungslosigkeit übermannt fiel er endlich auf einem Sessel nieder und bald zeigten seine lauten Athemzüge, daß er in festen Schlaf gesunken war.

Am andern Morgen raffte sich die arme Frau, so schwer es ihr wurde auf, und gieng zum Hausherrn, um ihn um Aufschub zu bitten.

„Ich habe genug Nachsicht und Geduld gehabt, antwortete dieser unwirsch. Ihr Mann ist ein Fallot und Sie wollen auch nicht arbeiten. Da werdet ihr wohl Niemals Zins bezahlen können Wozu also das Warten?“

„Ich dachte Sie werden uns schonen“ wagte die Frau schüchtern zu entgegnen, weil ja mein Mann von Ihrer Partei ist, und daß Sie einen Gesinnungsgenossen nicht fallen lassen. Sie haben ihn ja oft Ihren „Freund“ genannt, besonders als er für Ihre Wahl . . . .“ Die arme Frau verstummte vor dem Blicke, den er ihr zuwarf.

„Was hat mein Haus mit meiner Gesinnung zu thun?“ schrie entrüstet der Mann, der in den Versammlungen große Reden hielt, wie dem kleinen Mann zu helfen sei und wie man ihn vor der herzlosen Ausbeutung der Juden schützen müsse. „Wenn Sie nicht bis heute Abends bezahlen, muß ich Sie delogiren, denn die neue Partei muß einziehen und damit basta.“

Todtraurig wankte Frau Frühauf nach hause. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, denn die Erregung, in welche sie die Fehlbitte versetzt hatte, wirkte dermaßen auf ihre ohnehin aufgeriebenen Kräfte, daß sie halb ohnmächtig in einer Apathie, aus der sie nicht einmal die Thätlichkeit des Mannes aufzurütteln vermochten, auf ihr armseliges Lager hinsank.

Als sie wie aus schweren Traume erwachte, sah sie, wie die Hausmeistersleute ihre wenigen Habseligkeiten in den Hof hinaus trugen.

„Kommt in meine Wohnung, ich will Euch für die Nacht Obdach geben“ sagte ihr mitleidig die Frau und trug die Kranke mehr als sie sie führte, in ihre Stube, die auch nicht über zu viel Raum zu gebieten hatte.

Einen unsäglich traurigen Blick warf die arme Frau Frühauf auf die letzten Zeugen ihres maßlosen Unglücks, dann ließ sie Alles geschehen, mit jener tiefen Resignation, welche nur die höchste Verzweiflung zu erzeugen vermag.

Am anderen Morgen weckten sie ungewöhnlicher Lärm und Stimmengewirr aus ihrem ruhlosen Schlummer und als sie sich aufrichtete, sah sie den Hofraum von Menschen erfüllt, die heftig gesticulirten, und neugierige, mitleidsvolle Blicke nach dem Fenster warfen, hinter welchem sie lag.

Man hatte an der Linde einen Mann erhenkt gefunden und dieser Mann war – Frühauf.

Trunken war er spät Nachts heimgekehrt und als er seine Wohnung versperrt und die wenigen Möbel und Habseligkeiten im Hofe fand, da war eine entsetzliche Ernüchterung über ihn gekommen und wie eine Vision sah er gleich in jenem Traume sein eigen Bild vor sich, wie nicht der Jude Braun, sondern Seider, der Verhetzer und Verführer, aus ruhigem geordnetem Leben heraus ihn unrettbar in die Tiefe riß. In seiner Verzweiflung fand er, nur einen Ausweg – den Tod und bald neigten sich die Zweige des alten Baumes trauernd über den Entseelten, dessen frohe, glückliche, durch Arbeit und Zufriedenheit verschönten Tage er gesehn.

Frau Frühauf fristet nun ihr Dasein von dem, was mitleidige Menschen ihr zukommen lassen und siecht und sehnt sich dem erlösenden Tod entgegen. Sie war es selbst, welche mir die Tragödie ihres Lebens erzählte. „Schreiben’s das aus“ sagte sie mit vor Thränen erstickter Stimme, „vielleicht kanns Jemanden, vielleicht Vielen nützen“, und ich schrieb die Begebenheiten einfach nieder, als ein Beispiel hunderter zerstörter Existenzen, zerstört durch Haß, Zwietracht und Unduldsamkeit, welche die Herzen verrohen, den Geist verblöden, und die von Verführern, die man wohl Verbrecher nennen könnte, groß gezogen, auf Jene selbst rächend zurückfallen, die sich ihnen gedankenlos ergeben.

➥ Zur Biografie: Ida Barber

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 339ff

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Am Versöhnungstage versammelt Gott alle seine Getreuen um sich. In Nord und Süd, in Ost und West wird dieser Tag bei Arm und Reich, von allen Juden gefeiert. Die Frommen fasten und beten von Abend zu Abend, die Reformirten gestatten sich einen kleinen Morgenimbiß und einige Pausen während der 24 stündigen Zeit, in der der Allmächtige zu Gericht sitzt und als liebender Vater Verzeihung und Erhörung gewährt. Schaarenweise wandern sie hin zum Tempel, die Frauen geschmückt mit kostbaren Gewändern, Edelsteinen und Perlen. Früher war es sogar Sitte, in weißen Kleidern im Tempel zu erscheinen und manche brünette Schöne wußte in dem einfachen Wollgewande so viel verführerische Reize zur Geltung zu bringen, daß sie anmuthiger erschien, als in Brocat und schillernder Seide.

Betrachtungen eigener Art drängten sich mir auf, indem ich unlängst am Versöhnungstage einen Blick durch die Reihen der vor Gott erschienenen Frauen schweifen ließ. Dort die freireligiöse Frau F. neben ihr die schöngeistige Professorswitwe, da die orthodoxe Frau eines reichen Kaufmannes, die aus lauter Frömmigkeit sich nicht einmal gestattete ihr eigenes Haar zu tragen, sie Alle standen in gleicher Andacht vor demselben Gotte, den sie in so verschiedener Weise verehrten. Madame F., die sich als offene Anhängerin Wislicenius, als seine begeisterte Freundin stets gerirt, die einst fast für seine Lehre Propaganda gemacht, erschien in so hochheiliger Stimmung, daß Nichts, sie ihrer gottgeweihten Andacht entfremden konnte; sie sah nicht, wie aller Augen sich auf die eben eintretenden Banquiersfrau, die schöne, einst gefeierte Sängerin, richteten, die ihrem Gatten, oder richtiger dessen Reichthum zu Liebe zum Judenthum übergetreten war. Sie rauschte mit ihrem schweren Seidenkleide durch die Reihen der übrigen Frauen hindurch, nahm geräuschvoll auf ihrem endlich aufgefundenen Sitze Platz, musterte die im Parquet betenden Herren und nachdem sie ihrem Gatten einen zärtlichen Blick zugeworfen, ihr goldenes Lorgnon, dessen Kette einen riesig großen Brillant zusammenhielt, aufgesetzt, öffnete sie ihr in Lila-Sammt gebundenen Gebetbuch, das sie jedoch bald wieder bei Seite schob, um sich in eine vertrauliche Discusion mit ihrer Nachbarin einzulassen. Welch ein Strahlenfeuer verbreiteten die Brillanten dieser beiden Damen. Ich glaube man hätte mit deren Erlös hundert arme Familien den Sorgen entreißen können! Unsere Frauen scheinen überhaupt der Meinung zu sein, daß entweder der Allvater sich besonders dadurch geehrt fühle, daß man, wenn man zu ihm hintrete, sich mit den kostbarsten Prätiosen behänge, oder daß er Respect vor diesen bekomme und mit ihren Trägerinnen gnädiger verfahre. Und doch! All der Glanz dieser Edelsteine, die ich hüben und trüben, neben und vor mir leuchten sah, schien ihre Trägerinnen nicht vollständig beglücken zu können; man entnahm aus der Art, wie sie zumeist beteten, wie sie ihr Herz inbrünstig vor Gott ausschütteten, wie Thränen der Rührung ihre Wangen netzten, daß es denn doch da innen in der Menschenbrust ein Etwas geben müsse, das sich nicht durch äußern Glanz erkaufen lasse. – Die junge schöne Frau eines Börsenfürsten – wie sah sie verführerisch in ihrem reizenden Costüm aus, wie war sie behängt mit kostbaren Spitzen, welche Strahlenfeuer warf der Brillant auf dem schmalen Goldreif, der ihren Arm schmückte – er schien ein kleiner Kohinoor zu sein, der an Pracht die reichen Ge- schmeide der anderen Frauen weit übertraf, und doch – so schön sie war, die Thräne in ihrem Auge erzählte von tiefem Weh, das weder Reichthum noch äußere Reize bannen konnten; man sah, wie sie während des Gebetes ein tiefes Schluchzen unterdrückte, wie es ihr eine sichtliche Erleichterung war, ihr Herz hier vor Gott ausschütten zu können. Und was belastete dieses schöne Herz? Konnte die junge, unschuldvolle Frau sich irgend eines schweren Fehlers anklagen, wofür sie von Gott Verzeihung erflehte? O man wußte nur zu gut, wie sie gezwungen wurde, ihre Schönheit und Jugend einem reichen Börsianer zu opfern, während ihr Herz einem genialen Maler angehörte; Ersterem mußte sie ihre Hand vor dem Altar reichen, mit dem Andern verband sie ihr Denken und Fühlen, das sie, so sehr sie auch mit sich kämpfte, nicht auf andere Bahnen zu leiten vermochte. Ihr Gatte blieb ihrem Seelenleben fremd und was sie zumeist kränkte, war, daß er dies in seiner Indolenz nicht einmal zu bemerken schien, er war der Mann der schönsten Frau, durfte sich mit ihr auf Promenaden, Bällen, im Theater zeigen, sah sie bewundert – mehr verlangte er nicht. Flehte sie heute zu Gott, daß er sie jenes wahren Eheglücks theilhaftig werden lasse, das sie einst in idealer Jugendschwärmerei erträumte, oder daß er ihr den Frieden ihrer Seele erhalte, ihr vergönne, dem einst Geliebten als guter Genius rathend und beglückend zur Seite zu stehen. Wer kann die stumme Sprache der sich kaum bewegenden Lippen deuten. Sie beweint trotz glänzender Lebensstellung ein verlorenes Glück nicht minder schmerzlich, als dort jene tieftrauernde Mutter, der mau im vergangenen Jahre den einzigen Sohn in kühle Erde gebettet. Er war ihres Daseins Stolz und Freude; wohl selten war eine Frau glücklicher, strahlender von Mutterstolz und Lebenshoffnung, als sie war, da ihr der junge Mann seine Berufung als Chef einer großen Verkehrsanstalt mittheilte. Ich sehe sie noch heute vor meinem geistigen Auge, wie sie zu wachsen schien, wie das Glück ihre Züge verklärte, wie sie unter Freudenthränen den geliebten Sohn umschlang, an ihr Herz drückte, ihn mit ihren Küssen bedeckte. – O und heute sehe ich wieder Thränen im Auge der schwergeprüften Frau; sie ist kleiner geworden; ihre Züge sind gramdurchfurcht, ihr Auge matt und glanzlos. Um was sie ihren Schöpfer wohl bitten mag? Gibt es noch etwas, das ihrem Dasein Freude gewähren kann, nachdem der unerbittliche Sensenmann seinen Hand an das junge, hoffnungsvolle Leben gelegt, das ihres Daseins Stolz gewesen? Die junge, schöne Frau ihr zur Seite – auch sie kenne ich, ist ergriffen von dem Schmerz ihrer Nachbarin. Sie scheint so beneidenswerth, lebt in gesicherten Verhältnissen, ihr Gatte sieht in ihr sein Alles, er lebt nur für sie und ist glücklich, wenn er sie glücklich sieht; doch da tief innen im Herzen; da lebt ein Wunsch, für den sie nun schon seit Jahren Erfüllung erhofft; ihre Ehe ist kinderlos; nur ihre Lippen murmeln ein stummes Gebet; – die Arme, sie weiß nicht, daß es oft weniger schmerzlich ist, auf ein Glück, das man nie empfunden, zu verzichten, als zu lernen, es zu verlieren.

Ich hatte während der Vorbeter einen Abschnitt aus der Thora vorlas, Zeit meine Beobachtungen zu machen. Ein ernstes Gebet, – die Fürbitte für die Verstorbenen – kam jetzt an die Reihe. Diejenigen, die so glücklich waren, keinen Verlust an theuren Familienmitgliedern zu beklagen, verließen zum Theil das Gotteshaus, die Bleibenden waren von tiefster Andacht durchdrungen.

Der Schmerz eint; so verschieden in Rang und Stand, an Bildung und äußeren Glücksgütern die einzelnen Andächtigen auch waren, war es doch eine Gemeinde, die da ein und dasselbe Gebet hinauf zum Weltenlenker sendete. Das Andenken an geliebte Todte ruft eine Wollust des Schmerzes hervor, der man sich gerne hingibt. Die an die Seelenfeier sich anreihende Predigt schien eine Erholungsstation nach anstrengendem Marsche. Man begann in dieser und jener Ecke gemüthlich zu plaudern, da wurde die Toilette der Madame X., dann die der Madame Y. einer Kritik unterzogen, man tuschelte sich vertraulich manch pikantes Histörchen ins Ohr, ohne sich bewußt zu sein, daß dem Gotte, der da oben zu Gericht saß, von dem man reuig Verzeihung erfleht hatte, Medisance und Verleumdung, üble Nachrede wie eitle Chrenabschneiderei nicht wohlgefällig sein kann.

In manchen Frauen ist ein Gemisch von Egoismus und Hochmuth ausgeprägt, der kaum anderswo widerlicher in Erscheinung tritt, als da, wo sie vor Gott hintreten, um für sich selbst Verzeihung und Gnade zu erbitten und kurz hernach sich nicht scheuen, ihre ärmeren, weniger begüterten Mitschwestern in unfreundlicher Weise zu behandeln. Wahre Frömmigkeit adelt, macht hoch- herzig und leutselig, herzgewinnend und liebreich.

Frau H., einer mir gegenübersitzende Dame muß wohl wenig von dieser echten Frömmigkeit in sich verkörpert haben, denn ich bemerkte – und nicht ohne ein Gefühl sittlicher Entrüstung, wie sie den Kopf wandte, als ihre Cousine mit freundlichem Gruße auf sie zutreten wollte; – letztere war ihr selbstverständlich an Vermögensstellung nicht ebenbürtig, konnte jedoch in Bezug auf Charakter- und Seelenbildung jeden Vergleich mit ihr aushalten.

Eine weihevolle Stimmung kam erst wieder in die Gemeinde, als der Vorbeter mit sonorer Stimme sein „Heilig ist Gott der Heerschaaren“ anstimmte, das alle Männer und Frauen in Andacht wiederholten. Es liegt eine eigene, eine geheiligte und heiligende Poesie in diesen alten Gesängen; sie packen selbst diejenigen, die das ganze Jahr hindurch kein Gotteshaus betreten, mit mächtiger Gewalt. Wenn der stimmbegabte Cantor mit urgewaltigem Tone den Bibelvers, der die Verkündigung des Monotheismus enthält, anstimmt, so steht selbst der Ungläubigste wie unter dem Zauber einer höheren Macht. Frauen pflegen ja überhaupt eine rege Empfänglichkeit für religiöse Weihemomente zu haben. Ich sah auch nicht eine einzige, die an den Hauptgebeten nicht mit ihrem ganzen Gefühl Antheil genommen hätte. Charakteristisch für die ungebildeten Frauen ist es, daß sie, da sie die Gebete in hebräischer Sprache nicht verstehen, ihnen oft einen ganz fremdartigen Sinn beilegend, an völlig gleichgiltigen Stellen, die beispielsweise eine Erzählung von irgend einem Propheten etc. enthalten, in einen Gefühlsausbruch übergehen, der vielleicht nur dann gerechtfertigt wäre, wenn es sich um die Bitte der Befreiung von Tod und ewiger Verdammniß handelte. Wie es möglich ist, in dieser Extase einen ganzen Tag lang im Gebete zu verharren, scheint uns Jüngeren kaum denkbar und doch wissen wir von unseren Müttern und Großmüttern, daß sie früh das Gotteshaus betraten und dasselbe erst mit Sonnenuntergang verließen. Jeder dient seinem Gott in seiner Weise. Ich sah eine mir bekannte Dame, die vielleicht erst eine Stunde zuvor eingetreten war, mit mir gleichzeitig nach Schluß des Mittaggottesdienstes hinausgehen; mit fast heimlicher Geschäftigkeit übergab sie eilig dem Tempeldiener ein kleines Paket: „Hierin sind 30 Speise-Marken“ hörte ich sie; „vertheilen Sie sie heute Abend an 30 Arme“. – Und die Frau hatte nur eine Stunde im Tempel geweilt, sie trug keinen Schmuck, aber dennoch glaube ich, daß sie Gott wohlgefälliger war als manche Reiche mit bloßer Lippenfrömmigkeit. Eine schöne Frau, deren Name unlängst geadelt worden, brachte ich auch bald auf andere Gedanken; ich sah sie, als ich eben in eine Seitenstraße einbog, aus ihrer Equipage steigen. „Du wunderst Dich,“ sagte sie, meine Befremdung wohl in meinen Zügen lesend, „daß ich heut’ fahre!“ „Aber sieh, liebe „in unsern Kreisen“ ist es ganz out of Fashion fromm zu sein“. – „In unsern Kreisen!“ Seit acht Tagen war der Herr Gemahl in ihnen heimisch, der Herr Papa aber war zeitlebens Rabbiner einer orthodoxen Gemeinde gewesen, und die Frau Mama war, wie ich mich sehr wohl erinnere, am Versöhnungstage gestorben.

Wie man auch über Beobachtung religiöser Satzungen denken mag – kein Mensch, aber namentlich keine Frau kann sich, wenn nicht in ihrem Gefühlsleben ein Etwas fehlt, das all ihrem Thun Zusammengehörigkeit mit der Idee eines höchsten Wesens lossagen. In Stunden der Angst und Gefahr, im Todesmoment, da ruft selbst der Gottesleugner die Gottheit an. Heine bat, wie er selbst sagte, auf seinem Schmerzenslager „den guten Gott, den er so lang geärgert“, um Verzeihung. – Er hat wohl weder gefastet, noch von früh bis spät gebetet, und doch war das innigste Bedürfniß seiner Seele: „Versöhnung mit Gott.“ – Sie glauben sie Alle gefunden zu haben, die da am hohen Festtage vor Gott erschienen sind, die Eine schmucklos, die Andere reich mit Schmuck beladen, die Einen andächtig, die Anderen die Gebete mechanisch hersagend. Israels Frauen waren jederzeit die Hüterinnen des Familienlebens und somit des häuslichen Glückes; darin liegt ihr nicht zu unterschätzendes culturhistorisches Verdienst. Sie treten andachterfüllt vor Gott hin und übertragen den Frieden, der in ihre Brust eingezogen, die höhere Weihe, die Sie im Gebet zu Gott empfangen zu haben glauben, auf ihr Haus, ihren Gatten, ihre Kinder. Echte Frömmigkeit ist, selbst wenn sie sich nicht an Dogmen hält, einem Zauber gleich, der die Prosa des Alltagslebens mit poetischem Hauch verklärt.

 ➥ Zur Biografie: Oskar Baum

In: Selbstwehr, 13. Jahrgang, Ausgabe 19 vom 09.05.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe / Ausgabe 22 vom 30.05.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe / Ausgabe 26 vom 27.06.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe

 

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Ausgabe 19 vom 09.05.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (hier datiert auf den 16.05.1919) *)

Wir geben hier den Vortag des bekannten Prager Dichters wieder, den dieser im Rahmen der politisch informatorischen Vorträge der Prager Ortsgruppe des V. j. F. hielt.

Sind die Frauen die Hälfte der Menschheit? Ich meine: Tragen sie die Hälfte der Leiden und die Hälfte der Leistungen?

Was die Leiden betrifft, dürfte es wohl bei weitem die größere Hälfte sein, aber die Leistungen, die aufwärts reißenden Ergebnisse und Taten stehen in beleidigendem Mißverhältnis fast nur bei den Männern.

Die Frage wäre auch ungerecht, wenn nicht die Frauen selbst sie stellen würden, denn sie sind physiologisch geringer dotiert (kleineres Gehirn, zartere Muskeln, Knochen). Das Verlangen nach Gleichberechtigung ist dennoch nicht nur wie wir heute sehen, keineswegs hoffnungslos, sondern auch nicht unbegründet, nicht etwas weil sie der Zahl nach etwas mehr sind, aber weil ihre Ueberlegenheit in manchen wichtigsten Lebensdingen ganz offenkundig und den Männern nur allzu deutlich fühlbar ist.

Es bleibt darum nichts anderes übrig, als bei jeder einzelnen Frage ihre Veranlagung und Erziehungsmöglichkeiten zu aktiver oder passiver Teilnahme zu untersuchen.

Was ist denn nun Revolution? Ist es etwas, das plötzlich gewaltsam die Entwicklung unterbricht, mit Zerstörung und Verneinung in die friedliche Arbeit der Jahrhunderte hereinsaust, wie ein Gewitter die Luft reinigt, und nachher geht erst wieder die aufbauende Tätigkeit der Menschheit weiter?

Den größten Verneiner des vorigen Jahrhunderts, den Begründer des Anarchismus Bakunin, der überall nur das Unzulängliche sah und immer etwas niederzureißen haben mußte, um lebendig zu werden, fragte einst ein Freund, was er denn täte, wenn seine Forderung erfüllt und die Menschheitsordnung ganz in seinem Sinn aufgerichtet wäre. „Sie wieder umstürzen“, antwortete er in vollem Ernst. Und das war nicht simple Freude am Paradoxen. Revolution ist ein ständiger und vielleicht der positivste Zustand des einzelnen Geistes, des öffentlichen Lebens, der sozialen Verhältnisse, von unmittelbarer, nicht von mittelbarer Fruchtbarkeit, von der höchsten Warte aus gesehen für die entwickeltesten Persönlichkeiten der einzig mögliche Zustand.

Wie nun ist das zu verstehen?

Es braucht wohl keiner besonderen Beweise, um einzusehen, daß wir uns immerfort im Kompromiß befinden, auf allen Gebieten, nicht nur in der Politik, wo es am leichtesten ins Auge springt. Was auch mit reinster und unbedingtester Forderung und Hingabe gegen irgend ein Unrecht ankämpft, – wenn es zur Macht kommt, ist es von irgend einer anderen Seite her ganz gewiß nur wieder wert gestürzt zu werden. Denn was zur Form gerinnt, existente Tatsache wird, muß sich unausweichlich irgendwo mit hingenommener Halbheit, mit geduldetem Unrichtigen beflecken, sich einerstanden und zufrieden damit erklären, daß man das Vollkommene nicht erreichen kann. Nun: Sich in fauler Dumpfheit in die Autorität des Bestehenden, des zufällig Gewordenen ducken, sich fügen, wenn man weiß, wie es zu bessern wäre, ist für ein denkendes Wesen unerträglich. Das Bessere, ideegewordene Neue kann aber nicht anders Wirklichkeit werden und das Alte überwinden, als indem es auf dessen Boden herabkommt und seinerseits wieder Autorität wird. Autorität aber heißt ja befehlen statt überzeugen, kann also nicht anders als Unrecht haben. So ist Kampf der einzige Zustand, in dem sich die reine Seele mit unbeschwertem Gewissen vorwärts kommen fühlt, unterwegs, der ewige Kampf gegen das Unvollkommene.

Das heißt natürlich nicht, daß man immer möglichst das allen Entgegengesetzte denke, spreche, tue und jeder eine Partei für sich bilde, wie es den Intellektuellen, namentlich unter den Juden, zur Rettung ihres Weltgefühls unumgänglich scheint. Das ist im Gegenteil das gefährlichste Hindernis der Bildung einer wirklich freien eigenen Meinung, denn Eitelkeit ist stärkste Abhängigkeit vom Urteil der Anderen. Revolution ist aber nichts anderes als bis zur Tat fortgeschrittener Ausdruck unabhängigen Urteils.

Man erwartet jetzt vielleicht ein langes schönes Loblied auf die Rolle der Frau in den Revolutionen aller Zeiten: Wie sie trotz ihres zarten Leibes im Kampf um Recht und Freiheit, die klirrende Männersache ist, im vordersten Glied stritt und ihre Heldentaten durch die Jahrhunderte schimmern. Von Antigone und der Mutter der Gracchen an bis zur berühmten Großmutter der russischen Revolution, von der roten Marallen, die den Bauernaufstand von 1525 mithervorrief bis zur Rosa Luxemburg im jüngsten Berlin, von der kleinen Spitzenhändlerin Madame Goriot, die auf einem eiligen Geschäftsgang zufällig einen Zettel fand, den ein verzweifelter Unschuldiger aus dem Fenster des Gefängnisses geworfen hatte und die im Innersten gepackt, Mann, Haushalt und Geschäft vergaß, ganz Paris anzündete und in alle Ohren schrie, neben was für einer ungeheueren Gemeinheit sie es sich wohl gehen ließen und so mit ein Anstoß wurde zur großen französischen Revolution.

Diese neben all den Revolutionsmännern spärlichen Beispiele sind nur Beweis, daß nicht die Natur, die physiologischen Begebenheiten der Frau die befreiende Tat und Denkweise versagten und ein Kronzeuge mehr für die Anklage, die ich erheben muß.

Die Revolution, trotzdem sie sich in Parlamentsgetriebe, in Straßenreden und Regierungsdekreten äußert, ist nicht nur eine politische Angelegenheit. Das Politische ist eigentlich bloß die letzte Konsequenz, der formelle Schlußpunkt. Auch die wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen sind es nicht allein; alle, auch die geheimsten Kräfte und unbewußten Beziehungen in der Gesellschaft treiben zu ihr hin und werden durch sie beeinflußt. So wie der wirksamste Widerstand gegen jede Tyrannei die Erziehung jedes Einzelnen zu scharfem eigenem Blick und unabhängigem, logischem Denken ist, besteht im sittlichen Antrieb jeder einzelnen Seele, dies Urteil in der Welt der Tatsachen zu vollstrecken, die eigentliche Revolution.

(Fortsetzung folgt.)

 

Ausgabe 22 vom 30.05.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (hier datiert auf den 05.06.1919) (Fortsetzung.)

Jeder soll in seinem Inneren und um sich her in allem, was ihn persönlich angeht oder was er sonst beherrscht, durch erstarrte gewohnte Anschauungen zur lebendigen natürlichen Wahrheit durchbrechen, bei jeder einzelnen Handlung sich fragen, ob das Angenehme, Sichere, Unauffällige, Uebliche nicht mit dem nach dem Gewissen Richtigen, Wahrhaftigen in Widerspruch steht. Er soll sich nicht mit halbem und Falschem aussöhnen, um des lieben Friedens willen, bei erkanntem Unrecht, bei Niedrigkeit und Gemeinheit neben sich nicht ruhig bleiben. In der Schwäche gegen das augenblicklich Bequemere, gegen das Beharrungsvermögen erkennt weiter Ueberblick das viel schmerzhaftere und gefährlichere Opfer als es die schwerste Selbstüberwindung und der Kampf gegen mächtigste äußere Widerstände sein kann.

Von diesem Gesichtspunkt aus nun, scheint mir, beweist die Frau im allgemeinen die völlige Unfähigkeit zur Revolution, die größte Neigung und Begabung für die Geschäfte der Reaktion, für das Verhindern der wagemutigen großen grundlegenden Neuerungen. Es liegt ihr nahe, alles auf die Unvollkommenheit der Welt zurückzuführen und ihrem Schöpfer die Verantwortung zu überlassen, ja geradezu das Schönere, Gottgefälligere, Fruchtbarere darin zu sehen, die Unabänderlichkeit des Vorhandenen zu ertragen, lieber unter dem Bösen zu leiden, als es zu bekämpfen. Sie sind ja auch überall die stärkste Stütze der zu Tradition und Dogma erstarrten Religionen, die fanatischeste Gegnerschaft der ersten Anfänge aller erneuernden Strömungen in der Kunst, in den sozialen Verhältnissen, den geselligen Formen.

Nur in einem sind sie ununterbrochen und ohne Ausnahme extrem revolutionär, in dem gerade der Mann im allgemeinen verstockt konservativ ist: In der Mode der Kleider, Hüte, Schuhe, Haartracht usw. Da duldet man keine Dauer und Erstarrung, alle Bahnbrecher werden bewundert und machen sofort Schule, die Kritik ist unaufhörlich wachsam, der wirklich individuellste Geschmack maßgebend. Seit dem berühmten und sehr amüsanten Buch von Fuchs über die Mode hat man dafür eine einfache und naheliegende Erklärung.

Auch die Modeerfindungen sollen zwar von männlichen Pariser Schneidern herrühren; dennoch möchte ich glauben, daß es der Frau möglich sein müßte, von hier aus die Behauptung zu widerlegen, daß sie ihrer Natur nach absolut unschöpferisch sei. Sie ist eben in diesem einen Punkt, wo das elementar aus ihrem Zentrum hervorbrechende Bedürfnis stärker war als alles sonst, ihrer Eigenart treu geblieben.

Der große Schaden für die Frau der letzten Vergangenheit und die große Gefahr für ihre Zukunft liegt in dem Bestreben nach möglichster Angleichung an die Art des Mannes, das unter dem sozialen Druck der erwerbenden Frau aufgezwungen wird.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 26 vom 27.06.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (Fortsetzung.)

Früher dachte man, es werden sich zwei Typen herausbilden: Die Arbeitende, die im Konkurrenzkampf dem Mann möglichst Nacheifernde und die, die, ihm zu gefallen, möglichst weiblich bleiben würde. Aber es will einerseits keine sich von vornherein entschlossen zum Zölibat verurteilen und andererseits bei den immer schlechteren Heiratsaussichten keine die Erwerbsmöglichkeit ganz außer Acht lassen. Ueberdies dachte die Frau einem mißverstandenen gesteigerten seelischen und geistigen Bedürfnis des Mannes durch gründlichere und vielseitige Bildung, durch politisches, künstlerisches wissenschaftliches Interesse ganz von seiner Art entgegenzukommen. Hundertmal mehr noch als es dem Assimilanten bei Entfaltung seiner Persönlichkeit schaden mag, daß er seine Volkseigenart verfälscht und unterdrückt, muß es alle natürliche Fähigkeit knicken, wenn die Frauen ihrer Art so Gewalt antun. Die Hebammen, sagt man in Fachkreisen, sind oft die tüchtigsten Frauenärzte, aber die Frauenärztinnen durchaus nicht die tüchtigsten Hebammen. Die erfahrene und unbefangen lebendige Frau kann oft Männer unterweisen, aber die studierteste und gelehrteste hat immer etwas Unselbständiges, Untergeordnetes dem Mann gegenüber. Ich bin aber deswegen keineswegs ein Gegner des Frauenstudiums; im Gegenteil! Aber es ist gedankenlos widersinnig, ein Wesen von ganz verschiedener Struktur genau in der gleichen Methode den gleichen Stoff mit dem gleichen Ziel zu lehren. Unsere Schule ist bekanntlich überhaupt äußerst reformbedürftig, aber die Mädchenschule scheint mir völlig auf dem falschen Wege. Die Frauenrechtlerinnen haben auf diesen Punkt, so viel ich weiß, zu mindest sehr wenig Gewicht gelgt. Sie waren nun einmal vom Willen zur Gleichheit in allen Dingen um jeden Preis hypnotisiert und Konten sich die Erlangung menschlicher Ebenbürtigkeit für die Frau auf keine andere Weise vorstellen.

Die jetzige politische Betätigung gerät aktiv und passiv zum Teil auf denselben Irrweg. Die Männerparteien, in die sie sich einfügen, enthalten nur zum geringen Teil und wenn, an letzter Stelle, Frauenfragen, Frauenangelegenheiten und Bedürfnisse. Gewiß bewegen auch die Frauen nationale, religiöse und soziale Probleme, aber, so weit sie nicht nachbeten, in ganz anderer Wertskala, (etwa leidenschaftlicher, aber nur in konkreten Details) was sich bei ehrlicher und beeinflußter Aeußerung sehr einschneidend fühlbar machen müßte. Soll es also wahr sein, daß die Frau ihren gleichberechtigten Platz in der Mitbestimmung der öffentlichen Dinge einnehmen darf, dann sollte sie es nicht als Nachahmerin des Mannes, sondern mit dem eigensten Ausdruck ihrer wirklichen Natur dürfen. Vielleicht könnten Frauen ein eigenes Frauenparlament wählen mit besonderen Zuständigkeiten, dessen Beschlüsse die Farbe ihrer Weltauffassung jedenfalls viel eher widerspiegeln würden. Es hieße ihre politische Reife leugnen, erwartete man hievon nicht viel Förderliches und es würde sich eben an diesem Prüfstein zeigen, ob man es mit der Gleichberechtigung ehrlich meint oder ob es nur eine demokratische Modedekoration der Parteiprogramme zu Wahlzwecken ist.

Neun Frauen in einer Versammlung von 400 Männern sind jedenfalls keine Vertretung und nachdem sie, – bezeichnenderweise! – ja auch gar nicht als Vertretung der Frauen gedacht sind, liegt gar kein Grund vor, daß die Frauen mit Bewunderung und Dank zu den weiblichen Abgeordneten aufschauen, sondern eher, daß sie diese politisch wohl Begabtesten unter ihnen, die die Angelegenheiten der Männer zu ihrem Lebensinhalt wählten, die Sache ihres Geschlechts nur nebenher mitnehmen und eigentlich verraten, als Abtrünnige ansehen. Die tiefgreifenden sozialen Umgestaltungen, die wir so oder so auf der ganzen Welt zu erwarten haben, werden unsere Kasten- und Arbeitsordnung, unsere Lebenshaltung erschüttern und mit allen übrigen Grundlagen der Gesellschaft auch die Stellung der Familie und Ehe mehr oder minder gründlich verändern.

Die Menschheit muß in ihrem Einheitsstreben, namentlich bei ihrer augenblicklichen Verfassung, in der Familienliebe ihren schlimmsten moralischen Feind sehen, da die Familie die Geburt- und Pflegestätte des gefährlichsten Egoismus ist, des Polyegoismus, der sich bestenfalls zur Vaterlandsliebe, zum sacro egoismo auswächst und damit die Heiligung und Verewigung des Krieges bedeutet. Bedenken wir doch die zügellose Selbstsucht dieser hart und kalt gegen die Menschheit abgegrenzten insichgeschlossenen ausgezeichnetsten Organisation, deren wenige Angehörige ausschließlich für einander streben, arbeiten, sparen, ausgeben. Alles was außen ist, ist gleichgiltig, fremd, hat bei guten Herzen immerhin Anspruch auf etwas Straßenmitleid.

Längst begann, seit einer ganzen Reihe von Generationen die Zersetzung der einstmals unantastbaren Privilegien des Familien- und Ehedogmas in der privaten und selbst öffentlichen Moral, in der Gesetzgebung. Das ging neben der Aufklärung und dem Sozialismus her. Längst sieht man in der Ehe nicht mehr das Panorama, das mit Elsa und Lohengrin beginnt und mit Phylemon und Baucis endet. Nicht mehr ist es der befriedigendste Abschluß auch der größten Kunstwerke ohne Grenze entlassen wollen, wenn sich die jungen Liebesleute kriegen. Die unverstandene Frau Ibsens und der unverstandene Mann Strindbergs griffen in tief erlebte Wahrheit und an lange schon schmerzende heimliche Wunden. Wenn große epische Schilderer die Zustände unserer Zeit an den wichtigsten Punkten fassen wollten, erzählten sie (wie Zola, Flaubert, Fontane) von der ehelichen Untreue. Das berühmte Dreieck (mit dem Hausfreund) will bis heute als Zeitgemälde von unserer Bühne gar nicht verschwinden, und die starken Persönlichkeiten auf allen Gebieten, zumal die großen Künstler, – ich erinnere an Byron und Goethe, Grillparzer, Beethoven, Lenau konnten sich für ihre Person in die Konvention der Monogamie auf keine Weise einfügen. So mancher ging lieber zugrunde. Aber nehmen wir selbst an, daß diese Einwände gleichsam aus dem Innern der Ehe heraus nicht genügten, die Aenderung dieser Institution zu fordern, daß dies nur idealistisches Toben von Ausnahmsmenschen gegen die Enge der Endlichkeit ist, ein Rütteln an den Grenzen, die nun einmal dem Menschen gesetzt sind, sehen wir ein, es gehe nirgends ohne Kompromiß ab und da der Kampf zwischen den Geschlechtern unvermeidlich sei, wäre für den Durchschnittsmenschen der Zweikampf mit sozialen und ethischen Bandagen als Mensur sozusagen die mindest gefährliche Form –, wir dürfen nicht vergessen, daß nicht das Glück und Unglück, Richtige und Falsche dieser Liebe hinter Gittern allein zu entscheiden hat, sondern daß auch noch die da sind, die von ihr ausgesperrt werden, auf deren Kosten dies Postament und Privilegium von Ehrerbietung und fürsorglichem Schutz für glücklich Liebende nur überhaupt möglich ist. Nicht also der berüchtigt hohe Perzentsatz der unglücklichen Ehen braucht vor allem in Betracht zu kommen, die immer zahlreicheren Scheidungen, die Ehescheu usw., – denken wir an die vertrocknenden umhergestoßenen alten Mädchen, die für all ihre Entsagung und Einsamkeit ihrer Natur unangemessen öde Arbeit, gesellschaftliche Zurücksetzung, Lächerlichkeit, Zukunftssorgen zugeteilt erhalten, an das Odium der geschiedenen Frau, an die ledige Mutter, die unehelichen Kinder, an die Prostitution vor allem und die Geschlechtskranken, selbst ja als Einzelne unschuldig und an ihre noch unschuldigeren unglücklichen Nachkommen!

Die Revolutionierung dieser Zustände sollte der Frau als ihre Aufgabe ins Auge stechen; wenn zu irgend einer im öffentlichen Leben, ist sie zu dieser berufen und befähigt, ja, im Grunde kann diese nur sie wirklich den höchsten Möglichkeiten entsprechend durchführen. Und gerade daran haben, glaube ich, die Frauen noch nie gerührt, vielleicht noch nie gedacht. Im Gegenteil! Wenn ein Mädchen oder eine Frau der guten Gesellschaft einen Fehltritt begeht, und sich solche Skandalgeschichten häufen, – wer überlegt, ob nicht vielleicht die Konvention schuldiger sein könnte als die, die sie durchbrechen? Man feiert Orgien von Verachtung und Entrüstung. Wie erhaben fühlt sich jede Ehefrau über ein gefallenes Mädchen oder gar über eine arme Straßendirne und ist irgendwie tief überzeugt, daß ihr innerer Wert den Abstand verursachte, um nicht geradezu zu sagen ihr persönliches Verdienst. „Sie sind zu faul zu arbeiten!“ sagt man. Und keiner fällt ein, ob nicht vielleicht eine, die einem ungeliebten Mann gegen Wochengeld oder den Eltern zuliebe oder weil es irgendwie nicht anders ging, lebenslängliche Maitresse und Wirtschafterin abgibt, ein moralisch zu mindest nicht höherstehendes Opfer unserer Gesellschaftsordnung ist.

(Fortsetzung folgt.)

 

Zur Biografie: Oskar Baum

In: Selbstwehr, 20. Jahrgang, Ausgabe 13-14 vom 29.03.1926 im Beiblatt „Blätter für die jüdische Frau“, S. 5

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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„Als sie aber den Chor der Propheten begeisterte Lieder singen und Samuel an ihrer Spitze sahen, kam auch über die Boten Sauls der Geist Gottes und auch sie sangen begeisterte Lieder. Saul begab sich wutentflammt nach Rama, um den Rivalen, seinen Peiniger David, auch an der heiligen Zufluchtsstätte zu fassen, aber die Macht der Musik überwältigte selbst seinen angstgereizten Haß. Er geriet ins Rasen, sang verzückt, riß sich die Kleider vom Leibe und blieb zuletzt eine ganze Nacht erschöpft im freien Felde liegen.“ (Erstes Buch, Samuel, 19, 20–24.)

Um wie viel menschlicher, um wie viel wirklicher ist diese rührende Kunstwirkung als die märchenhaften Zaubervorstellungen eines Orpheus zum Beispiel. Und ist es möglich, daß die hebräische, einst so blühende Kunst von kräftiger Originalität und Fruchtbarkeit (mögen nun ihre bescheidenen Anfänge vom Nil oder Euphrat herrühren: Nirgends dort finden wir auch nur ähnliche Kraft) plötzlich oder auch allmählich völlig versiegt wäre?

Könnte man sich vorstellen, daß ein Volk, von dem Josephus (wenn auch gewiß übertrieben) behauptet, daß es 200.000 Sänger, 40.000 Harfenisten und 20.000 Trompeter zur Zeit der Zerstörung von Jerusalem gehabt habe, deren Prophetengesänge und Liebeslieder uns heute noch wie die größten Dichtungen der klassischen Völker bis ins Innerste berühren, daß diese plötzlich oder allmählich völlig ver[unleserlich]. Und abgesehen von den frommen [unleserlich] Geweben der Ka[unleserlich] Talmud hat denn [unleserlich] Poesie des Alltags, der Straßen, der Landstraßen, der Stuben gedichtet: Das Volkslied.

Richard Batka erklärt in seiner „Geschichte der Musik“, daß nur eine recht einseitige Auffassung der Bibel die Meinung verbreiten konnte, die Musik wäre bei den Juden weit mehr als bei anderen alten Völkern aus dem Gottesdienste hervorgegangen und in ihm konzentriert. Und von demselben Irrtum würden wir ausgehen, wollten wir, durch den verwandten Toncharakter verleitet, das jüdische Volkslied von der Synagogenmusik, den alten, berühmten Gebetmelodien (Riggen) ableiten. Ebenso berechtigt wäre die umgekehrte Folgerung. Es stammen eben beide aus derselben Urquelle und eines hat sich durch das andere genährt und entwickelt.

Von einer Entwicklung dieser Musik in unserem Sinne kann freilich nicht die Rede sein, denn sie kam über die Monophonie nur wenig hinaus.

Als die Mauern des Ghettos fielen, und mit der europäischen Kultur auch das Harmoniebedürfnis da war, nahm man sich in der reformatorischen Ungeduld des Anfangs nicht erst die Zeit, auf die Entwicklung im eigenen Stil zu warten, sondern griff nach dem bereitliegenden Fremden.

Jeder, der das Verhältnis von Melodik und Harmonie kennt (und in diesem Falle kamen auch noch die spanischen Stiefel artfremder Rhythmusgesetze hinzu), der weiß, daß dies System geeignet war, jeder Originalität den Atem zu nehmen. Sulzer, der begabte Freund Schuberts, hat seinen großzügigen Versuch nach dieser Richtung selbst nur als provisorisch bezeichnet. Dies läßt auch, wenigstens einigermaßen, begreiflich erscheinen, daß viele, am aufgeregtesten Richard Wagner, jeden Ansatz zu jüdischer Musik leugneten und im selben Atem von der auffallenden musikalischen Begabung der Juden sprachen.

Den ferneren Kreisen ist von der Synagogenmusik wohl nur das „Kol Nidrej“ bekannt, das trotz der stilfremden, süßlichen Salonharmonisierung von Bruch eine so große Berühmtheit erlangte.

Weit glücklicher ist die Bearbeitung der Volkslieder, freilich auch noch häufig allzu westlich und um ihren Stil verlegen. Schon der ganz eigene Toncharakter, schwebend zwischen Moll und Dur (oft auch in Moll scheinend, wenn er sich in der Dur bewegt). Langsam hinfließende Traurigkeit wechselt mit rhythmischem Leben von orientalischer Leidenschaft, das sich oft bis zu jener Zungenfertigkeit steigert, die bei manchem Komponisten: Goldmark, Meyerbeer zum Beispiel als jüdische Eigenschaft getadelt wurde.

Das Eigenartigste ist die übermäßige Sekunde oder verminderte Terz (das Intervall scheint etwas kleiner als unsere kleine Terz gedacht), das immer wieder kommt, bald nur als Vorschlag, bald als lange, innige Verzierung. Es scheint eine große Rolle zu spielen; es ermöglicht eine überaus weiche Figurenbildung innerhalb des Tritonus, aus der ganze lange Melodienteile zuweilen nicht heraus wollen, so daß mancher schon verleitet wurde, von einer jüdischen Tonart zu sprechen, der phygischen nicht unähnlich oder besser noch mit unserer harmonischen Moll vergleichbar, die aber von der Dominante ausgeht und zu ihr zurückkehrt.

Den Zwiespalt zwischen den östlichen Tönen und der allzu europäischen Klavierbegleitung empfinde ich am deutlichsten bei den Schlüssen, wo die überströmend gefühlswarmen Wendungen mit ihrem unerbittlich monophonen Charakter oft die Oberhand behalten. Frisch und unberührt aber bleibt die Ursprünglichkeit des Textes uns zum Genuß. In farbiger Deutlichkeit entsteht vor uns aus den Bildern dieses seltsamen Dialekts das Leben des Ghettojuden. Nicht nur Elend, Qual und hartes Ringen, nicht nur Stolz auf das Glück der Vergangenheit und das Unglück der Gegenwart und trotzige Auflehnung gegen den Verfolger, auch heiße Liebeslieder und lustige, ja übermütige Weisen. Alles einfach, voll von Kraft der Empfindung, aus der sie entstanden.

Die schöne Rachel.
Sie kämmt wohl am Fenster das Harr sich, das seine;

Für alle ist sie die Dirne, für mich doch die Reine.
O Leid und o Jammer, o Qual und o Pein! Verschwunden ist schön Rachel und ließ mich allein!

Sprecht, böse Zungen, schlecht von uns beiden!
Doch mich und mein Rachel könnt ihr nimmer scheiden! O Leid, o Jammer, o Qual, o Pein!
Verschwunden ist schön Rachel und ließ mich allein!

„Der Parom“ (die Fähre) faßt in einem schlichten Symbol die mattgesetzte und gefolgerte Hoffnungslosigkeit des auserwählten Volkes: Das Leben ist nur eine Fähre, die über den Abgrund der Welt führt.

Dann folgen Lieder der bitteren Anklage und eifervolle Worte der Sehnsucht nach Jerusalem, das gleichsam unirdisch ein Sinnbild der Erlösung geworden scheint. Dann aber kommen einige, die den im Dulden erstarkten, lebensfrohen Juden darstellen, der die ganze Woche den Rücken beugt unter seinem schweren Ranzen, von Unbill der Witterung gehindert, wandert und wandert und handelt und feilscht und das arme verspottete „Hausiererl“ ist, bis der eine, der schönste Tag kommt „Freitag zu Nacht“, wo er den Heiligen Leuchter entzündet und bei Wein und Fisch und „Barches“ – auch der Geringste im Volk – ein König ist.

Aus diesem anscheinend so einfachen und doch komplizierten Empfindungsleben kristallisieren sich da viel tiefe und menschliche Konflikte.

Noch sei ein Scherzlied wahllos nur herausgegriffen:

Sollt’ ich sein ein Raw (Rabbiner).

Sollt’ ich sein ein Raw, kann ich gar nicht beten;
Sollt’ ich sein ein Krämer, fehlen die Moneten!
Und im Stall gibt’s kein Heut und kein Hafer, keine Streu, Und das Weib poltert und der Durst foltert.
Seh’ ich wo ’nen Stein, sitz ich schon und wein’.

Wollt’ ich sein ein Schächter, kann ich’s Beil nicht führen, Wollt’ ich werden ein Lehrer, kann ich nicht buchstabieren. Und die Pferde geh’n nicht und die Räder dreh’n sich nicht, Und das Weib poltert und der Durst foltert,

Seh’ ich wo ’nen Stein, sitz’ ich schon und wein’.

Sollt’ ich sein ein Schmied, wär’ mir zu schwer der Hammer, Sollt ich sein ein Schankwirt, ist mein Weib ein Jammer! Und im Stall gibt’s kein Heu und kein Hafer, keine Streu. Und das Weib, das poltert und der Durst, der foltert.

Seh’ ich wo ’nen Stein, sitz’ ich schon und wein’.

Wissenschaftlich ist die Materie noch ganz unbearbeitet. Eine einzige historisch-kritische Ausgabe erschien in russischer Sprache und die ist gewiß nur ein vorbereitender Anfang.

nach Joephus Flavius zunächst für die jüdische Jugend bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen begleitet. Wien 1808.

  ➥ Zur Biographie: Beer Peter

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Hg. von Moritz Herrmann. Prag 1839.

➥ Zur Biographie: Peter Beer

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In: Jedidja 1,2 (1817), S. 87-99.

➥ Zur Biographie: Bendavid Lazarus

In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1/2 (1823), 197-230.

 ➥ Zur Biographie: Bendavid, Lazarus

Zur Biografie: Israel Josef Benjamin II

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 3. Jahrgang, Ausgabe 13 vom 27.03.1863, S. 157f

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Der Geist Amerikas in gegenwärtiger Zeit.
Vor uns liegt eine kleine Broschüre, ein Vortrag, der von einer Dame über „Amerika und seine Bestimmung“ zu Newyork gehalten wurde, da, wie sie sagte, „die Geister“ ihr diesen Ort hiefür bestimmt hatten. Die Sache fand Glauben, und man strömte von allen Seiten herbei, um den Eingebungen des Geistes, der die Dame beherrsche, zu lauschen. Die Eine Thatsache charakterisirt den Geist Amerikas; es ist zu beklagen, daß solch’ eine grobe Bethörung Bewunderer und Anhänger unter einem Volke finden konnte, welches Morse und Mitchell in seiner Geographie „das am meisten erleuchtete“ titulirt. Wie soll man noch der Zauberei, Verhetzung oder den übrigen abergläubischen Ansichten, welche die Menschheit von jeher hegte, zürnen, wenn „das am meisten erleuchtete“ Volk an solchen Täuschungen Gefallen findet und in seiner Mitte Mormonen, Milleriten und ähnliche abnorme Erscheinungen liegen! Wozu noch sprechen über die Verblendung des Mittelalters, wenn wir mit unsern eigenen Augen sehen, daß „das am meisten erleuchtete“ Volk den Vertretern jenes Aberglaubens zuströmt und man sicher sein kann, ein Ding finde umsomehr Bewunderer, Unterstützer und Vertheidiger, je größer, abgeschmackter und absurder es ist. Der ruhige und leidenschaftslose Beobachter möchte bei solchen Erscheinungen fast völlig an dem Bestehen des gesunden Menschenverstandes zweifeln, und sehr nahe liegt der Gedanken, daß die Welt am leichtesten von Betrügern und Schlauen beherrscht wird. Es ist hart, ein solches Wort zu sprechen, aber es muß gesprochen sein; der ist nicht der wahre Freund, der seinem Nachbar nur schmeichelt, und die Flecken in seinem Charakter vergoldet oder doch beschönigt. Der ist demnach auch kein Freund des amerikanischen Volkes, welche die Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit, an der die Amerikaner leiden, noch steigert und unterstützt. Ein wahrer Freund spricht ein ehrenhaftes Wort zur rechten Zeit, mag es auch noch so bitter klingen (Spr. Sal. XII, 17). – Der Schreiber dieser Zeilen liebt dieses Land und dieses Volk wie sein eigenes, und wählte sich beides als sein eigenes aus freier ungezwungener Wahl. Man mag ihm auch ein freies Wort zu sprechen erlauben, kommt es ja nicht aus der Sucht, zu tadeln und zu mäkeln.

Vor Allem müssen wir – als naturalisirter Amerikaner erlaube man mir den Ausdruck wir – denn erwähnen, daß es eine große Selbsttäuschung ist, wenn wir behaupten, daß wir „das am meisten erleuchtete“ Volk seien. In unserem Vaterlande haben wir nicht einen einzigen Sitz der Wissenschaft, den man mit den kleinen Universitäten von Padua, Jena, Göttingen oder Halle vergleichen könnte; der berühmten Universitäten in England oder Frankreich, in Berlin, St. Petersburg oder Wien gar nicht zu gedenken. Das ist einer der sichersten Maßstäbe für die Bildung. Die Erleuchtung ist nicht eine von selbst wachsende Pflanze, welche ohne alle Mühe und Handanlegung aus dem Boden hervorsproßt; sie ist vielmehr eine Blüthe, die ohne die helfende Hand des Menschen sich niemals entfaltet. Aus welcher Quelle haben wir denn die so außerordentlich erleuchteten Principien, Ansichten oder Doctrinen geschöpft? Die Erleuchtung muß so gut ihre Leiter haben, als die Electricität, wenn sie sich einem großen Gemeinwesen mittheilen soll; die besten Leiter für sie sind die Schulen und die Presse. Unsere öffentlichen Schulen sind erst zwanzig Jahre als, und tragen noch die Mängel an sich, mit denen neue Institutionen gewöhnlich behaftet sind. Die Oberflächlichkeit unserer Collegien, Akademien, Seminare ist sprichwörtlich geworden. Junge Damen studiren Astronomie ehe sie recht buchstabiren können, junge Männer erhalten den Doctorgrad, nachdem sie die ganze durcheinandergemischte Masse von Griechisch, Latein, Mathematik, Französisch, Deutsch, Natur-Philosophie, Chemie, Geschichte, Geographie, Logik, Mental- und Moralphilosophie und noch anderen Studien in zwei oder drei Jahren durchgemacht haben; ohne auch nur eines von Allen tief gefaßt zu haben. Schneider, Schuhmacher, Landbebauer oder Ladendiener werden in 32 Wochen in Aerzte umgewandelt – Polizisten, Wächter, Constables werden urplötzlich Advokaten; – jeder Mann fühlt in sich die Anlagen zu einem Prediger, Lehrer, Politiker, Staatsmann und Diplomaten, und findet bald seine Gemeinde und seinen Wirkungskreis. Diese ganze lächerliche Oberflächlichkeit ist dennoch lange nicht so ungeschickt und ekelhaft, als die Pedanterie unserer nur halb gebildeten Schulmänner und Pädagogen, welche den Geist mit Worten und Formeln tödten. Können wir also dieses als eine Quelle ansehen, welche uns zu dem „am meisten erleuchteten Volke“ herangebildet? Welches Verdienst hätten dann die Musterschulen, die Gymnasien und Universitäten? Möge man sich nur nicht selbst hintergehen: Die Schulen sind noch zu jung und die Collegien zu oberflächlich, um uns zu einem erleuchteten Volke heranzuziehen.

Die Presse ist ebenfalls nicht kräftig genug, um das in der Schule Versäumte nachzuholen, nur allzu häufig herrscht hier Prinzipienlosigkeit, die blos darauf ausgeht, Geld zu machen, oder Oberflächlichkeit, die durch Bilder und andere Mittel das Fehlende ersetzen wollen. Auch hierin sind andere Völker noch weit voraus, und es gibt noch kein Blatt, das der Londoner Presse, den französischen und deutschen periodischen Zeitschriften an die Seite zu stellen wäre. Wir sind auch hier noch weit zurück; jegliche Sorte von Verdorbenheit findet in der Presse ihre Vertheidiger und Patrone, wenn sie nur gut dafür zahlt. So kommt es, daß unsere Presse nicht immer der Leuchtthurm für das Gemeinwesen, immer nicht der große Hebel für edle und erhabene Zwecke, nicht der ehrliche und treue Ausleger unserer Tagesgeschichte, nicht die Fackel, die Fortschritt und Wissenschaft trägt, ist, sondern zu Zeiten blos zu einer Speculation in den Händen gewinnsüchtiger Parteien wird, welche nur solche Dinge publiciren, welche aller Aussicht nach am meisten Gewinn abwerfen.

(Fortsetzung folgt.)

Zur Biographie: Bergmann, Hugo

In: Wiener Morgenzeitung (WMZ) 2.1.1920, S. 2-3

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Neue Bearbeitung. Leipzig 1864.

  ➥ Zur Biographie: Bernstein Aaron David

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➥ Zur Biografie: Bialik, Chaim [Hayim] Nachmann

In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 18 vom 01.05.1925, S. 1-4

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Mit Genehmigung des Jüdischen Verlages bringen wir aus der demnächst im Verlage erscheinen Sammlung „Essays“ nachstehenden Aufsatz zum Vorabdruck. Deutschen Lesern wird durch dieses neue Buch zum ersten Mal Gelegenheit geboten, den größten hebräischen Dichter Ch. N. Bialik als geistvollen Essayisten kennen zu lernen. Die in den „Essays“ vereinigten Aufsätze sind von Viktor Kellner zum ersten Male ins Deutsche übertragen.

(Nachdruck verboten. Copyright 1925 by Jüdischer Verlag.)

Die Menschen streuen an jedem Tage, absichtlich und in ihrer Einfalt, eine Fülle von Worten in den Wind mitsamt ihren mannigfachen Verbindungen, und nur wenige von ihnen wissen oder bringen sch zum Bewußtsein, was jene Worte in den Tagen ihrer Macht gewesen sind. Wie viele von den Worten kamen nur nach schweren Geburtswehen, die viele Geschlechter lang währten, zur Welt; wie viele leuchteten jäh wie Blitze auf und erhellten in einem Fluge eine ganze Welt; durch wie viele zogen und wanderten ganze Scharen lebender Seelen; die eine ging, die andere kam, und jede ließ Schatten und Duft hinter sich zurück: wie viele dienten als Gefäße für den feinen und überaus komplizierten Mechanismus tiefer Gedanken und erhabener Gefühle in ihren wunderbarsten Verbindungen und Verknüpfungen. Es gibt Worte, die Gebirge Gottes, und Worte, die ein tiefer Abgrund sind. Mitunter ist in einem kleinen Wörtchen die Quintessenz eines Lebens aufbewahrt, die ganze Unsterblichkeit der Seele eines tiefgründigen philosophischen Systems, die Summe einer ganzen Weltanschauung. Es gibt Worte, die zu ihrer Stunde Völker und Länder auf die Knie geworfen, Könige von ihrem Throne verjagt, die Grundfesten der Erde und des Himmels erbeben gemacht haben. Es kam ein Tag, da diese Worte ihre Größe verloren und auf den Markt geworfen wurden; jetzt sind sie wohlfeil geworden wie Linsen und die Menschen werfen sie in leichtem Plaudern hin und her.

Ist das etwa verwunderlich? Naturbegebenheiten muß man ruhig hinnehmen. So ist’s der Lauf der Welt: Worte steigen zur Größe empor und Worte sinken und werden profan. Wesentlich ist: Du findest in der Sprache kein Wort so gering, daß es nicht im Augenblicke, da es geboren ward, eine mächtige und ehrfurchtgebietende seelische Offenbarung gewesen wäre, ein gewaltiger und erhabener Sieg des Geistes. In dem Augenblicke zum Beispiel, da der erste Mensch stumm und starr blieb ob der Stimme des Donners – „die Stimme Gottes erschallt mit Macht, die Stimme Gottes mit Majestät“ – und da er auf kein Angesicht fiel, Staunen packte ihn und voll Schauder erzitterte er vor Gott, da brach aus seinem Munde von selbst – wie man sagt, in Nachahmung der Stimme der Natur – ein wildes Geräusch hervor, gleichend dem Brüllen eines Tieres, ähnlich dem Laute rr (er findet sich im Namen des Donners in vielen Sprachen): hat nicht dieser wilde Ruf sei- ner erstarrten Seele wahre Erlösung gebracht? Hat in diesem Ruf, dem Widerhall einer Seele, die in allen Tiefen ihrer Abgründe erschüttert worden war, von der Gewalt der Schöpfung, von ihren Schauern, ihrem Siegesjubel sich weniger offenbart als in einem geglückten Worte voll erhabenen Gehaltes, das einem der großen Seher in der Stunde der Entrückung gelang? Ist nicht in jenes geringe Geräusch, den Keim des künftigen Wortes, ein Wundergewebe von Gefühlen des Urbeginns eingebunden, von Gefühlen, stark in ihrer Neuheit und mächtig in ihrer Wildheit, wie Schauder, Furcht, Entsetzen, Demut, Begeisterung, Erwachen des Triebes sich zu behaupten, und andere dieser Art? Wenn dem so ist, war nicht auch der erste Mensch in diesem Augenblicke ein erhabener Maler und Seher, der aus seiner Intuition heraus „die Frucht der Lippen“ schuf, die treueste Wiedergabe der tiefen und wirren Erregungen seiner Seele, zumindest für ihn selbst? Und wieviel tiefe Philosophie, wieviel göttliche Offenbarung war, wie schon ein Gelehrter hervorhob, in dem kleinen Wörtchen „Ich“, das aus dem Munde des ersten Menschen kam? Gleichwohl sehen wir, daß diese Worte und viele andere, die ihnen ähnlich sind, unmerklich in die Sprache aufgenommen werden – wie wenn es nichts wäre. Die Seele wird fast nicht mehr von ihnen berührt, ihr, Kern ist aufgezehrt, ihre seelische Kraft verliert oder verbirgt sich, und nur ihre Schalen, die aus dem Bereiche des Einzelnen in den der Allgemeinheit geworfen wurden, sind in der Sprache noch vorhanden und finden, reflektiert und abgeschwächt, in den engen Grenzen des Denkens und des gesellschaftlichen Verkehrs als äußere Zeichen Verwendung und als Abstraktionen für Dinge und Erscheinungen. Es ist soweit gekommen, daß die menschliche Sprache gleichsam zu zwei Sprachen geworden ist, deren eine aus den Trümmern der andern sich aufgebaut: eine innere Sprache, die Sprache der auf das Eine gerichteten Seele, deren Wesentliches wie in der Musik das „Wie“ an sich ist – im Reiche der Dichtung: und eine äußere Sprache, die Sprache der Abstraktion und der Verallgemeinerung, deren Wesentliches wie in der Mathematik das „Was“ an sich ist, – auf dem Gebiete des Denkens. Und wer weiß, vielleicht ist es gut so für den Menschen, daß er die Schale des Wortes erbe ohne seinen Kern, auf daß er sie immer wieder erfülle oder von seiner Kraft hinzufüge und etwas vom Lichte seiner Seele in ihr erstrahlen lasse. Es will der Mensch das Seine, wenn es auch wenig ist; bliebe dem gesprochenen Worte seine volle Kraft und sein ursprünglicher Glanz, begleitete es immer jenes Gefolge von Gefühlen und Gedanken, die sich ihm in den Tagen seiner Macht verbunden haben, so würde wohl kein sprachbegabtes Wesen jemals zur Offenbarung seiner selbst und des Lichtes seiner Seele gelangen. Schließlich vermag ein leeres Gefäß aufzunehmen, ein volles nicht, und wenn schon ein leeres Wort zum Sklaven macht, wie erst ein erfülltes.

Worüber muß man sich da wundern? Über jenes Gefühl der Zuversicht und jenes Entzücken, das den Menschen während seines Redens begleitet, als ob er wirklich seinen Gedanken oder seine Gefühle, die er zum Ausdrucke bringt, über sanfte Gewässer führte und auf eiserner Brücke; er ahnt gar nicht, wie schwankend jene Brücke aus Worten ist, wie tief und finster der Abgrund, der unter ihm sich auftut, und welch ein Wunder, daß er ungefährdet hinüberschreitet.

Es ist ja klar, daß die Sprache in all ihren Verbindungen uns überhaupt nicht in den inneren Bereich der Dinge, zu ihrem wahren Wesen führt, sondern im Gegenteil, sie selbst richtet eine Scheidewand vor ihnen auf. Jenseits der Scheidewand der Sprache, hinter jenem Vorhange tut der von der Schale des Nordens entblößte Geist des Menschen nichts als staunen und immer wieder staunen. „Keine Rede und keine Worte“, nur ein unendliches Staunen: ein ewiges „Was“ ist auf den Lippen erstarrt. In Wahrheit hat nicht einmal jenes „Was“ dort Raum, da in seiner Bedeutung schon eine Hoffnung auf Antwort liegt. Aber was ist dort? „Nichts – schließe den Mund, daß er nicht rede.“ Wenn trotzdem der Mensch zum Reden gelangt ist und sich beruhigt, so geschieht dies nur, weil er furchtbare Angst davor hat, auch nur einen einzigen Augenblick mit jenem finsteren Chaos allein zu bleiben, mit jenem Nichts von Angesicht zu Angesicht ohne Scheidewand. „Nicht wird ein Mensch mich sehen und am Leben bleiben“ – spricht das Chaos, und jedes Sprechen, jede Regung des Sprechens ist gewissermaßen ein Verhüllen eines Bruchteils jenes Nichts, eine Schale, die in ihrem Innern den dunklen Tropfen einer ewigen Frage einschließt, auf die es keine Antwort gibt. Kein Wort hat in sich die völlige Aufhebung irgendeiner Frage, sondern es hat nur – ihre Verhüllung in sich. Es hat nichts zu besagen, welches jenes Wort ist: man nehme dafür ein anderes, nur daß es im Augenblicke etwas in sich habe, um zu verhüllen und zu scheiden. Zwei feindliche Schwestern, an zwei Enden einander gegenüber, die Musik, die wortlos ist, und die Mathematik, die durch Zeichen spricht, bezeugen in gleicher Weise von dem Worte, daß es genau genommen nicht ist, daß es nur ein bunt gewirktes Nichts ist; aber so wie die Körper dem Auge wahrnehmbar werden und abgeschlossen in ihrer Enge dadurch, daß sie dort, wo sie sind, eine Scheidewand errichten gegen das Licht, so erhält das Wort seine Existenz gerade dadurch, daß es sich gegenüber ein kleines Loch jenes Chaos verstopft und eine Scheidewand auftürmt gegen sein Dunkel, damit es sich nicht ausbreite und gegen das Wort losgehe, um seine Grenzen unkenntlich zu machen. Wer allein in tiefster Finsternis sitzt und zittert, der läßt seine Ohren die eigene Stimme hören, er ruft [unleserlich] oder er bewegt seine Lippen zum Pfeifen; wozu? Es ist ein „Zauber“, um sein Bewußtsein abzulenken und seine Furcht zu verscheuchen. So ist es mit dem gesprochenen Worte oder mit einem ganzen System von Worten: ihre Kraft liegt nicht in ihrem offenkundigen Inhalte (wenn es überhaupt einen solchen gibt), sondern in der Ablenkung des Bewußtseins, die mit ihnen verknüpft ist. Daß man seine Augen vor etwas verhüllt, stellt schließlich die bequemste und leichteste Zuflucht vor der Gefahr dar, auch wenn diese Zuflucht nur in der Einbildung besteht. Dort, wo das Öffnen der Augen selbst die Gefahr ist, hat man keine sichere Zuflucht als das Verhüllen und „gut hat Moses daran getan, daß er sein Angesicht verbarg“. Und wer weiß, vielleicht ist das Wort im Anfang nicht zwischen zweien entsprungen, zwischen Mensch und Mensch, ein Mittel geselligen Verkehres. Wort, da nicht um seiner selbst willen da ist, sondern es ist gerade aus dem Munde des einsamen Menschen gekommen, als Bindeglied zwischen ihm und seinem Selbst, als seelisches Bedürfnis, Wort, nur um seiner selbst willen da, im Sinne des Verses: „In meinem Innern wird mein Geist bestürzt und mit meinem Herzen pflege ich Zwiesprache …“ Der erste Mensch fand seine Ruhe erst, als er seine Ohren sein Selbst vernehmen ließ. Doch jene Stimme des Anbeginns, die die Erkenntnis des Menschen aus dem Abgrunde des Chaos emporhob, sie selbst richtete sich plötzlich wie eine Scheidewand empor zwischen dem Menschen und dem, was jenseits ist, als ob sie sagen wollte: Von nun an, o Mensch, sei dein Antlitz nur dem Diesseitigen zugewendet. Hinter dich darfst du nicht blicken und nach dem Unbegreiflichen nicht Ausschau halten: tust du es, so ist’s umsonst; denn nicht wird der Mensch das Chaos von Angesicht zu Angesicht schauen und am Leben bleiben. Eines Traumes der vergessen wurde, wird nicht wieder gedacht: nach dem Chaos geht dein Verlangen, und das Wort soll dein Herr sein.

Wirklich hat die Vernunft und das Wort einzig über das Diesseitige Macht innerhalb der viermal vier Ellen von Raum und Zeit. Nur als ein Schattenbild geht der Mensch einher und je mehr er sich dem vermeintlichen Lichte vor ihm nähert, desto mehr wächst der Schatten hinter ihm und die Finsternis rings um ihn nimmt nicht ab. Im Diesseitigen kann man vielleicht alles erklären; mit Mühe oder mit Leichtigkeit, doch man kann erklären. Wesentlich ist, daß der Raum der Vernunft des Menschen nicht einen Augenblick leer bleibe, ohne Worte, die dicht aufeinanderfolgen gleich den Schuppen eines Panzers, so daß auch nicht eines Haares Breite Abstand zwischen ihnen ist. Das Licht der Vernunft und des Wortes – Kohle und Flamme – ist ein ewiges Licht, das nicht erlischt. Aber jene Fläche des Diesseitigen, die im Bereiche des vermeintlichen Lichtes liegt, welchen Wert hat sie letzten Endes gegenüber dem grenzenlosen Meere des Weltendunkels, das außerhalb noch bleibt und immer bleiben wird. Gerade jene ewige Dunkelheit, die so viel Schrecken verbreitet, ist es zuletzt allein, die, solange die Welt steht, das Herz des Menschen im geheimen zu sich zieht und in ihm die verborgene Sehnsucht weckt, nur einen kleinen Augenblick in sie hineinzuschauen. Alle haben Angst vor ihr und doch fühlen sich alle zu ihr hingezogen. Mit unserem Munde bauen wir über ihr Wände von Worten und Systeme aller Art, um sie vor unseren Augen zu verbergen, aber sofort wühlen die Nägel in denen Wänden, um in ihnen eine kleine Lücke zu öffnen, irgendeinen Spalt, und durch ihn einen Augenblick in das hineinzuschauen, was jenseits ist. Doch wehe umsonst ist die Plage des Menschen! In dem Augenblicke, da der Spalt sich anscheinend auftut, ist eine neue Scheidewand da in Gestalt eines neuen Wortes oder Systems, die plötzlich an Stelle der früheren steht und das Auge wieder vom Schauen abhält.

Und so geht es fort in alle Ewigkeit. Ein Wort geht, das andere kommt, ein System steigt empor, das andere sinkt hinab; und die alte, die ewige Frage ohne Antwort bleibt unberührt, sie verändert sich nicht und wird nicht geringer. Einen Wechsel auf seine Schuld geben oder sie in seinem Geschäftsbuch vermerken, heißt noch nicht die Schuld bezahlen. Es heißt nur für den Augenblick die Last vom Gedächtnis abwälzen und nicht mehr. Das gleiche gilt bei der Rede, die eine Aussage macht, das heißt, wenn man Erscheinungen und ihren Verbindungen Namen gibt und Ordnung und Grenze für sie festsetzt. Eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen hat von selbst in die Rede schlechthin niemals Aufnahme gefunden. Sogar eine ausdrückliche Antwort ist in Wahrheit nichts als ein anderer Text der Frage selbst. Staunen wandelt sich in Beruhigung, der Stil der Verhüllung tritt an Stelle des Stils der Offenbarung. Wenn wir daran gingen, den wahren, den innersten Kern aller Worte und Systeme bloßlegen, so würden wir ganz zum Schluß nach dem letzten Auspressen zu nichts anderem gelangen, als zu einem Wort, das alles umfaßt, einem Wort von drei Buchstaben. Welches ist es? Wiederum jenes furchtbare „Was“, hinter dem ein noch furchtbareres X steht, das Nichts. Aber der Mensch liebt es, seine Schuld in kleine Brocken zu zerbröckeln in der eitlen Hoffnung, sich damit die Bezahlung zu erleichtern, und da sich die Hoffnung nicht erfüllt, tauscht er ein Wort gegen das andere ein, ein System gegen das andere, das heißt, er gibt einen neuen Wechsel für den alten und verschiebt oder verlängert sich die Frist der Bezahlung; unterdessen kommt es dann überhaupt nicht mehr zur Einhebung der Schuld.

Ein Wort oder ein System steigt also von seinem Throne hinab und macht einem andern Platz. Nicht etwa darum, weil seine Kraft zu offenbaren, zu erhellen, die unlösbare Frage aufzuheben, teilweise oder ganz gebrochen ist, sondern gerade im Gegenteil: weil das Wort oder das System infolge des allzu vielen Zerdrückens, Betastens und Wühlens zerrieben wurde und nicht mehr Kraft genug in sich hat, so recht zu verhüllen und zu verbergen und natürlich auch nicht mehr Kraft genug, um für den Augenblick das Bewußtsein abzulenken. Der Mensch schaut eine Sekunde in dem Spalt hinein, der sich aufgetan hat, und zu seinem großen Entsetzen findet er wiederum jenes furchtbare Chaos vor sich. Er springt auf und verstopft einstweilen den Spalt – mit einem neuen Wort, das heißt, er hält an dem „Zauber“ fest, den er längst an jenem Wort erprobt hat, das diesem voranging; als ob das neue Wort das Bewußtsein für den Augenblick abzulenken vermöchte – und er ist von seinem Entsetzen befreit. Wundere dich nicht! Der „Zauber“ nützt denen, die an ihn glauben; dann der Glaube an und für sich ist nichts als die Ablenkung des Bewußtseins. Bietet uns nicht der Sprechende selbst ein naheliegendes Beispiel dafür? Solange ein Mensch lebt, strebt, sich regt und schafft, füllt er einen leeren Raum aus. Alles ist, wie es scheint, verständlich; alles geht gut vonstatten. Der ganze Strom des Lebens, sein ganzer Inhalt ist nichts als eine unausgesetzte Anstrengung, eine unaufhörliche Bemühung, das Bewußtsein abzulenken. Jeder Augenblick des Jagens nach etwas ist zugleich auch ein Augenblick der Rettung vor etwas, und dies, nur dies, ist sein Lohn. Der Lohn des Nachjagens ist das Entrinnen. Wer nachjagt, findet in jeder Sekunde seine einstweilige Befriedigung nicht darin, daß er etwas erreicht hat, sondern darin, daß er entkommen ist, und das gibt ihm zunächst den Schatten der Beruhigung und des Vertrauens. „Denn wenn einer allen Lebendigen zugesellt wird, da ist noch Vertrauen.“ Doch ist der Mensch gestorben, so ist der Raum leer geworden: es ist nichts da, was das Bewußtsein ablenkte, und die Scheidewand ist verschwunden. Alles wird plötzlich unverständlich, das verborgene X ist mit dem ganzen Schrecken seiner Gestalt wieder vor uns herabgestiegen und wir sitzen einen Augenblick vor ihm als Trauernde in Finsternis auf der Erde, zu Stein erstarrt; aber nur einen Augenblick, da der Fürst des Lebens mit dem Schließen dem Öffnen zuvorkommt; er verschafft uns sofort einen neuen Zauber, mit dem wir das Bewußtsein ablenken und die Furcht vertreiben können; noch hat sich der Sargdeckel über dem Toten nicht geschlossen, und schon finden wir jenen ausgeleerten Raum wiederum von einem der Worte verschlossen, mag es ein Wort der Klage sein oder eines der Tröstung, der Philosophie oder des Glaubens an das Fortleben der Seele oder sonst etwas ähnliches. Der gefährlichste Augenblick in der Rede sowohl wie im Leben ist also nur der zwischen Verhüllen und Verhüllen, wenn der Abgrund zum Vorschein kommt; aber derartige Augenblicke gibt es sowohl im Strome der Sprache als auch im Strome des Lebens sehr wenige; meistens springen die Menschen über sie hinweg, ohne es zu merken. Die Einfältigen schützt Gott.

Aus all dem Gesagten geht der große Unterschied zwischen der Sprache der Prosaschriftsteller und der Sprache der Dichter hervor. Jene, die Menschen des einfachen Wortsinnes, stützen sich auf das Gleiche und Gemeinsame in Erscheinung und Wort, auf das Feststehende, auf den überlieferten Text. und deshalb ziehen sie mit sorgloser Sprache ihres Weges. Wem gleichen sie? Einem, der auf festem Eise, das zu harter Fläche erstarrt ist, den Fluß überschreitet. Ein solcher hat das Recht und ist imstande, sein Bewußtsein zur Gänze von der verhüllten Tiefe abzulenken, die unter seinen Füßen rauscht. Und jenen gegenüber diese, die Menschen der Anspielung, der Auslegung und des Geheimnisses, ihr Leben lang auf der Jagd nach dem, was das [unleserlich] ist in den Dingen, nach jenem einsamen „Was immer“. nach jenem Punkte, in welchem die Erscheinungen und die Wortverknüpfungen, die ihnen zugehören, zu einer köstlichen Einheit in der Welt verschmolzen sind, nach dem vergänglichen Augenblick, der in Ewigkeiten nicht wiederkehrt, nach der einzigartigen Seele und der besonderen Wesenhaftigkeit der Dinge, so wie sie in einem bestimmten Moment ins Innere derer Eingang finden, die sie sehen; daum sind diese genötigt, vor dem Feststehenden und Starren in der Sprache, das ihrem Ziel sich entgegenstellt, zu jenem zu fliehen, das da lebt in ihr und sich regt. Ja, sie selbst sind verpflichtet, in jedem Moment – die Schlüssel sind in ihre Hand gegeben – eine unaufhörliche Bewegung, neue Verschmelzungen und Einungen in sie einzuführen. Die Werte zucken unter ihren Händen, sie erlöschen und entbrennen, gehen unter und leuchten auf gleich der Schrift auf dem hohepriesterlichen Schilde, leeren und füllen sich, tun eine Seele von sich ab und hüllen sich in eine andere. In den sprachlichen Stoff kommt dadurch eine Ablösung der Wachposten und eine Veränderung der Standorte. Die Verzierung eines Buchstabens, ein Häschen am Jod – und das alte Wort flammt in neuem Lichte auf. Das Profane wird heilig und das Heilige profan. Derartige feste Worte lösen sich gleichsam Augenblick für Augenblick aus ihren Einfassungen und wechseln den Ort miteinander. Und unterdessen, zwischen Verhüllen und Verhüllen, regt sich der Abgrund. Das ist das Geheimnis der gewaltigen Wirkung, die die Sprache der Dichtung ausübt. In ihr lebt etwas, was den Trieb des Verantwortlichkeitsgefühls erregt, in ihr die süße Furcht dessen, der in Versuchung ist. Wem gleichen die Dichter? Einem, der auf schwankenden und schwimmenden Eisschollen den Fluß überquert in der Stunde, da laue Lüfte wehen. Wehe ihm, wenn er seinen Fuß länger als einen Augenblick auf der Scholle verweilen läßt, länger als nötig, um von einer Scholle zur andern und von dieser wieder zur nächsten zu springen. In den Spalten regt sich der Abgrund, der Fuß kommt ins Schwanken, die Gefahr ist nahe – – Gleichwohl gibt es auch unter ihnen solche, die in Frieden von dem einen Gestade hinabschreiten und in Frieden wieder hinausgelangen zum andern Gestade. Nicht die Einfältigen allein schützt Gott.

Soweit über die Sprache der Worte. Aber außerdem hat Gott noch Sprachen ohne Worte: das Musizieren, das Weinen und das Lachen. Ihrer aller wurde das sprechende Wesen teilhaftig. Sie beginnen dort, wo die Worte aufhören, und sie kommen nicht, um zu verschließen, sondern um zu öffnen. Sie schwellen an und steigen aus dem Abgrunde hervor; sie sind das Emporsteigen des Abgrundes selbst. Daher schwemmen sie uns mitunter hinweg und reißen uns mit sich mit der tosenden Fülle ihrer Wogen, und keiner vermag ihnen zu widerstehen; daher treiben sie mitunter den Menschen aus seiner Vernunft oder auch aus der Welt; eine geistige Schöpfung, in der nicht ein Widerhall wäre von diesen dreien, hat kein wahres Leben und es wäre besser für sie, wenn sie nicht zur Welt gekommen wäre.

Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. von mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität. Wien 1884.

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Zur Biographie: Nathan Birnbaum

In: Nathan Birnbaum: Ausgewählte Schriften zur jüdischen Frage. Bd. II. Czernowitz 1910, 41-45

➥ Zur Biographie: Birnbaum Nathan

In: Nathan Birnbaum: Um die Ewigkeit. Jüdische Essays. Berlin: Welt-Verlag 1920, S. 174-177

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Was will man von den Hellenisten? Warum verkleinert man sie zu einfachen nationalen Verrätern? Da sie doch weit mehr sind als das: die ersten Opfer der großen europäischen Suggestion. Die ersten jüdischen Intelligenten, die sich von diesem tönenden und strahlenden Kulturkoloß verblüffen ließen. Unser aller Vorbilder, wiewohl wir es uns nicht einzugestehen lieben. Habe nicht z.B. auch ich dreißig Jahre meines Lebens Reden gegen sie gehalten und Artikel gegen sie geschrieben und war doch im Grunde ihr geistiger Enkel. Wußte es nur nicht.

Ich stelle Europa nicht in Gegensatz zum Orient. Ich weiß nicht, ob das, was der absolute Gegensatz des Europäismus ist, Orientalismus heißen darf. Vor allem weiß ich nicht, ob und welche orientalischen Völker diesen absoluten Gegensatz ebenso oder ähnlich verkörpern, wie ihn die Juden ihrer Bestimmung nach verkörpern sollen und trotz allem in ihrer Geschichte verkörpert haben. Aber das weiß ich, das mich die flammenden Worte, die eine berühmte französische Schauspielerin, Yvette Guilbert, in einem Pariser Blatte zugunsten der Türken veröffentlichte, aufrichtig freuten. Ich kann natürlich nicht nachprüfen, ob die Türken ihr Lob so ganz verdienen, aber das weiß ich, dass sie die wunderbarsten und ganz uneuropäischesten Worte fand, um die Europäer – „Barbaren“ nennt sie sie – zu geißeln. Dabei empfand ich etwas wie Neid gegen sie: Eine Europäerin, der – übrigens ähnlich, wie vielen anderen, größeren, als sie, mir fällt Tolstoi ein – diese wirbelnde Jagd nach dem funkelnden Scheine, dieses Losrasen auf ein absolutes Seelenvakuum der Menschheit, – in der Seele zuwider geworden ist! Und auf der andern Seite wir, die Söhne des Volkes der siegenden Seele, wie wir unser letztes Restchen Weltallglut aufbrauchen, um den Götzen anzubeten, den jene verwirft! Prinzen, die den Ehrgeiz haben, am Leierkasten zu drehen! Und bis zu den Chanuka-Lichtern verfolgt und der Wahn, der wüsteste Traum, den die dem Lichte entgegenschlummernde Menschheit jemals geträumt hat – das Europäertum. So haben sich’s die Makkabäer wahrlich nicht gedacht.

            Zweckvoll nennen uns unsere europäische Feinde. Wir täten nichts ohne Zweck, sagen sie, nichts um des Lebensgefühls selbst willen, nichts als stille Statisten des Weltgeschehens. O, über ihren blinden Blick und ihre Selbstüberhebung! Sie können uns noch immer nicht vergessen, was wir ihnen damals taten, als wir den großen, über alle Zwecke erhabenen Gottgedanken, das brennende, über alle Zwecke erhabene Gottgefühl, in uns auslösten und über ihre Welt hin verbreiteten: daß wir da mit unserem stillen Weltenernst ihre lauten Welttändeleien verscheuchten. Wir hätten Zwecke, sagen sie. In der engen Welt sinnlicher Wirklichkeit gewiß! Wie sie und wie andere auch. Doch mit einem Unterschiede: Keiner unserer Zwecke ist vom Geiste der zweckfreien Welt- und Gotteserkenntnis so verlassen, daß wir, wie sie, die Maske spielerischer Zwecklosigkeit vornehmen müßten, um unsere Blöße zu verdecken … Und darum liebten wir auch niemals den Krieg „um des Krieges willen“, Makkabäer aber hatten wir…

            Freilich, heute haben wir keine – so weit das Auge reicht, keine – was man sich auch als ihre Aufgabe denken mag. Woher das kommt? Zunächst daher, daß die jüdische Hingabe an das, was über allen Zwecken thront, an das Ewige und Absolute so mächtig war, daß sie selbst in die Dinge der Wirklichkeit hinüberfloß, das politische Leben ergriff und den Zwecken nur die Sphäre des Erwerbslebens ließ. Aber dabei hätte es nicht bleiben müssen. Gerade das Beispiel der Makkabäer lehrt uns von einer anderen Seite, daß eine Herstellung des Gleichgewichts, ein Kompetenzraum für das Reich der Gesamtheitszwecke möglich wäre. Ja, wenn es nur nicht jene Suggestion gäbe, von der wir sprachen, jenen wüsten Traum, der, unserer jüdischen Seele fremd, wie ein Alb uns jüdische Intelligente drückt, und tausendfach mehr uns drückt, als in jenen alten Zeiten, weil er heute auf uns allen lastet, auf den „Getreuen“ ebenso wie auf den Ungetreuen. Wie sollen aus europäisch verkrümelten Menschen „Makkabäer“ hervorgehen – Sachwalter jüdischen Geistes und jüdischer zeitlicher Kraft zugleich…?

Lächerliche, europäische Frage, ob die Makkabäer für den jüdischen Glauben oder für das jüdische Volk kämpften. Nur Europäer, diese schwachen Rohre unter dem Sturme der zweckfreien Ewigkeit und diese Helden im Kleinkram der mit Zwecken vollgepfropften Zeit konnten ihre Geschicke und Gedanke so weit laufen lassen, daß sich ihnen nun Religion und Volk (nicht etwa nur Staat, worum es etwas ganz anderes ist) voneinander zu scheiden scheinen. Für Juden aber, die es noch sind und die sich noch als solche erkennen, bleibt ewig klar, daß das Licht der Ewigkeit durch jedes Volkes Seele hindurchgeht und daß es das tiefst Auszeichnende eines Volkes ist, in welcher Farbe dort dieses Licht sich bricht, in welchem Glanze es dort erstrahlt. Also haben die Makkabäer weder für ihr Volk, noch für ihren Glauben gekämpft, sondern für etwas Einziges und Wesentliches, woraus erst durch die kleinliche analytische Teilungswut der Europäer jene zwei getrennten Begriffe und Erscheinungen geworden sind.

            Um uns ist schwarze Nacht. Aber noch brennen still und friedlich Chanuka-Lichtlein. Vielleicht birgt ihre fröhliche Feierlichkeit noch einige Hoffnung. Vielleicht besinnen wir uns doch noch alle auf uns selber und steigen auf zur Reinheit und Schöne. Und vielleicht finden auch noch einmal selbst unsere europäischen Menschenbrüder, denen wir seit den Tagen der Hellenisten nachzubuhlen nicht müde werden, die Straße, von der wir niemals hätten abirren sollen. Vielleicht… Vielleicht…

„Die Welt“ vom 13.Dezember 1912

Zur Biographie: Blau Armin

In: Jeschurun. Heft 10. 5. Jahrgang. Oktober 1918

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In: Die Wahrheit. Jüdische Wochenschrift, Nr. 50, 13.12.1929, S. 7-8

 ➥ Zur Biographie: Chajim Bloch

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Zur Biographie: Klara Blum

In: Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs, 44. Jahrgang, Ausgabe 75 vom 16.03.1931, S. 5

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Tran-skription

Der Kampf der jüdischen Arbeiterin ist ein dreifacher: er richtet sich gleichzeitig gegen die Ausbeutung des Proletariats, gegen die Sonderstellung der jüdischen Massen und gegen die Entwertung der Frau. Er verläuft unter gehäuften Schwierigkeiten und gerade darum unter dem Hochdruck revolutionärer Spannung. Ueber den bisherigen Ablauf dieses Befreiungswerkes berichten zwei Bücher aus dem roten Palästina, beide im Verlag des Arbeiterinnenrates in Tel-Aviv erschienen. Als erstes Ada Fischmanns „Die arbeitende Frau in Palästina“, eine scharf umrissene Entwicklungsgeschichte dieser Arbeiterinnenbewegung, gesehen vom Standpunkt sozialen und wirtschaftlichen Geschehens. Als zweitens, noch unübersetzt, eine Sammlung von Briefen, Gedichten und Tagebuchauszügen. Auch dieses zweite Buch, „Worte der Arbeiterinnen“, wie sein orientalisch feierlicher Titel lautet, ist ein Stück Entwicklungsgeschichte der Palästinaproletarierin. Aber von einer ganz andern, einer viel mehr verworrenen und stimmungsbetonten Seite her gesehen: von der Seite des persönlichen Erlebens und seelischen Erleidens.

Das Buch Ada Fischmanns setzt die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der Palästinabewegung, die Not und das Auswanderungsbedürfnis der verfolgten und verelendeten ostjüdischen Massen, als bekannt voraus. Ebenso die besondere sozialistische Zielsetzung der nach Palästina ziehenden jüdischen Pionierjugend: Umschichtung des haltlosen Handeltreibenden Kleinbürgertums in ein auf festem Boden schaffendes Proletariat, Aufbau neuer Siedlung und Kultur mit neu- en kollektiven Formen der Wirtschaft und des Lebens Umerziehung des weltfremden Gettomenschen, haltlosen Hausierers zum neuen starken klassenbewußten jüdischen Arbeiter.

Diese Art der Pionierbewegung, Vorläuferbewegung, die sich von den bisherigen Palästinawanderungen grundlegend unterscheidet, beginnt um das Jahr 1904. Das erstemal kommen damals auch Mädchen als selbständige Arbeiterinnen ins Land, nicht mehr wie früher als Töchter oder als Bräute der Auswandernden, sondern aus der eigenen Entscheidung heraus und zur eigenen Leistung entschlossen. Ada Fischmann, selbst eine ihrer frühesten und erfolgreichsten Führerinnen, schildert die endlosen Schwierigkeiten, die sich diesen Pionierinnen im Anfang in den Weg stellen. Sie haben nicht nur, wie ihre männlichen Genossen, mit der ungewohnten Schwerarbeit, dem ungewohnten Klima, den unmenschlichen orientalischen Lohnbedingungen zu kämpfen, sondern außerdem noch mit einer Reihe alter, zäher Vorurteile. Sie finden keine anderen Geschlechtsgenossinnen im Lande vor als die versklavte Araberin und die konservative jüdische Kolonistenfrau, welche auf die Pionierin mit Verachtung herabsieht. Man betrachtet sie als „das Mädchen, welches auf schiefe Wege geraten ist“. Ihre Selbständigkeit wird verurteilt, ihr Opfermut verkannt. Sie drängt sich zur Land- und Bauarbeit, glühend in ihrem primitiven revolutionären Willen möchte sie beweisen, daß sie nicht weniger leisten kann als ein Mann. Aber die Unternehmer, meistens orthodoxe Juden weigern sich empört, ihr Arbeit zu geben. Der Kolonist erklärt, er würde nie die Sünde auf sich nehmen, jüdische Mädchen gemeinsam mit Burschen in entlegenen Pflanzungen arbeiten zu lassen, und der Bauunternehmer behauptet abergläubisch, ein Haus, unter der Mitwirkung von Frauenhänden errichtet, müsse unfehlbar einstürzen …

Und das Schmerzlichste von allem: auch in den eigenen Reihen sind die Vorurteile da. Die männlichen Genossen, revolutionär in allem, nur nicht in ihrer Einstellung zur Frau, lassen die Genossin deutlich und unverkennbar den Widerstand gegen ihre gleichberechtigte Mitarbeit, gegen ihre radikale Selbständigkeit fühlen. Auch da, wo die Arbeiter ihre eigenen Siedlungskommunen haben, werden die Mädchen im Anfang nur sehr widerwillig zur Mitarbeit zugelassen; immer wieder gibt man ihnen zu verstehen, daß sie wirtschaftlich eigentlich eine Belastung sind Um diese Legende zu zerstören, tun sich die Mädchen zeitweise in eigenen Siedlungen zusammen, schulen sich, arbeiten mit wütendem Trotz, erzielen glänzende Erfolge. Schritt für Schritt geht ihre Bewegung vorwärts. Konferenzen werden einberufen, der Arbeiterinnenrat gewinnt an Einfluß und Geltung in der gleichzeitig immer mehr sich entwickelnden Arbeitergewerkschaft. Das große Verdienst Ada Fischmanns ist es vor allem, daß sie der Frau den Weg zur Facharbeit gebahnt hat. Tatsächlich hat ein unsinniges Vorurteil, das sich noch dazu auf die Natur berief, der Frau lange Zeit den Weg zur „gelernten Arbeit“ versperrt und sie auf die körperlich viel mehr anstrengende Hilfsarbeit beschränkt. (Ada Fischmann schildert sehr treffend die alte „natürliche“ Arbeitsteilung beim Häuserbau, wo das Mädchen dem Burschen als Handlanger die schweren Steine vom Boden reicht, während er die körperlich leichtere, aber intelligentere Arbeit des Einfügen besorgt.) Mädchenschulen, besonders landwirtschaftliche, bilden heute für das ganze Land fachmännisch geschulte Genossinnen heran.

Wie sich dieser harte und mühsame Entwicklungsweg im innersten Seelenleben der Palästinaproletarierin widerspiegelt, erzählt nun das zweite Buch. Es ist ein verworrenes und dreifach gespanntes Seelenleben, das Seelenleben der von Traditionen ummauerten Gettojüdin, die gewaltsam nach Erneuerung ringt, der oft stark intellektuellen Kleinbürgerin, die bewußt den Weg zur Arbeit und zur proletarischen Einheit sucht, der behüteten Familientochter, die plötzlich heftig die alten, unerträglich gewordenen Lebensformen durchbricht. Ihre äußere Haltung ist heißer Trotz, brennende Tatenlust, ihre innere Haltung vibrierende Unsicherheit, Ueberempfindlichkeit, Zweifel am eigenen Können. Ein kluger und doch kindlich verträumter Brief faßt mißmutig die Eindrücke der ersten Arbeiterinnenkonferenz zusammen: „Wozu sind wir hervorgetreten? Wozu haben wir gesprochen, wenn wir es noch so schlecht konnten? Wir haben uns nur bloßgestellt.“ Und eine andre schildert ihren ersten Arbeitstag: „Man gab mir die leichteste Arbeit. Ich sah, daß die Burschen mich auslachten, und verlangte sofort die schwerere. Die Burschen lachten noch mehr, ich zeigte ihnen aber, daß ich es schaffen konnte. Am Schluß sprach mir der Leiter seine Anerkennung aus ich aber fühlte mich auf einmal so entsetzlich allein.“ Eine dritte schreibt in ihr Tagebuch: „Warum fühlt sich ein Mädchen erniedrigt, wenn ein Bursch sie verläßt? Das muß und muß end- lich aufhören. Ich will nicht, daß mein Selbstbewußtsein von den sexuellen Wünschen des Mannes abhängt. Es ist keine Schande, einen Mißerfolg in der Liebe zu erleiden, aber es ist eine Schande, dadurch sein Selbstbewußtsein zu verlieren.“

Und dann wieder ein Brief. Erster großer Streik, Streik in den Plantagen von Petach-Tikwah. Orangenernte, goldbrennende Früchte an allen Bäumen, Tage der paradiesischen Schönheit und des scheußlichsten Lohndruckes, der in Palästina bis heute jedes Jahr zur Zeit dieser Ernte wiederkehrt. Der Brief berichtet mit sehr einfachen Worten den Verlauf des Streiks, berichtet, wie Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam gekämpft und gemeinsam sich durchgesetzt haben. Das eiserne Gesetz des Klassenkampfes, Tatsache und Erlösung zugleich, hat die Gegnerschaft zwischen den Geschlechtern zum Schweigen gebracht Und das Wissen um diese Entwicklung gibt der Palästinaproletarierein Zuversicht und bringt sie vorwärts.

Zur Biographie: Klara Blum

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In: Ostjüdische Zeitung. Organ für die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Bukowinaer Judenschaft, 6. Jahrgang, Ausgabe 271 vom 09.10.1924, S. 2f

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Aus all den alten Schriften, aus dem Buche der Könige, der Richter, der Propheten, schaut uns immer wieder ein rührend anmutiges Gesicht entgegen. Und in der fremdartigen Tracht, in dem sonderbaren Rahmen längstvergangener Dinge erkennen wir eine altvertraute, täglich gewohnte Erscheinung: „Die Tochter Zions“.

Wie sie ruhig dasteht zwischen den schwarz-grünen Bäumen und den weissen Mauern des alten Judenlandes, hat sie schon irgend etwas schwer zu Bezeichnendes, das sie von den übrigen Frauen unterscheidet, ihr Wesen anders formt, ihr Schicksal anders färbt. Auf den ersten Blick scheint sie ganz Weib des Altertums, ganz Orientalin, weich träg, pflanzenhaft, eine seelenlose Blume der Lebenslust, wie sie all die anderen waren. Aber auf ihren schwarzen Wimpern, auf ihrem scharfen Profil und auf ihrer hohen Stirne liegt schon irgend ein Hauch von Menschentum, von Nachdenklichkeit, liegt die erste Spur einer beginnenden Vergeistigung: Leid.

Sie musste leiden, die arme, kleine Tochter des jüdischen Volkes, bitter und unaufhörlich leiden. Immer wieder gab es Bedrängnis, Kriegsnot, Blut, Tod, immer wieder Gefangenschaft, Verbannung. Immer wieder hiess es: „Weine, Tochter Zions, klage, zerreisse deine Kleider, weine um dein Volk, klage und weine“. Dieses ewige, bitter ernste Trauern wurde zu einem bleibenden Zug ihres Wesens, wurde zu einer frommen Pflicht, der sie nicht untreu werden durfte. Wie schalt der Prophet, wenn sie sich manchmal ein wenig vergass, sich an schönen Gewändern freute oder Vergnügen daran fand, mit dem dunklen Feuer ihrer Augen zu spielen und mit der leichten Musik ihrer Füsse. Immer wieder und wieder kam das grosse Volkslied, riss sie aus dem süssen Halbschlaf ihres Haremlebens, zwang schmerzhaft den kaum erwachten Geist zu grossen, unpersönlichen Volksgefühlen. Vielleicht dass ihr kindhafter Verstand schon damals darüber nachgegrübelt hat, was das wohl zu bedeuten hätte, dass gerade ihr, der Tochter des auserwählten Volkes, ein ernsteres, trüberes Dasein beschieden war als ihren Gefährtinnen. Und das war eine von den vielen Fragen, deren Antwort lange auf sich warten lässt, – jahrtausendelang.

*     *     *

Und Jahrtausende später sitzt die Tochter Zions, den Kopf in die Hände gestützt und sinnt und sinnt… 

Sie überdenkt ihre Lebenspläne, Aussichten, Schwierigkeiten …

Sie hat es schwerer als andere. In doppelter Hinsicht. Sie ist Weib und ist Jüdin. Ist zweifach geringgeschätzt, zurückgesetzt, ausgestossen von aller Gleichberechtigung. Ihre Brüder haben es schwer, weil sie Juden sind, aber sie sind Männer. Ihre Schwestern haben es schwer, weil sie Frauen sind, aber sie sind keine Juden. Sie aber, die arme kleine Tochter Zions muss zwei Lasten tragen, wo schon eine drückend genug ist.

Ihre schwere Stirne sinkt …

Es war ein Tag in ihrem Leben, da hatte sie einen Atemzug lang völlig an ihr Judentum vergessen, an ihr stilles, stolzes, ewiges Leid, so gross und schön war der Gedanke, der auf einmal von ihr und Millionen Frauen Besitz ergriffen hatte: Wir wollen unseren vollen Anteil am Leben, an der Weltarbeit, am Weltgeist. Unnatürlich einseitige Geschöpfe waren wir bisher, gewaltsam zu schwachen, stumpfen, unselbständigen Wesen verkümmert, um einem einzigen Daseinszweck besser zu dienen. Wir wollen nicht mehr. Gebt uns unsere Menschenrechte, um die ihr uns jahrtausendelang betrogen habt. Gebt uns unser Menschentum wieder.

Rascher, feuriger, zuversichtlicher als alle anderen hatte sie diesen Gedanken erfasst, der so ganz ihrem innersten Wesen entsprach, ihrem brennenden Wissensdurst, ihrem fiebernden Tatendrang …

Eine Zukunftswelt lag plötzlich vor ihren Augen, reich, schön, frei …

Aber ihr grüblerischer, messerscharfer Intellekt zerteilte den Rausch der Begeisterung.

Und wenn das grosse Ziel erreicht wurde? – Auch unter gleichberechtigten Frauen war die Jüdin ewig ungleichberechtigt.

Und sie begriff den grossen Sinn des Judentums.

Auch andere Nationen hatten ihr Volkstum. Aber sie hatten ausserdem, und völlig getrennt davon, die Interessen ihrer Religion, ihrer Klasse, ihres Geschlechtes. Doch das ewig rätselvolle und sonderbare Schicksal des Juden wollte es, dass er, gezwungen, alles mit seinem Volkstum zu verquicken, nie daran vergesse. Feinde sandte es in seinen Weg, die es ihm ins Gedächtnis riefen, weil sie ihm damit zu höhnen glaubten, während sie ihm unbewusst dienten. Und darum ward sein unterdrücktes Volk vergessend, einer unterdrückten Klasse beistehend, so konnte es erleben, dass die, denen es zur Gleichberechtigung verholfen hatte, ihm dann mit dem einzigen Wort: „Jude!“ diese selbsterkämpfte Gleichberechtigung verweigerten. Und darum schüttelt auch die kleine Tochter Zions mutig alle Zweifel ab und sagt sich entschlossen: Ohne mein Volk gibt es für mich keine Emanzipation.

Mein geliebtes Volk, ich bleibe bei dir. Meine Ansprüche, meine Frauenrechte, ich lege sie in deine Hand. Ich weiss, du wirst sie ohnehin besser verstehen als die anderen Völker. Du hattest doch nie so recht Sinn und Zeit für dieses unglückselige Experiment, lebende, denkende Menschen in künstlicher Schwäche und Unwissenheit heranzuzüchten, als einseitige Liebesgeschöpfe und Luxusgeschöpfe. Du, auf deinem beispiellosen Leidensweg brauchtest Menschen und hast darum auch mein Menschentum immer ein wenig in Anspruch genommen. Schon damals, im Altertume, als alle anderen nur Weib waren, war ich schon ein wenig Jüdin, habe für dich gelitten, um dich geweint. Und dann später, viel später, in dem armseligen Ghettohäuschen, habe ich da nicht gearbeitet und verdient wie die modernste Frau, um meinem Mann das Talmudstudium zu ermöglichen? Und zuletzt, bei dem ersten Kongress deiner stolzen Selbstbefreiung, hast du mir da nicht als erstes unter den Völkern das Stimmrecht gewährt, wie einem Manne?

Du brauchst mich, mein Volk. Du brauchst mich zum Aufbau deines Landes. Meine sorgenden Gedanken, meine fiebernde Arbeitslust, meine freudige Opferbereitschaft, du kannst sie nicht entbehren. Menschen brauchst du und wirst nicht danach fragen, ob Männer oder Frauen. Wenn es nur ganze Menschen sind.

Mein geliebtes Volk, die Tochter Zions bleibt bei dir! Dein Gott ist mein Gott. Dein Land ist mein Land. Und deine Gleichberechtigung ist auch meine Gleichberechtigung.

Berlin 1810.

 ➥ Zur Biographie: Bock Moses Hirsch

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Ein Elementarwerk in hebräischer, deutscher und französischer Sprache für den Schul- und Privat-Unterricht der israelitischen Jugend. Berlin 1811.

  ➥ Zur Biographie: Bock Moses Hirsch

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➥ Zur Biographie: Max Brod

In: Neue Jüdische Monatshefte. H. 20-22/1917-18, 25.7. 1918, S. 481-483

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➥ Zur Biographie: Max Brod

In: Selbstwehr, 14. Jahrgang, Ausgabe 16 vom 16.04.1920, S. 2f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Abschnitte aus den eben bei R. Löwit, erschienenen Buche: Sozialismus im Zionismus.

Warum sind wir nicht Marxisten, sind es nie gewesen? Weil uns der Marxismus trotz vieler genialer Grundkonzeptionen nicht schlüssig, nicht überzeugend und außerdem der speziellen Lage des jüdischen Volkes nicht entsprechend erscheint.

Es ist ein Kennzeichen des Marxismus, daß er die nähere Einrichtung des „Zukunftsstaates“ nicht ausmalt. Er legt Wert darauf, (sagt Engels): „die Mittel der gesellschaftlichen Umwälzung nicht aus dem Kopfe zu finden, sondern vermittelst des Kopfes zu finden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken“. Es ist die Angst vor der Utopie, die pedantische Sorge um die Einhaltung der materialistischen Geschichtsauffassung, die doch von ihren eigenen Erzeugern nicht desavouiert werden darf!

Wenn Utopist sein nichts anderes bedeutet, als sich über das, was einem als höchst wünschenswertes Ideal vorschwebt, möglichst genau und nicht nur in allgemeinen Umrissen Rechenschaft zu geben, auf dieses Ziel hinzuarbeiten, die Geister ringsum zu erwecken, damit sie dasselbe Ziel erkennen, – gut, dann seien wir Utopisten … Genau genommen liegt im Wort „Utopie“ ein Unmögliches, Phantastisches, das die Bescheidenheit oder Vorsicht des ersten Systematikers ehrt, von der „wissenschaftlichen“ Sozialdemokratie aber geschickterweise dazu benützt wird, um jedem, der Einrichtungen einer gerechteren Welt im Detail und nicht bloß in ganz verwaschenen „Tendenzen“ formuliert, den Narrenhut aufzusetzen. Denn „wissenschaftlich“ nennt sich ja eben die Sozialdemokratie, weil sie alles von der Evolution und nichts vom Willen des Einzelnen erwartet, weil sie sachlich, nicht persönlich orientiert ist. Diese „Wissenschaftlichkeit“ des Marxismus ist sein deutsches, sein nichtjüdisches, ja antijüdisches Ingrediens. Es ist kein Zufall, daß Kautsky an ihr festhält und Bernstein nicht. Kein Zufall, daß gerade von jüdischer Seite, wie Landauer, Popper, aber auch Bergson (der die Theorie der französischen Syndikalisten anregte), die heftigsten Stöße gegen dieses System der Willensunfreiheit geführt wurden. Zur Konzeption eines jüdischen Sozialismus gehört es jedenfalls die Scheu vor möglichst klaren Formulierungen des Zieles aufzugeben und sich nicht auf die „Entwicklung“ zu verlassen. – Inwiefern dieses Selbstvertrauen mit tiefer Demut vor dem Geschehen, ja sogar mit der Erkenntnis vereinbar ist, daß die großen Taten (auch die politischen) nur durch ein „Wunder“ jenseits menschlicher Energie zustande kommen, – dieses Problem habe ich in den Mittelpunkt meines Bekenntnisbuches („Heidentum, Christentum, Judentum“) gestellt.

Die klare Umschreibung des Zieles hätte noch eine andere gute Nebenwirkung. Ich glaube nämlich daß die scharfe Betonung des Klassenkampfes in der modernen Sozialdemokratie einen ihrer Gründe im Fehlen eines ausgeführten positiven Programms und im Verhorreszieren eines solchen hat. Vom Positiven darf und soll man nicht sprechen; um so lieber wirft man sich auf das heute Vorhandene, mit Händen Greifbare, – auch dem stumpsten Verstand und gerade ihm Erreichbare, auf Gegensatz und Haß gegen alles, was dem (wenn auch noch so verschwommenen) Ziel entgegenzustreben scheint. Die Programmlosigkeit und Verlegenheit in der heutigen Sozialdemokratie kann man sich nicht leicht kraß genug vorstellen. Ist es nicht stupend, wenn Troelstra auf dem Luzerner Kongreß der Internationale (August 1919) beantragt, man möge eine „Studienkommission zur Ausarbeitung der Grundlinien für ein politisches System“ einsetzen! Eine Studienkommission! Ein Jahr nach Abschluß des Weltkrieges! Mitten im Fluß der Revolutionen, mitten im Sieg des Sozialismus, auf dem Gipfel politischer Erfolge, im Augenblick der endlichen Taten und Verkörperungen – eine Studienkommission! Zur Ausarbeitung der Grundlinien u. s. f….! Man glaubt sich in die schlimmsten Diskutier-Epochen des Zionismus versetzt.

Von der Notwendigkeit eines Kampfes gegen die antisoziale Gesinnung bin ich freilich überzeugt (ebenso wie z. B. von der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Assimilation). Ohne Kampf geht es nicht. Man kann mit der Umwälzung unserer menschenunwürdigen Ordnungen nicht warten, bis der letzte Bourgeois (analog: der letzte Assimilant) guten Willens geworden ist. Unrichtig aber ist zweierlei: Im Kampf das einzige Mittel zu sehen – und diesen Kampf als einen Kampf der Klassen, nicht der Gesinnungen zu proklamieren. Beides geschieht im Dogma vom alleinseligma- chenden Klassenkampf. Da wird behauptet, daß der Mensch nichts sei als ein (unbewußtes) Sprachrohr seiner Interessen, daß es gar keinen Sinn habe, ihn überzeugen zu wollen, da doch ohnedies nicht die Seele, sondern die Klasse in ihm sich für dieses oder jenes entscheide, – hinter diesem trostlos barbarischen Determinismus verbirgt sich aber der tiefere Grund, daß man gar nicht überzeugen kann, da man gar kein ausgeführtes Programm zukünftiger Formen hat, das doch am einleuchtendsten überzeugen könnte. Und da die Diskussion wegfällt, bleibt dann freilich nur Kampf und nichts als Kampf. – Klassenkampf ist zum guten Teil die Grobheit dessen, der nicht überzeugen kann, weil er gar nicht überzeugen will.

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An sich würde selbst der radikalste Kommunismus einer vollen Entfaltung nationaler Kulturen nicht hinderlich sein. In der Praxis aber sieht es so aus, daß z. B. der russische Sowjetkommissar Lunatscharski („Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse“) über diese folgende, in sich durchaus widerspruchsvolle Sätze findet: „Die Menschheit geht unaufhaltsam den Weg zur Internationalisierung der Kultur vorwärts. Die nationale Grundlage wird natürlich noch lange Zeit (!) da sein, aber der Internationalismus setzt ja auch nicht die Vernichtung von nationalen Motiven in der allgemein menschlichen Symphonie voraus, sondern lediglich ihre reiche und freie Uebereinstimmung.“ Mit den Schlußsätzen stimme ich völlig überein. Wenn aber der Internationalismus die Vernichtung nationaler Motive nicht will – warum werden sie dann doch nur „noch lange Zeit da sein“ und nicht immer und ewig? Warum heißt es dann gleich wieder im nächsten Satz: „Die Rahmen der Nationen werden gesprengt.“ Das soll ja gar nicht geschehen, ist nicht erwünscht, – es soll nur der imperialistische Machtnationalismus durch reinen Kulturnationalismus, der verzichten, ungeistigen Aeußerlichkeiten entsagen gelernt hat, ersetzt werden. In dieser Einschränkung ist Nationalismus nicht etwa ein „notwendiges Uebel“, als das er in sozialistischen Kresen oft genug erklärt wird, sondern unentbehrlicher Baustein der Menschheit, Bindemittel, Verständigungsmittel des Geistes.– Der Staat neigt zur Schablonisierung, er stellt am liebsten grobsinnliche Merkmale auf, beurteilt etwa die Nationen einfach als Sprachgemeinschaften und gibt nicht gern Ausnahmen zu. Daß Nation nicht mehr und nicht weniger als „Sprache“ bedeute, also auf einen möglichst inhaltsarmen Begriff herabgedrückt werde, den ärmsten, den die Sachlage überhaupt noch zuläßt, ist ja nur eine Folge des sozialistischen Theorems vom „notwendigen Uebel des Nationalismus.“ – Nichts begreiflicher, nichts entschuldbarer nach all den Exzessen des Kriegsnationalismus, – und doch nichts kulturloser, nichts hoffnungsloser als dieses Verfallen ins entgegengesetzte Extrem! Die Fiktion einer einheitlichen Proletariergesinnung trägt dazu bei, den Vollsozialismus noch auf lange hinaus in der unglückseligen Winkelgasse des Antinationalismus festzuhalten, wiewohl ihm solches Verweilen durchaus nicht immanent ist. Denn im Grunde kann, wer antinational ist, nicht international sein. Er ist wahrscheinlich unternational, denn zum „Inter“, zur Klammer gehören doch auch die Stücke, die miteinander verklammert werden sollen.

Das Wesen des jüdischen Sozialismus wie auch des jüdischen Nationalismus ist und soll bleiben: die große allmenschliche Sehnsucht des Judentums.

Ich glaube: dieser Quelle entspringt ein Strom, dessen Lauf dem großen Meere der wahren Internationale entgegenführt, – jenem Ozean, in den alle Völker, jedes nach seiner Art, ihr Bestes hineintragen, damit die gemeinsame Küste der Menschlichkeit sich bade in den reinsten kraftvollen Willenzügen einer gerechten Weltordnung.

In: Die Jüdische Rundschau. Allgemeine jüdische Zeitung 15/2 (14.1.1910), 13-14 (1. Teil)

Die Jüdische Rundschau. Allgemeine jüdische Zeitung 15/3 (21.1.1910), 25-26 (2. Teil).

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