➥ Zur Biographie: Oskar Waldeck

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 22. Jahrgang, Ausgabe 8 vom 24.02.1882, S. 66f / Ausgabe 10 vom 10.03.1882, S. 82f

 

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Ausgabe 8 vom 24.02.1882, S. 66f

Die alten jüdischen Weisen lieben es in einem einzigen Satze ein ganzes Gedankensystem zu bieten, in gedrängter Kürze, mit wenigen, inhaltsschweren Worten große Gedankenkreise zu umschlingen. Wie der ruhige Wasserspiegel oft eine bodenlose Tiefe birgt, so liegt hinter den meisten ihrer Aussprüche ein endloses geistiges Gebiet. In der Seele dieser Männer mußte alles reifen. Ihre Sätze sind die Früchte eines ausgebildeten Gedankenganges. Die schwierigsten Denkoperationen überwältigt ihr geübter Geist. Mit einer seltenen Präcision analysirt ihr Denkproceß die verwandten Begriffe und Ideen, faßt im richtigen Schwerpunkt die verschiedenen Elemente eines geistigen Gebildes. Wie gut haben sie es verstanden, wo stille Ahnungen ein Erkenntnißgebiet voraussetzen, ihre Beobachtungsgabe zu verwerthen, in den Erfahrungen nach den Prämissen für einen Schlußsatz zu suchen. Ihnen war die rein objective Erkenntniß, die jetzt den Inhalt unserer Wissenschaften ausfüllt, noch zu sehr entlegen und die wenigen Grundzüge boten ihrem Verstande ungenügendes Materiale für eine kosmologische Idee. Da mußte noch die Phantasie forthelfen und wie dies regelmäßig in solchen Fällen eintritt, die subjektive Ueberzeugung die objective ersetzen. Sie glaubten, die sie nicht wußten. – Und ihr Glaube war unerschütterlich, weil ihre stillen Ahnungen sie erhaben stimmten, ihr Wesen in eine ideale und schöne Welt versetzten. Und wie tief drangen sie ein in das geheimnißvolle Wesen ihrer eigenen Natur! In jedem Pulsschlag ihres eigenen Herzens spähten sie nach den wunderbaren Schätzen der kleinen Welt, um sie der großen Welt zu überliefern. Ist etwa jeder einzelne Mensch nicht eine ganze Schatzkammer merkwürdiger Anlagen und Fähigkeiten? Wer nur den Schlüssel fände, die verschlossenen Pforten, die zum einzelnen Herzen führen, zu öffnen: „Wer nicht sündenscheu geworden – sagt Rabbi Chanina Ben Dosan – bevor er in der Weisheit Tiefe eingedrungen, dem frommt die Weisheit nicht.“ So sprach bereits vor fast zwei Jahrtausenden ein Mann, der von Wort- und Gedankencultur noch nichts wußte, der bloß im Stillen den ruhigen Gang seines Gefühlsstroms überwachte. Wer zuerst denken gelernt hat, bevor in ihm das Gefühl erwacht ist, – würde ein moderner Pädagoge sagen –, der hat gelernt auf das Gefühl vergessen.

So einfach dieser Satz dieses alten Weisen zu sein scheint, so könnte doch mancher unserer Schriftsteller umfangreiche Werke darüber schreiben und hätte uns am Ende nicht so viel gesagt, als in diesem Aussprache enthalten ist. Was Rabbi Chanina ben Dosa geahnt, das sollten unsere Pädagogen bereits wissen. Und wie Wenige wissen es noch!*

Da derartige Aussprüche das Endresultat einer langen Reihe von Betrachtungen sind, so bieten sie uns nur die Schlußsätze, zu welchen wir uns die Prämissen selbst suchen müssen, wenn wir den Gedanken erfassen, ihn seinem Inhalte nach recht verstehen wollen. Die subjective Erkenntniß war das fruchtbare Gebiet, auf dem die größten Geister der talmudischen Schule thätig waren. Und wer wird wohl bestreiten wollen, daß diese Männer in der Ethik Großes geleistet haben? Der Kirchenlehrer Clemens der Alexandriner (Protrept VI. §. 70) sagt bereits von Plato, daß er die Mathematik von den Egyptern, von den Babyloniern die Astronomie, von den Juden das Gesetz sich geholt habe. Die wissenschaftliche Pädagogik beschäftigt sich gerade in unsern Tagen vorzüglich mit der Erkenntniß der Individualität des Kindes. Um so wichtiger dürfte es sein, die alte Lebensweisheit ein wenig zu Tage zu fördern, da wir hier so manchen schönen Gedanken vorfinden, der uns auf neue Bahnen leiten kann.

Die Sophisten und an ihrer Spitze Protagoras, der Individualist, haben sich bereits von der kosmologischen Idee, für deren Erkenntniß ihnen die nöthige Grundlage fehlte, loszusagen begonnen, um sich um so eingehender mit dem Individuum, mit dem denkenden und wollenden Subjecte zu beschäftigen. Diese Geister verrannten sich jedoch so sehr in ihre eigene Subjectivität, daß sie dadurch das Ideal des einzelnen Menschen, die wahre Individualität, verloren. Selbst die folgen den großen Philosophe konnten nicht die allgemeine Auffassung der Individualität aufgeben und dem einzelnen Menschen seine vollen Rechte zugestehen. Selbst Aristoteles räumt dem Hausherrn das Recht ein, über die Sclaven despotisch, über das Weib nach Art der Archon- ten, über die Kinder in der Weise eines wohlwollenden Regenten zu herrschen. Polit. I. c. 4).

Frei von Vorurtheilen ist das wahre, unangekränkelte Judenthum. Grenzenlos ist das Maß von Liebe, das in der heiligen Schrift jedem Menschen ohne Ausnahme vorgeschrieben wird. Da wird das Naturrecht geheiligt, da gilt das Individuum ohne Unterschied. Auf dieser edlen Grundlage sehen wir in der ganzen jüdischen Literatur die Geister der idealen inneren Vollendung zustreben. In der ausgebildeten Individualität sucht das Judenthum die Größe und die Macht der Gesammtheit, in der Freiheit des Einzelnen die der Gesellschaft, in dem Willen des Einzelnen den des Menschen überhaupt. Wie im Brennpunkte alle Strahlen sich vereinigen und im reellen Bilde die lautere Wahrheit sich bespiegelt, so sammelt sich im jüdischen Ideale das Einzelne zur Gesammtheit, da findet sich in der Einheit das Mannigfaltige das Verschiedene, die Individualitäten. „Mache deinen Willen zu seinem Willen (des Ideales) damit er seinen Willen zu dem deinen mache; zerstöre deinen Willen seinem Willen gegenüber damit es den Willen Anderer dem deinen unterordne“ – sagt ein weiser jüdischer Lehrer. Welche Riesenfortschritte müßte das Erziehungswesen machen, welche gewaltige Umwälzungen müßte das geistige Leben unserer Völker hinter sich haben, ehe dieser großartige Gedanke des alten jüdischen Weisen das Gleichgewicht unter den Culturgeschichten herstellen könnte! Nur ein wahrhaft gebildeter Mensch, nur ein freies Gemüth, nur hochsinnige Seelen nur können ihre Lebensgeister, ihre Gedanken so meistern, daß sie ihre Ueberzeugung jeder besseren und edleren unterordnen. Wo der Weg vom Guten zum Besseren, vom Schönen zum Erhabenen führt, da wetteifern die menschlichen Kräfte, da wird um das höhere Ziel gerungen, da greift alles harmonisch in einander, da ist das Saitenspiel der verschiedenen Herzen richtig gestimmt. Wie verschieden auch der Pulsschlag des Einzelnen tönen mag, im großen Ganzen stimmen sie zusammen. Nur gut und frei erzogene Individualitäten kennen keine Gegensätze, keine Widersprüche. Da ist jeder groß und mächtig für sich, ein Mikrokosmos, eine Nachbarwelt in der großen Welt; „Du nennst dich einen Theil und stehst doch ganz vor mir“, wie Faust sagt.

(Fortsetzung folgt.)

 

 

Ausgabe 10 vom 10.03.1882, S. 82f 

II.

Xenophanes aus Kolophon, das Haupt der Eleatischen Schule (569 v. Chr.) soll bereits – wie der Sillograph Timon (bei Sext. Empir. hypotyp. Pyrrh. I. 224) behauptet – gesagt haben: „Wohin ich meinen Blick richte, löst sich mir Alles in eine Einheit auf.“ Welche Bedeutung wird nicht diesem einfachen Ausspruche beigelegt! Xenophanes ist der erste Metaphysiker geworden. Trotzdem läßt sich aus diesem Ausspruche nicht ersehen, wie er die Einheit aufgefaßt habe. Immerhin war dieser Gedanke in der Geschichte der griechischen Philosophie neu und hat auch derselben eine andere Richtung gegeben. Parmenides aus Elea, sein Nachfolger, hat diesen Gedanken von Neuem aufgenommen und begrifflich aufgefaßt: „Was gedacht wird ist, alles Andere ist nicht“; (Plot. Enn. V. 1, 8.) „und dieses Seiende ist ein einheitliches Ganzes“. (Simpl. zur Phys. Fol. 31 a, b). Somit war die ideale Auffassung der Wirklichkeit in die Geschichte der Philosophie eingeführt, und Plato hat durch seine Ideenlehre dieser Richtung einen sicheren Platz angewiesen.

Sowie wir das Gedachte als das Seiende hinstellen, als Einheit fixiren, erhält der Gedanke eine freie selbstständige Existenz; er wird ein Objekt. Eine solche Selbständigkeit hat Parmenides dem Weltgedanken eingeräumt und Plato hat diesen Gedanken seinem Inhalte nach gegliedert und die geistige Welt mit Ideen bevölkert, an deren Spitze seine oberste Idee, die des Guten steht. Jeder selbständige Gedanke ignorirt die Selbstständigkeit des denkenden Subjektes. Wenn das Subjekt, der Mensch, das denkt, was er selbst fühlt und empfindet, dann ist der Gedanke der Ausdruck seines inneren Wesens und besitzt keine selbständige Existenz. Nur solche Menschen denken frei, und sind frei. Jene oben genannten großen Philosophen und Denker haben sich auch in der That um so mehr von der lautern Sprache des Herzens, der reinsten Lebensquelle, aus der der Gedankenstrom fließt, entfernt, je mehr sie sich vom selbständigen Gedanken leiten ließen. Selbst die Neuplatoniker bemühen sich vergebens um die oberste Idee, die Einheit (hèn) in den Geist des alten Testaments hinein zu tragen, deren Echod, dieses Eine, in jedem einzelnen Wesen ein ideales Leben repräsentirt. Dieses Echod ist der subjective Weltgedanke, die Idee der Ideen, die unsichtbare Welt der passiven Natur, die werden will, um zu sein; es ist ein Gemeinsames der verschiedenen Individualitäten, das gemeinsame Ich der Menschheit, ein Begriff, in dessen Umfange die anderen Begriffe liegen.

Das alttestamentliche Echod hat nichts mit dem „Sein“, „Schein“ und „Nichtsein“, auch nicht mit dem „Nichts“ und dem „Ichts“ – wie Hegel das „Eine“ (hèn) und das „Nichts“ (medèn) übersetzt – gemein und läßt sich auch nicht mit dem „Einen“ (hèn) und dem „Vielen“ (panta) vereinigen. Das Echod des alten Testamentes leibt und lebt in jedem Herzen, es versinnlicht uns eine Stimme in unserem Innern, einen Ton, der jede Seele erhebt, der in jedem natürlichen Gefühlsstrome sich offenbart; dies Echod ist das ideale Ich der Menschheit. Im brennenden Dornbusch hat es sich in einer Feuersäule, die nicht versengt und verzehrt, sondern weckt und belebt, die erhaben stimmt, dem Moses als das gemeinsame Ich der Menschheit gezeigt (B. II. C. 3 V. 6) 

„Ich bin der Gott deines Vaters Abraham, der Gott Isaks und der Gott Jakobs, (daselbst V. 14). „Ich bin, der Ich war, der Ich sein werde“. Lesen wir das erste Gebot, so finden wir auch gleich an der Spitze dieses Ich. „Ich bin der Ewige dein Gott, der dich aus Egypten herausgeführt hat, aus dem Hause der Sklaven“. Regt sich nicht in jedem Herzen ein wunderbares Gefühl, eine Stimme unseres eigenen Ich’s, so oft das biblische Ich zu uns spricht? Das sind menschliche Gefühle, die erwachen, die wir denken und vergeistigen. Vergleichen wir solche Gefühle mit denen des Freundes, des Nebenmenschen und wir finden, daß sie sich ähnlich sind. Sind derartige Gefühle nicht Lebenserscheinungen, die in der menschlichen Brust verschlossen liegen, die mit jedem neuen Geschlechte neugeboren werden, die sich immer wieder verjüngen? Dieses Echod ist das wahre Ich, das ideale Ich der Menschheit, für das noch nicht alle unsere Völker reif sind. Noch liegt ein eisiger Panzer um die menschliche Brust, noch nicht hat die wahre Bildung den innern Kern der menschlichen bessern Natur befreit, noch sperren uralte Traditionen, die als Gedanke mit selbstständiger Existenz die freie innere Ueberzeugung tyrannisiren, den Gefühlsstrom des freien Lebens ab, noch dressirt der Gedankenmechanismus den freigeborenen Menschen. Die Individualität liegt verschlossen, und wo sich die Herzen nicht verstehen, da können die Geister sich nicht vereinigen. So muß das ideale Ich, dieses uralte Echod, das noch ist, was es war und was es sein wird, in die menschliche Natur sich zurückziehen und warten, bis die bessere Erziehung das verborgene, unsichtbare, ideale Wesen befreien wird.

(Fortsetzung folgt.)

 

 

* Herr Waldeck hat sich durch seine in Leipzig erschienenen Schriften: „Grundzüge der wissenschaftlichen Pädagogik“ „Dynamik des Geistes“, „Gedanken über den Idealismus der Arbeit“und andere Arbeiten einen sehr geach- teten Namen gemacht und wir hoffen in der Folge mehrere Aufsätze aus seiner Feder in unseren Blättern bringen zu können. – Die Redaction. 

 

In: Menorah, H. 6-7, 1928, S. 331-333 

 ➥ Zur Biographie: Waldmann Josef

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➥ Zur Biographie: Wegener Armin

In: Menorah, H. 11-12/1931, S. 534-541

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➥ Zur Biographie: Leopold Weisel

In: Sippurim, eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden aller Jahrhunderte, insbesondere des Mittelalters. 1. Sammlung. Hg. von Wolf Pascheles. 3. Aufl. Prag 1864, S. 51-52

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➥ Zur Biographie: Leopold Weisel

In: Sippurim, eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden aller Jahrhunderte, insbesondere des Mittelalters. 1. Sammlung. Hg. von Wolf Pascheles. 3. Aufl. Prag 1864, S. 40-50

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➥ Zur Biographie: Felix Weltsch

In: Selbstwehr, 25. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 09.01.1931, S. 3f

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In der letzten Zeit sind zwei Publikationen der Wizo erschienen, welche es durchaus verdienen, aus dem besonderen Kreise der Wizo-Interessierten herausgehoben und der allgemeinen zionistischen Welt bekannt gemacht zu werden, so daß wir diese Frauenpublikationen mit Absicht diesmal hier in der Männerabteilung besprechen. Es ist dies die von Martha Hofmann herausgegebene Festschrift anläßlich des zehnjährigen Bestandes der Wizo (Titel: Zehn Jahre Wizo“) und die Broschüre „Bemerkungen zur Organisation und Propaganda“ von Mirjam Scheuer (herausgegeben von der tschechoslowakischen Wizo.*

Die Festschrift gibt ein äußerst lebendiges Bild dessen, was die Wizo bisher geleistet hat, aber auch ein Bild dessen, was dies für unsere zionistische Frauen bedeutet; diese beiden Funktionen stehen miteinander in engster Beziehung. Denn eine Arbeit bedeutet einem nicht nur mehr, je mehr man leistet, sondern man leistet auch mehr, je mehr sie einem bedeutet. Diese beiden Elemente des Schöpferischen, das äußere Werk und die innere Wandlung, kann man gerade hier in den einzelnen Aufsätzen dieser Festschrift unschwer finden. Auf Einzelheiten kann hier nicht ein- gegangen werden vom Reichtum dieses Werkchens gibt wohl am besten das Inhaltsverzeichnis eine Vorstellung, das wir hier folgen lassen:

1. Begrüßungen von Dr. Chaim Weizmann, „Hadassah“ (Zip. F. Szold), Lady Herbert Samuel, Lady John Simon, Blanche C. Dugdale, Karin Michaelis, Dr. Alice Masaryk. 2. Zum Geleit. Die Herausgeberin: „Das zehnte Jahr der Wizo“. 3. Werden und Werk der Weltorganisation. Rebekka Sieff: Die Wizo und ihre Gründerinnen; Romana Goodman: Die Entwicklung der Wizo bis zur Gegenwart; M. Marks und V. Weizmann: Die finanzielle Entwicklung der Wizo. 4. Das Wizo-Werk in Palästina. W. P. E.: Hauswirtschaftliche Erziehung; Chana Maisel-Schochat: Nahalal; Ada Fishman: Neß-Zionah; H. Ben-Barak: Akuleh; Henriette Irwell: Neun Jahre Säuglingspflege: Dr. Theodor Zlocisti: Das Jemenitencentre. 5. Frauenprobleme aus Palästina. Rose Ginzberg: Die rechtliche Stellung der Frau in Palästina; Helene Hanna Thon: Mutter und Kind in Palästina. 6. Die innere Entwicklung der Wizo. Nadja Stein: Aus unsern Anfängen; Hanna Steiner: Neue Solidarität; Mirjam Scheuer: Zukunft der Propaganda; Nanny Margulies: Harmonie in Werbung und Arbeit. 7. Die Frau und die jüdische Kultur. Elke Hofmann: Das jüdische Kunstgewerbe im Reiche der jüdischen Frau; Lotte Hanemann: Jüdisches Kunstgewerbe in Palästina; Alice Jacob-Löwenson: Die jüdische Mu- sik und die Rolle der Frau; Irma Singer: Märchen aus dem Galil; Martha Hofmann: Ziel.*

Wir haben in diesen Blättern stets die Ansicht vertreten, daß die weitere Entwicklung der zionistischen Bewegung – sowohl was ihre Leistung als auch ihren ideologischen Ausbau betrifft – nicht auf dem Wege der Inzucht, also eines konservativen Sichselbstgenügens und Abgeschlossenseins, erfolgen kann, sondern nur auf dem Wege der Synthese mit anderen Elementen der menschlichen Kultur, also auf dem Wege des Offenstehens und der Aufnahmesbereitschaft neuen Impulsen gegenüber. Es ist schon genug oft hervorgehoben worden, daß auf diese Weise die wichtigsten Entwicklungsschritte der zionistischen Bewegung gemacht worden sind, wie zum Beispiel die für den Aufbau von Erez Israel so bedeutsame zionistisch-sozialistische Bewegung (entstanden durch Synthese von Zionismus und Sozialismus), oder etwa der Makkabi und der jüdische Sport, entstanden aus der Verschmelzung von Zionismus und moderner Körperkultur, usw.: wenn man will, kann man sogar unschwer die zionistische Fraktionsbildung ähnlich erklären.

Nicht anders ist es mit der Wizo. Sie ist aus der Synthese von Zionismus und moderner Frauenbewegung entstanden; und auch hier ist, wie bei jeder schöpferischen Synthese, das Resultat nicht etwa bloß eine mechanische Summe dieser beiden Richtungen, sondern etwas Neues, eine Bewegung eigener Art.

Was ist das Besondere, das die Frauen als einheitliche, ihrer Eignung bewußte Arbeitsgruppe in das zionistische Werk gebracht haben?

Nur zwei Elemente will ich hier hervorheben: ein fachliches und ein methodisches. Das Sachliche liegt in der Bevorzugung ganz bestimmter Arbeitsgebiete, welche den Frauen zugänglicher und näher sind als den Männern: Mädchenerziehung, Mutterhilfe, Säuglingspflege, Kinderfürsorge, Pflegewesen überhaupt (es ist bezeichnend, daß das hochentwickelte Sanitätswesen Palästinas zum großen Teil auf weibliche Initiative zurückzuführen ist). Das Methodische liegt in der besonderen Art weiblicher Arbeit überhaupt, welche den Dingen unmittelbarer zugewendet, also konkreter ist als die männliche. Die Arbeit der Frauen ist vielleicht nicht so systematisch, wie die männliche, aber sie ist dafür wirklichkeitsnäher; sie ist nicht so weitblickend, aber sie ist oft tiefer blickend. So haben sich denn auch die zionistischen Frauen für ihre Arbeit den richtigen Weg gewählt; sie haben einzelne wichtige Institutionen geschaffen und in ihre Obsorge genommen, und haben sie tatsächlich zu Musterinstituten entwickelt.

Trotzdem scheint mir der wesentliche Beitrag der zionistischen Frauen zur zionistischen Arbeit nicht in dieser psychologischen Spezifität der Frauenarbeit zu liegen, sondern in einem weit formaleren Element; um es vorweg zu sagen: Durch die bewußte zionistische Frauenarbeit ist eine neue „Wir-Funktion“ mit besonders günstigen Voraussetzungen positiver Betätigung geschaffen worden.

Was bedeutet diese Formel?

Es ist leicht einzusehen, daß die wichtigsten Gemeinschaftsleistungen durch Bildung neuer „Wir-Funktionen“ hervorgebracht werden. Eine Anzahl von Menschen fühlt sich plötzlich, auf Grund gemeinsamer Ideen oder Ziele, oder auch nur auf Grund eines gemeinsamen Schlagwortes als ein neues „Wir“, mit neuen besonderen Aufgaben und neuen Kräften. Dieses „Wir“ erhält bald das Bewußtsein seines Wertes, seiner Unersetzlichkeit, seiner Auserwähltheit und strebt, diesen Wert zu bewähren und zu erhöhen. An diesem Wert des „Wir“ ist jedes einzelne „Ich“ dieses „Wir“ mit seinem Wesen beteiligt und empfindet jede Wertsteigerung des Wir als eigene Werterhöhung. Ein jedes Ich dieses Wir ist stolz auf das Wir, und aus diesem seinem Wir-Bewußtsein wächst seine Kraft zu arbeiten, zu leisten, ja selbst zu opfern. Aus der Fülle seines Wir-Wertgefühls lernt das „Ich“ individuelle Nachteile auf sich zu nehmen zugunsten von Vorteilen des „Wir“. Darauf aber kommt es an; von dieser Fähigkeit des Individuums hängt die Gemeinschaftsarbeit ab.

So entsteht jedes Gruppenbewußtsein, das Bewußtsein der Nation, der religiösen Gemeinschaft, der Partei, der Fraktion.

So ist es auch mit den Frauen. Die Wizo hat ein neues zionistisches „Wir“ geschaffen, mit neuen Kräften, mit neuen Fähigkeiten der Selbsthingabe und des Opferns, der Kräftesteigerung und der schöpferischen Leistung.

Die „Wir-Funktion“ ist aber nicht nur der segensreiche Engel, als den wir sie bisher geschildert haben; sie ist auch nebenbei – ja mehr noch, man kann sagen, zumeist – ein wahrer Teufel. Denn aller Haß von Völkern und Gruppen, alles Parteihader, alle Gruppeneitelkeit, Rassenfanatismus, Antisemitismus, Krieg entstehen aus diesem „Wir“. Arnold Zweig hat die bösen Funktionen des Wir-Bewußtseins in seinem „Caliban“ eindringlich dargestellt.

Die Gefahr der Wir-Funktion liegt darin, daß das Wir die Erhöhung des eigenen Wertes auf einen Irrweg zu verwirklichen sucht; durch negative und nicht durch positive Anstrengung. Das „Wir“ entdeckt nämlich sehr rasch, daß es leichter ist, zu zerstören, statt zu bauen; und daß auf dem Wege der Zerstörung auch der Schein und die Beruhigung einer Wertsteigerung zu haben ist. Es ergibt sich nämlich, daß es der einfachste Weg ist, den Wert des „Wir“ zu erhöhen, wenn man den Wert des „Ihr“ herabsetzt. So entstehen Gruppenhaß und Gruppenfeindschaft; und das ist auch leider zu einem großen Teil die psychologische Basis der meisten Oppositionen. Es wird ein neues „Wir“ geschaffen, das vor allem erst mal sich selbst zu beweisen sucht, indem es die „Herrschenden“ herabsetzt. Das ist eine Gefahr, in welche die Technik der Demokratie verlockt, indem sie für alle Unzufriedenen die Möglichkeit schafft, durch Zusammenschluß ein neues „Wir“ zu konstituieren und sich durch Herabsetzung der andern zu einem Geltungsgefühl hinaufzuschrauben. Selbstverständlich gibt es für diese Herabsetzungen und Kämpfe genug plausible Gründe; es hat noch keine Triebhandlung gegeben, die sich nicht eine rationelle Begründung zu schaffen gewußt hätte. Man kann eben, so heißt es, erst bauen, wenn man die Hindernisse und den Schutt hinweggeräumt hat, wenn man zur Macht gekommen ist. Also, zuerst müsset „Ihr“ gestürzt sein, dann werden „Wir“ zeigen, was wir können . . .

Es scheint wirklich nicht nötig zu sein, noch mehr über die Schattenseiten der Wir-Funktion zu sagen. Dagegen ist es nun nötig, den Schluß zu ziehen: Es kommt alles darauf an, die Wir-Funktion vor dieser Verirrung ins Negative zu bewahren und sie positiv leistungsfähig zu erhalten. Und: Ein neues „Wir“ ist um so bedeutsamer und segensreicher, je weniger Anlaß und Verlockung zu bloß negativer Betätigung, zu Eifersucht, Neid und Prestigekämpfen es bietet.

Und nun sind wir wieder bei der Wizo angelangt. Hier ist ein solch glücklicher Fall gegeben. Das neue „Wir“ der zionistischen Frauen ist tatsächlich zum größten Teile positiv aufbauend; es hat sich durchaus noch in kein „Ihr“ festgebissen. Es mag vielleicht auch hier – wir sind nicht so genau orientiert – im Inneren manche kleine Kämpfe geben; aber so viel ist sicher: das neue zionistische „Frauen-Wir“ steht mit dem alten zionistischen „Männer-Wir“ durchaus in keinem Zustande der Eifersucht oder eines gehässigen Kampfes. Die zionistischen Frauen beschäftigen sich durchaus nicht damit, die Arbeit der andern zu kritisieren oder herabzusetzen; sie schaffen einfach positiv an ihrem Werk.

Diese günstigen Umstände haben ihren guten psychologischen Grund. Es gibt zwischen den Geschlechtern gewiß genug Spannungen des Hasses, der Eifersucht und der Bosheit; aber sie werden mehr im Einzelkampf abgeführt und entladen sich auf ganz andern Gebieten des Lebens als auf dem des Geltungskampfes oder des Wertwillens in der zionistischen Arbeit. So ist hier also der äußerst erfreuliche Fall eingetreten, daß ein neues Wir entstanden ist, welches ohne Haß und ohne böse Nörgelei gegen die andern arbeitenden „Ihr“ zu wirken vermag. Es ist ein gesunder Wettbewerb. Und die Früchte sind nicht nur in Palästina zu sehen, wo die von den Frauen begründeten und betreuten Anstalten zu den besten Leistungen unseres Aufbauwerkes gehören, sondern auch bei den zionistischen Frauen selbst, die durch ihre Arbeit ihre Eigenart als Frauen und Gatten zur schönsten Entfaltung zu bringen vermögen.

* Wir kommen auf diese Schrift in einer der nächsten Nummern zurück.

➥ Zur Biographie: Felix Weltsch

In: Selbstwehr, 14. Jahrgang, Ausgabe 24 vom 11.06.1920, S. 2f

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Es ist für Juden, denen das Judentum freudig ergriffenes Schicksal ist, schwer, diesem Drama Arnold Zweigs gegenüber objektiv zu bleiben. Denn wir sind mit unserem ganzen Sein daran beteiligt, mit den Wunden und Qualen unseres Lebens in der Galuth, und mit den Gedanken und Gefühlen unserer höchsten Erhebung.

Das Drama hat einen großen Vorwurf; den größten beinahe, den wir uns denken können. Es ist die dramatisierte jüdische Theodicee; die jüdische Rechtfertigung Gottes für alles Böse, das mit seinem Willen in der Welt ist. Ja, es geht über diese Theodicee noch hinaus; es wagt sich an die letzte und anmaßendste Frage aller Religionen: Warum hat Gott – nicht nur das Böse, sondern überhaupt das Mangelhafte, Nichtvollendete, kurz, das „Werden“, das dem absoluten göttlichen Sein gegenüber ja immer unfertig, irdisch, mangelhaft ist, geschaffen? Wozu hat es Gott notwendig, aus den unausdenkbar glücklichen Höhen seines unendlichen vollkommenen Seins sich in das fragwürdige Abenteuer des Werdens zu stürzen, die Welt voller Materie und den Menschen voller Zweifel und Sünden zu schaffen?

Die „Stimme des Herrn“ gibt Antwort auf diese Fragen: „Welt ist mein Weg zu mir, und der Mensch ist der Weg der Welt zu mir.“ „Die Zeit erfüllen kann nur der Mensch. Die Seelen der Menschen tragen meine Einung in sich, die Seele meines Volkes bringt meinen Gesalbten herauf, meinen Erlöser. Maschiach kommt. Die Schechina kehrt heim, ich werde eins sein mit meiner Glorie.“

Darum also das „Werden“. Der ganze unselige Prozeß der Zeit ist notwendig, damit Gott erhöht werde, die herumirrende Herrlichkeit Gottes sich mit Gott wieder eine. Darum das Unvollendete, der Kampf und alles Wagnis der Neuschöpfung; darum das Böse: damit die Wahl sei; damit, wie Baalschem am Schlusse sagt, „die Seelen entbrennen, die Herzen erschüttert und die Funken gehoben werden.“

Und darum auch das Böseste des Bösen: Die Ritualmordlüge, das Blutmärchen, das über die Häupter Israels gebracht wird, und das hier – das ist die irdische Handlung des Stückes – in seiner ganzen Kraßheit sich abspielt, angelehnt an die historischen Vorgänge des Prozesses von Tisza-Eszlár, die Ritualmordaffäre von Ungarn.

Der Gutsbesitzer Onody vergewaltigt ein Landmädchen und tötet es dabei unversehens. Als das Mädchen vermißt wird, kommt unter der Bevölkerung das Ritualmordmärchen auf. Es wird von der antisemitischen Partei unterstützt, welche in dem Untersuchungsrichter Bary ein ehrgeiziges und hinlänglich beschränktes Werkzeug findet. Um einen Beweis zu haben, läßt Bary den Sohn des Schames, Moritz Scharf, so lange abwechselnd foltern und mästen, bis seine sittliche Kraft zerbricht und er aus der Phantasie den Ritualmord schildert. Prozeß; Gerichtsverhandlung.

Alles wütet gegen die Juden. Nur drei Personen nicht; der Gendarm, ein Deutscher, ein redlicher und fortschrittlicher Mann, der korrekte Richter und der gerechte und menschliche Staatsanwalt. Der findet auch die salomonische Lösung. Ein Lokalaugenschein lehrt, daß durch das Schlüsselloch, durch welches Moritz Scharf alles gesehen haben will, nichts gesehen werden kann. Freispruch. Bary erschießt sich. Moritz Scharf sieht, wohin er geraten ist, bereut und tötet sich. Semael, der Teufel, ist wieder einmal unterlegen. Ein Schritt weiter zum Maschiach ist getan.

Es wird, wie gesagt, schwer, an dieses Stück den kritischen Maßstab anzulegen. Und es ist wahrscheinlich auch Arnold Zweig, als er es schuf, schwer gewesen, sich in künstlerischer Zucht zu halten. So muß man denn sagen, daß das Drama in seiner Gestaltung hinter der Größe seines Vorwurfs zurückbleibt.

Sein Fehler ist – ganz kraß ausgedrückt: Er hat zu viel von einem Rechenexempel in sich. Es geht durchaus auf. Die Stimme Gottes offenbart in wundervollen, an den Quellen unserer jüdischen Mystik geschöpften Worten ein – Programm, das im Stück restlos durchgeführt wird. Die- ses göttliche Programm – irgendwo von der Gallerie her von Bogyausky gesprochen, blieb – so sehr es auch unsere tiefsten religiösen Gedanken verkündete – als „Theater“ wirkungslos.

Klar gefügt – beinahe geometrisch – ist das irdische Geschehen: Das dumme Volk; der unwahrscheinlich beschränkte oder unwahrscheinlich böse Untersuchungsrichter; die ganz schwarzen Onody und Istoczy; der biedere deutsche Gendarm; der gute Staatsanwalt; in der Mitte des Stückes Moritz Scharf, von dessen moralischer Elastizität alles abhängt; schließlich die vollkommene Lösung durch die Schlüssellochgeschichte. Die Bösewichter gehen zugrunde. – Das Exempel geht auf; es bleibt kein Rest; nicht auf Erden, nicht im Himmel und nicht in der Hölle.

Ist diese geometrische Deutlichkeit ein Fehler?

Kunst ist Schöpfung neuen Lebens. Das Geschehen im Drama muß die Zeichen wahren Lebens tragen. Kristallklarheit des Geschehens gehört aber nicht zu diesen Zeichen. Im Leben bleiben Reste. Sie sind sogar Antrieb zu weiterem Leben. Im Leben schillert alles ein wenig; es ist alles ein bißchen verwirrt.

Das alles wußte Arnold Zweig natürlich auch. Er hat sich nur nicht darum gekümmert; vielleicht hat er diese scharfe Deutlichkeit sogar gewollt, – als Kunstmittel gleichsam: Expressionismus der Charaktere und der Handlung. Dann kann nur die dramatische Wirkung Kriterium des Gelingens sein. Und diese war nicht ganz überzeugend. Man war tief erschüttert und ergriffen; aber man fühlte sich doch nicht inmitten des Geschehens, blieb irgendwie draußen. Trotz aller Leidenschaft, trotz vieler wunderbarer dichterischer Stellen blieb ein kaltes Medium zwischen Stück und Zuschauer. Diese eigenartige Wirkung wurde noch durch die Ausstattung betont, die gerade diese Seite des Stückes allzugut verstand und die Geometrie der Handlung durch die Geometrie der Häuser und Synagogen unterstrich. Mit dieser Stilisierung stand freilich das naturalistische Gehaben der Personen in einem gewissen Widerspruch. Vielen in der Ausstattung schien überflüssig spielerisch. Der Gedanke an die Wichtigkeit des Schlüsselloches war bei den Säge- oder Korkziehertüren etwas peinlich.

Die Aufführung selbst gehörte zu den besten Leistungen unseres Ensembles. Es war ein gelungenes Werk des Regisseurs Pabst. Am Zusammenspiel, an der Disziplin der Schauspieler merkte man die künstlerische, zielbewußte Führung und gute Probenarbeit – eine wesentliche Besserung in der letzthin in der „Selbstwehr“ von Max Brod bemängelten Vorbereitung literarischer Stücke. Die Schauspieler boten beinahe durchwegs Zufriedenstellendes. Hervorzuheben ist in erster Reihe Soltau, der einen sehr glücklichen Abend hatte; ebenso Hölzlin, Raabe und Schütz, der schön sprach und auch gut aussah, wenn er auch mit seinem Krummstab mehr an den heiligen Nikolo als an den Propheten Elijahu gemahnte.

Das Publikum war sehr bei der Sache und dankte am Schluß begeistert allen Mitwirkenden, insbesondere dem Regisseur Pabst.

➥ Zur Biographie: Felix Weltsch

In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 21 vom 22.05.1925, S. 2

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Kunst ist Gefühlsgestaltung; im weitesten Sinne stets Expressionismus; Gestaltung der tiefsten Schicht der menschlichen Seele in einem bestimmten Material, in Worten, Tönen, Geschehnissen, Farben, Bewegungen. In dieses Material werden die Gefühle transponiert, sie werden gleichsam abgebildet, in Wahrheit neu gebildet, denn durch die Gestalt werden sie erst eine Einheit, ein Ganzes, unteilbar, gemeinsame, soziale Wirklichkeit.

Zwei Urkräfte sind am Werk: die primäre Kraft des Erlebens, die Intensität des Gefühls, die zum Ausdruck drängt, ins Weite geht, auseinanderzuströmen droht, und die Gegenkraft des Einheitsstrebens, welche formt, Ganzheit schafft und so den Ausdruck erst ermöglicht. Aus dem Kampfe der beiden Gegenkräfte, der Ausdrucksbegierde, dem Ausdruckstaumel und dem formenden, hemmenden, herrschsüchtigen Einheitswillen entsteht erst die Kunstgestalt.

Es sind Gegenkräfte; aber die eine kann ohne die andere nicht leben. Sie bekämpfen einander und sie brauchen einander. Ja schließlich ist jede eigentliches Betätigungsmaterial der anderen. Die Formtendenz ist die Gegenkraft, in welcher der Ausdruckswille seine Kraft erprobt, sie ist der Widerstand, den er bracht, wenn er Wirklichkeit werden will. Die Intensität des Erlebnisses müßte verpuffen, wenn sie sich nicht die Gegenkraft des Form- und Einheitswillens willig-unwillig schüfe; und der Einheitswille wäre eine starre, leere und schwächliche Tendenz, wenn er nicht vom Ausdruckswillen stets bedroht und gespannt würde.

Diese beiden Urkräfte befinden sich nicht in stetem Gleichgewicht. Es gibt Menschen, Völker und Kunstperioden, wo die Ausdruckstendenz stärker ist und solche, wo der Formwille mächtiger ist. Keine der beiden Kräfte darf fehlen, wenn Kunst werden soll, aber ein kleines Mehr oder Minder kann es geben. Und so entsteht, wo der Formwille überwiegt, die klassische, die naive, die objektive Kunst, die Kunst des edlen Maßes und der beherrschenden Form, und auf der anderen Seite die sentimentale, romantische, expressionistische, aber auch impressionistische Kunst, wo die Ausdrucksbegierde den Formwillen überwältigt.

*

Es ist gewiß keine leichte Aufgabe, zu entscheiden, ob man überhaupt von einer spezifisch jüdischen Kunst reden darf und zu erfassen, was das Spezifische an ihr ist. Wollte man aber bloß eine beiläufige Einreihung in die beiden Grundkategorien versuchen, so liegt es so ziemlich auf der Hand, die Juden zu den Expressionisten im weitesten Sinne zu rechnen – etwa im Gegensatze zu den Griechen, welche die Formkünstler par excellence waren. Nicht maßvoll, nicht edel, nicht zierlich ist die jüdische Kunst, wo man ihr spezifisch begegnet, sondern bewegt, gewagt, stark, zum Aeußersten strebend, exzentrisch, phantastisch.

*

Es ist hier nicht der Ort, die Gedanken gründlicher und weiter auszuführen. Sie sollten nur eine allgemeine Einleitung zu folgenden zwei Notizen sein. Wenn wir hier zwei Künstler aus ganz verschiednen Gebieten und von verschiedenem Niveau nacheinander besprechen, so ist es gerade jenes Gemeinsame, zu dessen Erfassung wir vorstehende Zeilen schrieben.

*

In der Kunstausstellung im Parlamentsgebäude stellt der jüdische palästinensische Maler Abel Pann seine Werke aus. Wir haben bereits zweimal über dieses Ereignis, das immerhin in der Prager jüdischen Welt weit mehr Interesse finden sollte, als dies der Fall ist, berichtet. Betrachtet man die große Reihe der Pannschen Pastelle zur Bibel, so merkt man gleich: das ist nicht die Malerei, die heute Mode ist; aber es ist auch nicht die Malerei, die an der Stelle steht, wo heute in der Malkunst um neue Wege des Ausdrucks gerungen wird. Sie schließt offenbar an eine Zeit und an eine Praxis an, die heute als längst überwunden gilt. Und doch sieht man in diesen Bildern eine ungeheuere Kraft des Ausdrucks. Man kann die Bilder als literarische Malerei klassifizieren. Ihr Ausdrucksmittel ist nicht so sehr der Raum und die Raumform als Handlung und Geschehen. Für die heutige Malerei ist das Sujet ein bloß neutraler Vermittler zwischen Gefühl und Raumgestaltung; hier nimmt es eine beherrschende Stellung ein; hier ist es Hauptmittel der Gestaltung. Vielleicht fühlt dies mancher heute als eine Mischkategorie, als eine Zwischenstufe zwischen Literatur und Malerei; ein Einwand gegen Panns Kunst scheint mir das nicht zu sein. Sein Hauptausdrucksmittel ist die Farbe; und ist dies hemmungslos, wahrhaftig nicht maßvoll, überströmend und unbedenklich. Es ist ungeheuer viel Leben in diesen Farbensymphonien um Bibelzitate herum; die Bilder machen irgendwie nicht ganz den Eindruck des Bleibenden, Festen, sondern des Hinübergehenden, Weiterdrängenden. Rudolf Fuchs hat in einer kritischen Betrachtung den Vorwurf gemacht, daß diese Bilder nicht für sich allein bestehen könnten, daß sie nicht Bilder, sondern Illustrationen seien. Vielleicht: doch sag’ ich nicht, daß dies ein Fehler sei. Ich möchte noch weitergehen: Nicht nur, daß die Bilder zu ihrer vollen Existenz die Bibel brauchen; sie brauchen auch einander selbst. Sie werden durch ihre Geschwister erhöht und vervollständigt. Große Kunst im besten Sinne ist nicht so sehr das einzelne Bild, als das ganze Malunternehmen, wie es uns die Ausstellung – imponierend und doch noch lange nicht vollendet – zeigt: ein Gesamtillustrationswerk der Bibel, ein farbiger Phantasietraum von der Bibel.

*

Zwei jüdische Tänzerinnen, Grtrud Kraus und Guilp. Delp, veranstalteten in der vorigen Woche einen eigenen Tanzabend, in dem sie ihre Kunst zu zeigen versuchten. Tanz – als Kunst – ist Aus- druckskunst im stärksten Sinn. Seine Ausdrucksmittel sind die Bewegungen des eigenen Körpers.– Und auch hier gilt von Form und Ausdruck, und von jüdischer Kunst das, was einleitend gesagt worden ist

Gertrud Kraus ist eine jüdische Tänzerin. Sie ist aus dem Wiener Makkabi hervorgegangen. Was sie – und ihre Partnerin leistet – ist wahre Kunst und man kann es vielleicht trotz aller Bedenken sagen, – jüdische Kunst. Denn auch hier ist eine heftige Begierde des Ausdrucks zu verspüren, welche die in der Tanzkunst vielleicht allzu starren Formen sprengt und neue phantastische Wege sucht. Die Tanzkunst ist heute noch keine selbständige Kunst; sie ist verschwistert mit der Musik, lehnt sich an die Musik an und wagt nur Gefühle auszudrücken, welche bereits durch die Musik eine Form gewonnen haben. Die Intimität, mit der sich die Tänzerinnen an die musikalische Form anschmiegten, sowie der Versuch, durch diesen engsten Anschluß an die Musik neue Formen der Tanzexpression zu finden, boten einen wahren Kunstgenuß; – der freilich nur einer kleinen Schar von Anwesenden zugute kam. Eine Tanzvorführung jüdischer Tänzerinnen um 6 Uhr in der Alhambra ist für das Prager Publikum eine ungewohnte Sache. Und zu ungewohnten Darbietungen hat das Prager Publikum kein Vertrauen. Hier war’s mit Unrecht.

 ➥ Zur Biographie: Robert Weltsch

Aus: Jüdischer Rundschau, Nr. 25/26, 39. Jahrgang

Berlin, Mittwoch, den 28. März 1934, S. 3.

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Zwischen alter und neuer Welt

RW, An Bord der „Mariette Pacha“, 7. März

Je weiter sich das Schiff von der Küste Europas entfernt, um so mehr gewinnen wir Abstand von dem Aufruhr der Gefühle, in welchem ein Jude in Europa jetzt lebt. Die Judenfrage ist im letzten Jahr aufgerollt worden wie nie zuvor; das Schicksal der Juden ist als eine der großen weltgeschichtlichen Tragödien der letzten zwei Jahrtausende erkannt worden – eine Erkenntnis, die durch viele Jahre der geistigen „Prosperity“ verborgen war, als man öffentlich kaum ernsthaft vom Lose der Juden sprach; die Juden selbst waren die letzten, die solche Erörterung gewünscht hätten, obwohl sie ja wußten, daß sie auf schwankem Boden stehen. Heute aber ist es nicht zu verdecken, und wir wissen nicht, ob wir erst am Anfang der großen Auseinandersetzung stehen oder ob wieder ein geistiger Ruhezustand eintreten wird. Wer weiß denn heute überhaupt, wie diese Welt und dieses von inneren Krisen heimgesuchte Europa die nächsten Jahre bestehen wird; die jüdische Erschütterung ist ja nur eine Seite einer Umwälzung, die weit größere Dimensionen hat; im jüdischen Leben spiegeln sich stets die Vorgänge der Umwelt in besonders empfindlichem Maße. Und nun steht in einer besonders eigenartigen Weise auch das Judentum am Scheidewege. Denn das jüdische Volk ist dereinst in Palästina geformt worden; von dort aus hat auch die übrige abendländische Welt ihre entscheidende kulturelle Prägung erhalten. Das Judentum hat die Ethik der „10 Worte“ und die Lehre von Gut und Böse zum Gesetz erhoben, und wenn heute mancherorts diese Grundlagen abendländischer Weltanschauung umkämpft werden, wenn eine ernste Auseinandersetzung um Lebensrichtung und Glauben ganze Völker ergreift, so ist das für uns Juden ein entscheidender Moment unserer Existenz. Es geht hier nicht um Politik und nicht um Wirtschaft, und das Bekenntnis zu Palästina, dem zentralen Ort dreier Religionen, ist für uns Juden heute eine stärkere Bindung, als in den ersten Anfängen der neupalästinensischen (zionistischen) Bewegung angenommen wurde. Wo stehen wir? Wohin steuern wir? Welche ewigen Werte erkennen wir an?

Unwiderstehlich ist die Gewalt der Idee, die sich mit diesem Lande verknüpft.

Tausende sind dafür gestorben, in Geschichte und Mythos ist diese Kraft wirksam. Und längst, bevor es einen „politischen“ Zionismus gab, war die „Zionsliebe“ in den Herzen lebendig. Sie hat im Mittelalter Jehuda Halevi, den großen Dichter, nach Palästina getrieben und ihn bei der Landung niederfallen und den Boden küssen lassen. So etwas vergißt ein Volk nicht, und was wunder, daß ein kleiner jüdischer Junge aus einer rumänischen Stadt, selbst stark jüdisch und künstlerisch erregt, mir zur Abreise auf das Schiff einen Brief schrieb, der an jene Liebe Jehuda Halevis erinnert. Denn „stärker ist die Liebe als der Tod“…

Das ist Zion, Palästina, das Land, dem unser Schiff zusteuert.

Jeder auf dem Schiff fühlt etwas davon. Man kennt aus den letzten Jahren viele Beschreibungen von Palästinareisen, Impressionen, die stets mit der Schilderung der Schiffsreise beginnen. Und in der Tat, man muß den „Mut zur Banalität“ haben: diese Gemeinschaft von reisenden Juden aus aller Herren Länder, die einem Ziel zustreben, hat etwas Packendes. Immer sind ein paar Originale und Sonderlinge darunter, immer auch seltsame Schicksale; man findet in solchen lebendigen Einzelschicksalen oft mehr von dem Wesen der jüdischen Frage als in so mancher gelehrten Erörterung. All diese Menschen sind erwartungsvoll und wohl auch etwas bange. Etwas Neues liegt vor ihnen. Auch mit uns fahren – neben den „Touristen“ – eine Anzahl von Juden, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben und nun ihre neue Zukunft zu bauen haben, in der Mitte des Lebens, nicht mehr in voller Jugendfrische, neuen Bedingungen entgegen. Juden aus Deutschland sind dabei, meist stille bescheidene Menschen, die den Ernst ihres Entschlusses empfinden. Das ist ein typisches Bild. So geht es alle Tage, jeder Dampfer, der das Mittelmeer durchkreuzt, bringt neue Menschen. Wir aber empfinden besonders stark, daß dies alles nicht einfach eine „Reise“ sein kann, sondern tieferes dahintersteckt und sich hier nach außen in der Dramatik des Geschehens offenbart:

Palästina ist nicht nur Reiseziel, sondern Forderung und Aufgabe,

und daher betrifft das, worum es geht, auch die Daheimgebliebenen und die Juden, die nicht auswandern wollen oder können, auch die mit ihrem jetzigen Heimatboden eng verknüpften. In der Scheidung der Geister innerhalb der Menschheit wird heute alles wieder auf einfache Formen zurückgeführt. Wir Juden müssen unsern Weg gehen. Die großen Zusammenhänge, in denen jeder von uns steht, werden immer auch dieses Zion umfassen.

In Alexandria, wo das Schiff gerade hielt, bevor es nach Jaffa weiterfährt, hatten wir das eigentümliche Erlebnis der Begegnung mit einer ägyptischen Frau, die uns das, was wir fühlen, verstärkt ins Bewußtsein brachte. Eine koptische Christin, Angehörige der ältesten ägyptischen Schicht, der wahren Nachkommen der alten Aegypter aus Pharaos Zeiten, dabei eine ganz moderne hochgebildete Frau, nahm uns in ihrem gastlichen Haus auf, einer herrlichen Villa am Strande des Meeres, und in unermüdlicher Darlegung entwickelte sie ihre Ideen: die Erlösung der Welt durch die Vereinigung des Hauses Israel mit der heidenchristlichen Welt, als deren Repräsentanten sie ihr Vaterland Aegypten betrachtet, unter Berufung auf das 19. Kapitel Jesaja. Diese Vereinigung könne nur geschehen im Zeichen der Niederringung des Materialismus und Ueberwindung des Imperialismus. Die Juden, so meint sie, haben Teil an beiden. Diese genaue Kennerin der Bibel weiß, daß im Judentum Höchstes neben Niedrigstem steht und gerade darum, so meint sie, hänge von der inneren Entscheidung des Judentums besonders viel ab. Diese Frau, eine glühende Patriotin und Führerin des Wafd, der ägyptischen Unabhängigkeitspartei, hat ein Buch über die Judenfrage geschrieben, das im Manuskript vorliegt. Sie gibt eine Anklage und Verteidigung der „Protokolle der Weisen von Zion“: dieses Buch, bekanntlich eine plumpe Fälschung, enthalte, so sagt sie, Gedanken, die wahr sein könnten, und daher müsse man auch sachlich darauf entgegnen. Man müsse neben dem materialistischen den prophetischen Juden zeigen und denen, die an das Buch glauben, die Erkenntnis eröffnen, daß nur durch eine andere Art der Behandlung der Juden, durch den Willen zu einer Harmonisierung der Welt, auch die Judenfrage zu lösen sei. Nicht „Bekehrung“ der Juden sei die Aufgabe, sondern jeder eifre seiner eigenen Liebe und seinem Glauben nach, aber diese Liebe allein wird Menschen öffnen und den Weg bereiten. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Verfasserin natürlich weder Lessings „Nathan“ noch die moderne, in deutscher Sprache erschienene Literatur über die Judenfrage kennt. Was sie genau kennt, ist die Bibel, und sie weiß eine Fülle geistreicher Erklärungen, die manchmal ein auch für uns verblüffendes Licht auf schwierige Stellen werfen. Kann man sich diese Szene in der ägyptischen Villa am Meer und der vor Juden die jüdische Bibel mit innerem Feuer vorlesenden christlichen braunen ägyptischen Frau ausmalen? Welch eine andere Welt! Und das ist die Erbin eines alten Volkes am Mittelmeer, der Wiege aller Kultur Europas. Mag es in Asien und im fernen Osten noch andere große Kulturkreise geben, hier am Mittelmeer, so fühlt man (und Jahrtausende werden wie ein Tag), ist der Kreis, aus dem Europa erwuchs; und an seiner nahen Ostküste liegt das Land, dem wir entgegenfahren, das Land, das so wichtige Bausteine zu dieser hier entstandenen abendländischen Welt beigetragen hat, dessen Ausstrahlung wir in diesen seltsam bewegten Stunden in Alexandria durch Raum und Zeit hinweg so stark empfinden: Palästina, das nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart hat.

So gleitet unser Schiff in die letzte Nacht der Fahrt hinein. Ein seltenes Ereignis geschah auf dieser Reise: es wurde uns ein Kind geboren. Ein Jude aus Deutschland, der in den letzten Jahren in einer großen Stadt Westdeutschlands als Handwerker tätig war, der im letzten Halbjahr in der Emigration irgendwo in Luxemburg oder Frankreich vergeblich Arbeit suchte und nun endlich sein Zertifikat erhalten hatte, wurde während der Reise Vater eines Knaben. Der Mann hatte nur noch wenig Geld; er fährt 4. Klasse, seine Frau „IIa“, d. h. 3. Klasse. Diese beiden Klassen sind natürlich nicht luxuriös, aber durchaus anständig, und den Passagieren 4. Klasse kommt die väterliche Fürsorge des „Maschgiach“ (Aufseher der koscheren Küche) Goldkranz, früher in Berlin, zugute, der auch beim Sabbath-Gottesdienst einen perfekten Vorbeter darstellt. Die gebärende Frau wurde von den Schiffsärzten in Obhut genommen und das ganze Schiff vom Kapitän bis zum letzten Passagier fühlte sich als „kleine Familie“. Als das Kind geboren war, wurde es eine Art Stolz der „Mariette Pacha“. Die Schiffsgesellschaft „Messageries Maritimes“ schenkte „ihrem“ Kind lebenslänglich alljährlich eine Passage 1. Klasse. Die jüdischen Passagiere halfen so gut sie konnten; in Alexandria wurde Wäsche gekauft, auch etwas Geld erhielt der Vater, der selbst fast keines mehr hatte (und aus diesem Grund seine Abreise trotz des kritischen Zustandes so beschleunigt hatte).

Am letzten Abend waren alle fröhlich. Ein Mann, der mit einem Sefer Thora in der 4. Klasse fuhr, tanzte verzückt chassidische Tänze. Ueber uns schon die Sternenpracht des palästinensischen Himmels.

Und am nächsten Morgen liegt Jaffa da im Morgenglanz, und fast endlos erstreckt sich daneben, in leichtem Dunst verschleiert, die neue Stadt Tel-Awiw. 

So oft man auch in Palästina landen mag, dieser Moment ist immer wieder einzig und „zum ersten Mal“.

Vorzüglich an diejenigen, so unter dem Schutze des glorreichen und großmächtigsten Kaisers Josephs des Zweyten wohnen. Aus dem Hebr. nach der Berliner Auflage. Wien 1782.

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➥ Zur Biographie: Wiener S.

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 32. Jahrgang, Ausgabe 36 vom 02.09.1892, S. 353 / Ausgabe 37 vom 09.09.1892, S. 360 / Ausgabe 38 vom 16.09.1892, S. 369ff

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Nirgends in der Welt hat man so leichte Gelegenheiten, interessante Völkerstudien zu machen, als in NewYork, der HauptPforte der neuen Welt. Hier sehen wir die verschiedenen Völkerschaften sich auf bestimmten Terrains zusammendrängen und so leben, wie sie es daheim gewohnt sind. Dieses Manhattan ist eine Welt im kleinen, eine ethnographische Landkarte, auf welcher die nummerierten Straßen die Parallelkreise und die Avenues mit ihren Parallelen gleichsam die Meridiane bilden. Liefe der elegante und breite Broadway nicht von Süd nach Nord, sondern von Ost nach West, so hätten wir auch den Aequator für diese Karte. Vor allem sind es die Irländer, die Deutschen, die Italiener und die Juden, die dem Zuge nach nationaler Absonderung folgen und deren Wohnsitze, mit Ausnahme vielleicht der ersteren, sich mit ziemlicher Genauigkeit begrenzen lassen. Denn während die Abkömmlinge des sonnigen Italiens die westliche Seite der Bowery bis zum Broadway von der Prince Street bis zur Canal Street sich zum Aufenthalte erkoren, bildet die östliche Seite der Bowery, von der Houston oder Ersten Straße an gerechnet, bis aufwärts etwa zur fünfzehnten, die ausschließliche Domaine von „KleinDeutschland“ und die unterhalb liegende Partie, bis zum Wasser reichend, den unbestrittenen Besitztheil von Judas Söhnen. Die Verschiedenheit der nationalen Gewohnheiten und Charaktereigenthümlichkeiten spiegelt sich so recht auf den ethnographisch abgeschlossenen Räumen wieder. Modern und sauber hebt sich „KleinDeutschland“ ab, während das italienische und das jüdische Viertel allzudeutlich die Spuren südlicher oder russischer Verkommenheit und Lüderlichkeit an der Stirn tragen. Diese beiden Nationalitäten Italiener und Juden, die füglich den Uebergang vom Orient zum Occident bilden, haben auch viel Verwandtschaftliches in Charakter, in Aussehen und Bewegligkeit, so dass man sie häufig mit einander verwechselt. Mit der Zähigkeit der Rasse halten sie fest zusammen, was die einen nicht verhindert, sich gegenseitig aus BrodNeid oder anderen Gründen zu befehden, die andern, sich gegenseitig per Stiletto ins bessere Jenseits zu befördern. Die Zusammengehörigkeit der Rasse schließt also die Raubthiernatur nicht aus, die gelegentlich beim homo sapiens auf gar unliebsame Weise zum Durchbruch kommt.

Ein Riesen-Ghetto in des Wortes eigentlichster Bedeutung bildet das jüdische Quartier, wie wir es nicht mehr in den russischen Städten, wohl aber in Amsterdam, in der Huittuinen und Jodenbreestraat, wiederfinden. Also nicht bloß der Czarismus und die Willkür asiatischer Despoten haben zur Anlage von Ghettos geführt, sondern auch noch andere Gründe, die wir später besprechen werden. NewAmsterdam, wie New York von seinen holländischen Begründern benannt wurde, scheint hier dem Beispiele von AltAmsterdam folgen zu wollen. Aehnlich liegen die Verhältnisse in England und vielen Städten der Union. NewYork aber verdient in dieser Beziehung die Palme, denn sein Ghetto übertrifft an Ausdehnung und Ursprünglichkeit alle ähnlichen Afterbildungen und kann mit Recht das NeuJerusalem genannt werden. Schauen wir uns ein wenig darin um. Ein recht orientalisches oder russisches Bild entrollt sich vor unseren Augen, und es fehlt nur der Kosak oder der türkische Polizeidiener, damit die Täuschung vollständig werde. Hier fanden sie sich zusammen, alle diejenigen, denen das unholde Czarenthum den Wanderstab in die Hand gedrückt.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 37 vom 09.09.1892, S. 360

(Fortsetzung.)

Von allen Seiten kamen sie – vom Dnjeper, vom Don, vom Schwarzen Meere, von der Düna, von der Weichsel, von Njemen und aus anderen Ländern: aus Rumänien, Galizien, Ungarn oder einer der östlichen deutschen Provinzen. Welch’ buntes Völker und Sprachgemisch bietet schon ein und dieselbe Rasse, die jedoch durch das Band gleicher Lebensgewohnheit, religiöser Anschauung und des Sprachmittels des deutschen jüdischen Idioms eng mit einander vereinigt ist. Hier leben und weben sie und gehen so lange ihrer gewohnten oder ungewohnten Beschäftigung nach, bis glücklichere Zustände oder Neigungen den einen und den anderen aus dieser Sphäre heraus und nach den fashionablern Stadttheilen der Westseite hinwirbeln, wo er ägstlich bemüht ist seine frühere Herkunft in Gumpelinoweise zu verhüllen, was ihm aber selten gelingen will. „Ja, ja, ich weiß schon“, erwiedert man einem solchen, der vorgibt, aus der Nähe von Berlin zu stammen, dem man aber seine russische Herkunft genau ansieht und anhört „Sie sind zwei Meilen mit dem Telegraphen hinter Berlin her.“

Man schätzt die Zahl der an der östlichen Seite angesessenen Juden auf 100.000 während noch mindestens ebensoviel in anderen Stadttheilen, namentlich in der oberen Stadt wohnen. Diese Ziffer ist, trotz aller gegentheiligen Censusaufnahmen eher zu niedrig als zu hoch gegriffen, was schon aus der ungeheuren Zahl von Synagogen und Betlocalen hervorgeht, die während der hohen Festtage von Betern überfüllt sind und deren es an 600 geben soll.

Sie vereinigen sich mit Vorliebe zu Gemeinden nach LandsMannschaften und Städten ihrer Herkunft und so finden wir eine Galizianer, eine Warschauer, eine ungarische, eine Bialystocker, eine Suwalker, eine Wilnaer, eine Grodnoer u.s w. Synagoge. Jede Gemeinde hat ihre besonderen Cultusbeamten, ihren Rabbi und meist auch ihr Gemeindebad (Mikweh). Das Haupt der Orthodoxie, zu welcher sich alle daselbst bekennen, ist Rabbi Joseph aus Wilna, eine große Leuchte des Talmuds, aber in weltlichen Dingen ganz unwissend. Seine Hauptfunction besteht darin, das Schlachten und den Verkauf des KoscherFleisches zu bewachen. Der andere Rabbiner Dr. Klein, ein geborener Ungar und auch schon weltlich unterrichteter Mann, hat bedeutenden Einfluss in ungarischen Kreisen.

Jede Gruppe hat ihre besonderen Gepflogenheiten und ihren eigenthümlichen JargonDialekt. Die Litthauer können den KehlLaut h nicht hervorbringen, die Wilnaer den Zischlaut sch nicht, der bei ihnen wie ein scharfes s lautet; die Polen haben eine singende Gewohnheit beim Sprechen, und die Sprache der Podolier und Wolhynier ist stark mit russischen Wörtern und Wendungen durchspickt.

Am buntesten und bewegtesten ist das Leben in der Hester Ludlow, Baxter, Allen, Essex-Suffolk, Norfolk und in den angrenzenden und kreuzenden Straßen. Hier, namentlich in der erstgenannten Straßen, wimmelt und krabbelt es wie in einem AmeisenHaufen. Die Passage ist fast unmöglich am Donnerstag nachmittag und Freitag vormittag, wo die Hausfrauen ihre Einkäufe für den Sabbath besorgen. Allerlei Gerümpel, Verkaufsstände, Karren und UrväterHausrath versperren den Durchgang. Der Policeman hat Mühe Ordnung zu halten und wirft in seinem Amtseifer hier und da einer Höckerin den versperrten Korb mit seinem Inhalt um, worauf sich ein entrüster Schrei erhebt „Gerade wie bei uns in Rußland. Das ist die Freiheit!“ Diese naive Freiheitsauffassung charakterisiert eben die rohe und ungebildete Masse. Auf und ab wogt eine dichtgedrängte Menge, deren Aussehen meist nicht sehr appetitlich ist. Die lange Tracht und die Ohrlocken sind zwar verschwunden und alles trägt den runden, schwarzen Filzhut, dieses Uniformstück des heutigen Heerdenmenschen, aber man sieht es den meisten Männern an, dass ihnen die kurze Tracht noch ungewohnt ist. Gang und Haltung sind schlotterig und von Nettigkeit und Reinlichkeit ist meist keine Spur. Haar und Bart sind wirr und unordentlich. Die Gesichter sind vergrämt und verdüstert und tragen noch den Stempel russischer Knechtschaft und Knute.

Freier gibt sich das junge Volk, das sich hier rasch modernisiert – vielleicht zu rasch, da es häufig mit der Liebe zum Alten auch die Liebe zu den Eltern und zur Religion hingibt und zum Erschrecken verwildert und verroht.

Hebräische und jüdischdeutsche Aufschriften laden überall zum Kauf ein, die mitunter recht drollig klingen, wie „Hier verkauft man koschere Milch von einer jüdischen Kuh“, oder „Hier werden die Haare vom Kopf für wenig Geld abgeschnitten“ u. s. w. Auch an russischen Schildern fehlt es nicht, namentlich an Apotheken, denn die „russische“ Apotheke gilt hier als Empfehlung, wie anderwärts die „deutsche“. Stark vertreten sind die KoscherFleisch und WurstwaarenLäden, deren Erzeugnisse recht lecker aussehen. Der Jude ist ein wenig Gourmand, und liebt recht fein bereitete Speisen. Diesem Bedürfnisse tragen unzählige Restaurants billig Rechnung, in welchen man nach dem Essen auch Kaffee und Milch verabreicht, was nach jüdischreligiösen Begriffen strengst verpönt ist. Man gibt sich aber im Lande der Freiheit auch in dieser Beziehung frei und dann „Les extrémes se touchent“ findet hier seine volle Anwendung. Der Kleinhandl und der Trödl bilden natürlich die hervorstechende Phisiognomie dieses Gassengewirres. Natürlich begegnen wir auch hier dem in Rußland üblichen Gebäck, dem „Begel“ mit dem großen Loch in der Mitte und der „Matze“, die so groß ist, dass man sich, wie der Volkswitz sagt, damit zudecken kann. „Wo kommt das Loch hin, wenn man den Begel aufgegessen hat?“ – „In die Tasche“ – lautet die Antwort. Der jüdische Newsboy, der zungenfertig die verschiedenen jüdischen Zeitungen ausschreit und der Händler mit jüdischen Gebet und Unterhaltungsbüchern, Schaufäden, Gebetriemen, Gebetmänteln, Papirrossen (Cigaretten) u. s. w. verleihen der Gegend ihr charakteristisches Gepräge.

Das Ghetto erweitert sich, und die Atmosphäre wird etwas lichter, wenn wir den EastBroadway, die Grand Street und Canal-Street betreten. Ersterer ist für diese Gegend, was die Wallstraße oder die 5. Avenue für den Westen ist, nämlich Verkaufs und Wohnstätte der Krösusse des Ghetto. Die Grand-Street ist in ihrem Anfang recht breit und mit eleganten Magazinen eingefasst, während die Canal-Street den Hauptstapelplatz des jüdischen Buch und Zeitungsverlages, der hier ungewöhnlich entwickelt ist, bildet. Es erscheinen allein in NewYork sieben bis acht jüdische Zeitungen im Jargon und eine in hebräischer Sprache. Sie dienen dem Neuigkeitsbedürfnis und zum Theil auch der Arbeiterbewegung, die hier recht rührig ist. Die Roman und Sensationsliteratur wird hier zum Schaden der unteren Massen auf schreckliche Weise ausgebeutet, die ganz erpicht auf diese Abart geistiger Erzeugnisse ist und dafür den letzten Cent opfert. Der hässliche Jargon bürgert sich auf amerikanischem Boden unausrottbar ein, und die leidige Aufklärerei treibt ihre gefährlichen Sumpf-Blüten.

Wehe, die dem Ewigblinden

Des Lichtes Himmelfackel leih’n!

Sie strahlt ihm nicht; sie kann nur zünden

Und äschert Städt’ und Länder ein. –

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 38 vom 16.09.1892, S. 369ff

(Schluss)

Hier findet der Sozialismus oder Anarchismus eine nur zu ergiebige Nahrung. Ihm gilt dieser hässliche Jargon als ein durchaus berechtigtes und ebenbürtiges Idiom, und der bedient sich desselben als willkommenes Mittel zur Aufstachelung der unteren jüdischen Arbeitermassen, die ihm treue Gefolgschaft leisten. Jüdische Studenten und Gymnasiasten sind die fruchtbarsten Handlanger dieser Bewegung und der betreffenden Redactionen. Für solche Personen gibt es keinen Raum in diesem Lande, wenn sie kein Handwerk gelernt haben und zur niedrigen Hantierung nicht greifen mögen. Daher ist es kein Wunder, dass sie bei dem verneinenden Geiste, der sie vom Hause aus beherrscht, sich hier mit Macht in die Bewegung stürzen. Ihre Propaganda gilt zunächst den herübergekommenen gleichgesinnten Mädchen, mit denen sie ungezügelten Umgang nach der Lehre Tschernischewskis und anderen pflegen, und die ihrem sittlichen und materiellen Ruin hier weiter entgegengehen. Dieses GhettoLabyrinth ist für derartige Maulwurfsarbeit ganz besonders geeignet und zeitig gar seltsame Blüten.

Auch der Thespiskarren raffelt über das Ghettopflaster, denn zwei oder drei jüdische Theater sorgen für theatralische Unterhaltung und erfreuen sich eines ungeheuren Zuspruchs, aber die göttliche Thalia ist zur schauderhaften Megäre entstellt, und der Timtam führt den Orchesterstab.

Was ist dem Paria die Kunst, das Schönheitsgefühl? Er will sich im freien Lande auch nach seiner Weise amüsieren und die Tollheit unserer Zeit, das finde siècle, spiegelt sich auch hier wieder.

Dem religiösen Bedürfnis dienen, wie schon erwähnt, unzählige Betschulen und Synagogen, deren Hauptstolz das in der NorfolkStreet gelegene und im maurischen Stil aufgeführten „Beth-Hamidrasch Hagodel“ ist, wo, wie üblich, auch Talmud „gelernt“ wird. Der hebräische Jugendunterricht wird auch zum großen Theile noch in herkömmlicher Weise im dumpfen Cheder, SchulStube, von unwissenden Melamdim gehegt und gepflegt. Die TalmudThora auf dem EastBroadway zählt an 1200 Jünglinge, und eine „Jeschibo“ bereitet zum höheren Talmudstudium vor.

Der Sabbath wird da noch wie in der alten Heimat begangen. Jeder Geschäftslärm verstummt, und in Sabbathkleidern sieht man alles von und nach den Synagogen rennen. Die einen tragen den „Tallesbeutel“ mit dem Gebetbuche unterm Arm, die andern unterlassen auch dieses, der Sabbathstrenge gemäß, und haben aus demselben Grunde das Taschentuch um den Hals oder um die Lenden geschlungen, denn in der Tasche darf es nicht getragen werden. Das Sabbathessen wird Tags vorher zubereitet, denn am Sabbath darf kein Feuer angezündet werden. Jeder enthält sich des Fahrens, des Rauchens, oder längerer Touren, doch habe ich noch nichts von den üblichen telegraphenähnlichen Sabbathgrenzen bemerkt, wie sie so oft die Außenseite russischer Städte zieren. Festesfeier, Geburt, Hochzeitsschlüsse, Hochzeitsfeier, Scheidung, Beerdigung – kurz das ganze russischjüdische Leben von der Wiege bis zum Grabe hat sich hier auf amerikanischem Boden gleichsam krystallisiert und alles vollzieht sich nach den strengen Forderungen der Tradition.

Keineswegs anmuthend ist das häusliche und wirtschaftliche Leben in den hohen und ungesunden, Mietskasernen ähnlichen Wohnungen dieser quetschenden Enge beschaffen. Die Leute entbehren vollständig des wirtschaftlichen und verschönernden Sinnes, der ihnen in den slavischen Ländern nicht eingepflanzt worden. Sie hocken oft zu vielen Familien in einem und demselben Raume zusammen, und man kann sich leicht denken, wie traurig es da hinsichtlich der Reinlichkeit und der Hygiene aussieht. Nach des Tages Hitze sitzt alles draußen vor der Hausthür mit der überreichen Kinderschar nnd athmet die „lieblichen Düfte“ ein. Hier sollte die Gesellschaft vor allem Hand anlegen, zunächst auf Beschaffung billiger und bequemer Wohnungen bedacht sein und zu verhüten suchen, dass sich die Leute in solchen Massen an einer Stelle niederlassen, was sowohl für sie selbst, als für das gesammte amerikanische Judenthum die höchste Gefahr birgt.

Ein schwacher und unvollkommener Versuch ist jüngst in dieser Hinsicht gemacht worden, indem von Mitgliedern der Gesellschaft für ethical culture in der CherryStreet Nr. 339342 ein großes Tenementgebäude für diesen Zweck errichtet worden, das auch Kindergarten, Bad und Waschanstalt enthält. Die Wohnungen sollen indes nicht ganz zweckmäßig und auch nicht billig genug sein.

Große und herrliche Anstalten hat der jüdische Wohlthätigkeitssinn in NewYork geschaffen, um die russische Einwanderung in ein nützliches Element zu verwandeln. Das Kinderasyl „Hebrew Schelther Guardian Society“ auf Washington Highes gewährt ca. 600 Kindern Obdach und Unterhalt. Eine besondere Abtheilung für Mädchen, die in Handarbeit und Haushaltung unterrichtet werden, befindet sich Ecke Avenue A. und 87. Straße. Der Unterhalt beider Anstalten beläuft sich auf Pf. St. 65.000 im Jahre. „The Hebrew Technical Institute“ in der Crosby-Straße mit seinem Anbau an der StuyvesantStraße besteht seit 1884 und dient dazu, armen Einwanderern Unterricht in allerlei Handwerken, im Zeichnen und Modellieren, zu ertheilen. Die „Aquilar Free Library“ im EastBroadway mit Abtheilungen in den Räumen der „Mens Hebrew Association“ Ecke 38. Straße und Lexington Avenue und der „Hebrew Free School“, FifthStr., besitzt namentlich durch die Munifcenz des Herrn Jacob Schiff, eine der bestausgestalteten Bibliotheken.

Die „Hebrew Free School-Association“ unterhält KinderGarten und Industrieschule für etwa 3000 Kinder. Die „United Hebrew Charities“, deren Office sich 2. Avenue Nr. 128 befindet, haben sich zur löblichen Aufgabe gemacht, die russische Einwanderung zu regulieren und dahin zu leiten, wo den Armen Verdienst und Unterkunft winken. Nach ihrem letzten Rechenschaftsbericht betrug die jüdische Einwanderung im vorigen Jahre 62.574 Personen, wovon der Löwenantheil mit 54.194 auf Rußland entfällt. Die Ausgaben betrugen Pf. St. 175.000, außer Kleidungsstücken, Medicamenten etc. Baron Hirsch hat für diesen Zweck die Summe von Pf. St. 67,685.35 gespendet. Außerdem gieng dieser Gesellschaft im November vorigen Jahres von dem Berliner Central-Comitee des russischen Hilfsvereins eine außergewöhnliche in monatlichen Raten zahlbare Unterstützung von M. 800.000 zu, die in jenem Berichte noch nicht aufgeführt ist.

Man sieht, wie großartig dieses Hilfswerk bedacht ist, mit dem noch andere philanthropische Anstalten cooperieren, wie die „Hebrew Benevolent“ und „Relief Asylum Society“, diverse Ladies Societies, deren eine nebst Office und der auf NewJersey gelegenen Colonie Woodvine ganz allein durch die Hochherzigkeit des Baron Hirsch unterhalten wird, welcher zu diesem Zwecke die stattliche Summe von 10 Millionen Francs hergegeben hat. Diese Colonie, 4884 Acres umfassend, ist jetzt von 60 Colonisten besiedelt, enthält Schule, Bethaus und alle den Ansiedlern noththuende Einrichtungen und Communications-Verbindungen.

Trotz aller dieser großen Werke der Humanität besteht aber durch das Factum des Ghetto als drohendes Gespenst und warnendes Mene-Tekel-Upharsin der gesammten jüdischen Einwanderung, das auch im Inlande leider seine verkleinerten Pendants aufzuweisen hat. Wir müssen nothwendig nach der Ursache dieser bedeutenden Erscheinung fragen, die das ganze Hilfswerk in Frage zu stellen droht. Eine aufmerksame Untersuchung belehrt uns, dass diese sowohl in der Vorgeschichte, in der religiösen, sittlichen und socialen Erziehung der eingewanderten Juden, als auch in der Art der heutigen Gemeindebildung und der geübten Wohlthätigkeit zu suchen ist.

Aus religiösen und socialen Gründen drängen sich die Massen zum Ghetto zusammen, um ungestört und bequem in dieser Absonderung ihren eigenartigen Gebräuchen und Gewohnheiten nachleben zu können. Wohl sprechen die fortgeschrittenen amerikanischen Glaubensgenossen „Macht wir wir; lebt wie wir; werft die Fesseln und den Ballast des alten Glaubens ab und bildet Gemeinden nach amerikanischem Muster! Schon recht. Aber einmal hält es unsäglich schwer sich vom gewohnten Alten so schnell zu treten und Knall und Fall ins Neue zu stürzen, was in religiöser Beziehung gar nicht zu wünschen ist, da der Amerikaner so radical vorgegangen ist, dass vom Judenthum kaum noch etwas übrig geblieben ist, und andererseits vergessen jene, dass die heutigen Gemeindebildungen, sowohl der Reformer, als älterer Neuerer, in Deutschland sowohl, als in Frankreich und hauptsächlich in den Vereinigten Staaten auf zu glänzendem Fuße eingerichtet und nur für die Reichen bestimmt sind, die Armen fast völlig ausschließend. Wer beiträgt, ist Mitglied und hat Zutritt zum Tempel, der Arme steht wie ein Paria außerhalb desselben. Das ist buchstäblich wahr. Wenn wir die splendid eingerichteten Gemeinden hierzulande mit ihren prächtigen Tempelbauten, ihrem pompösen Cult und ihren fürstlich besoldeten Reverends sehen, was Wunder, dass sich die Armen in sich selbst, in hässliche Ghettos und schmutzige ArmenViertel zurückziehen und ihrem tief gefühlten religiösen Bedürfnis nach ihrer alten guten Weise zu genügen suchen. Die Gegensätze sind zu gewaltig in unseren Tagen und die Kluft erweitert sich immer mehr zwischen denjenigen, die der Leitung bedürfen und denjenigen, die nur vermöge ihres Geldsacks die Leiterschaft in Händen haben. Aber nur auf Basis einer wirklichen Gleichheit und Brüderlichkeit ist es möglich Einfluss auf die Massen zu gewinnen, diese zu sich hinanzuziehen und zum Guten hinzuleiten.

Auch die Art und Weise, wie heute Wohlthätigkeit geübt wird, ist nicht sonderlich darnach angethan, den Armen mit Liebe und Dankbarkeit zu erfüllen. Der Arme fühlt es instinktiv heraus, dass das Gute nicht seinetwillen geschieht, dass die Philanthropie mehr Paradewerk ist und in der Absicht geübt wird, ihn so schnell wie möglich vom Halse zu haben. In der That, der russische Jude wird von seinen übrigen Glaubensgenossen bitter gehasst – mit Recht oder Unrecht lasse ich dahingestellt sein – so sehr man sich auch scheuen mag, dies zu bekennen. Alle diese Anstalten sind lediglich Vorkehrungsmaßregeln, Deichvorrichtungen, um sich vor dieser russischen Ueberfluthung zu schützen. So war es zur Zeit der spanischen Judenaustreibung, wo die italienischen und die portugiesischen Juden die armen Flüchtlinge nicht landen lassen wollten, und so geschieht es auch heute. Dieser Egoismus ist aber auch der Mehlthau der Philantrophie, denn bei ihr kommt es hauptsächlich auf die Absicht an. Dass die Wohlthat auch wirklich Frucht trage, muss die Liebe stets dem Geben vorangehen.

Es herrscht in allen den Comitess zu viel Bureaukratismus, abgesehen davon, dass hie und da Personen durch Nepotismus in einflussreiche Stellungen geschoben sind, in derselben nur einen guten, fetten Posten erblicken und das Liebeswerk darnach üben. Ich denke nicht daran, auf das ganze einen Stein zu werfen, denn ch habe sowohl in NewYork, als auch in Chicago in den Leitern vorbezeichneter Vereine thatkäftige Männer gefunden, vom besten Willen und der höchsten Begeisterung für das löbliche Werk beseelt, namentlich ist der in Chicago herrschende Geist und das Vorgehen der leitenden Personen der dortigen israelitischen Gesellschaft rühmend hervorzuheben. In der Jewish Training School, unter der vorzüglichen Leitung des Directors Herrn Bamberger, besitzt diese Gemeinde das Unicum einer Anstalt, die ihrer Bildung und ihrer Hochherzigkeit Ehre macht. Sie wird von etwa 6000 Kindern besucht, die hier, theils im Kindergarten angenehm und nützlich beschäftigt werden, theils Unterricht in Handfertigkeit nach den neuesten Grundsätzen erhalten; für erwachsene Knaben sind praktische Werkstätten eingerichtet. Der jährliche Kostenaufwand beläuft sich auf 8,18.000, die durch freiwillige Beiträge und Schenkungen gedeckt sind. Der russische Hilfsverein, zu welchem GemeindeMitglieder über 88000 monatlich besteuern, arbeitet recht wacker. In Philadelphia, Boston, Baltimore, St. Louis und in allen hervorragenden Centren wird zur Förderung des russischen LiebesWerkes eines ähnliche Thätigkeit entfaltet. Dass diese noch verhältnismäßig so spärliche Früchte trägt, daran haben vorerwähnte Mängel Schuld.

Viel wird auch gesündigt, durch Unkenntnis des Wesens und der Charakter-Eigenthümlichkeiten der russischjüdischen Einwanderer und namentlich dadurch, dass die Leitung meist in Händen von Personen ruht, die durch ihre anderweitigen Berufspflichten allzusehr in Anspruch genommen sind. Dieses Liebeswerk erfordert die ganze Hingabe und eine specielle Kenntnis. Wie viel ist da schon experimentiert und verausgabt worden! Im Jahre 1882 sind allein zwei Millionen Dollars für den Hin und Herschub geradezu ins Wasser geworfen worden, natürlich alles war damals unvorbereitet und kopflos gegenüber einer solchen Völkerfluth. Jetzt heißt es, dass die 5000 in Argentinien angesiedelte Juden hierher geschafft werden sollen, nachdem Militärgewalt gegen sie eingeschritten und auf sie geschossen worden war, angeblich weil sie undisciplinierbar sind und sich widersetzten. Hier sind sie ebenfalls fortwährend auf der Wanderung, da es nicht gelingen will, sie alle dauernd zu placieren und der AhasverFluch will nicht weichen, trotz diesem gewaltigen Aufgebot von Riesenmitteln. Wir fürchten, dass es dem edlen Baron Hirsch eben so wenig gelingen wird, seine providentielle Absicht in Bezug auf seine Religionsgenossen durchzuführen, wie einem Las Casas, der durch seine wohlmeinend befürwortete NegerEinwanderung unsägliches Elend heraufbeschwor. Gar leicht kann diese russischjüdische Einwanderung zum Unsegen für sie und andere ausschlagen, wenn es nicht bald gelingt, Mittel und Wege und geeignete Männer zur Durchführung dieses riesenhaften Einwanderungs und Colouisationswerkes ausfindig zu machen.

➥ Zur Biographie: Karl Wiesenthal

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 30. Jahrgang, Ausgabe 39 vom 26.09.1890, S. 385

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Im Januar-Heft des in Weimar erschienen Blattes „Minerva“ 1802, steht ein Aufsatz: „Das Em- porkommen der Völker in der Welt“ mit der Unterschrift: W. G. Der Herausgeber der „Minerva“ erklärt wenige Wochen früher, also zu Beginn des Jahres 1802, dass Göthe für sein Buch einige interessante Arbeiten zu liefern versprochen habe. Endlich wird auch der mit W. G. unterschriebene Aufsatz von Dr. Felix Martens in einer späteren Nummer eingehend besprochen – und hier erfährt der Leser, dass der Verfasser des Aufsatzes: „Das Emporkommen der Völker in der Welt“ kein geringerer als Göthe war.

An einer Stelle heißt es:

„Es gibt kein Volk in der Welt, welches nicht von dem Wunsche, empor zu kommen, beseelt wäre. Selbst die zerstreuten Juden, die noch manche schwere und empfindliche Bedrückung zu erdulden haben, bekunden eine staunenswerte Strebsamkeit. Man behauptet zwar, der Jude fange es schlau an, emporzukommen ein einziges Hauptprincip sei nur die Geldmacht zu gewinnen Wie thöricht! Auch andere machen sich groß und auch andern wird die Größe zugeworfen! Jedoch die meisten von denen, die zu Reichthum gelangen in der Welt, werden es mehr oder minder durch Geschicklichkeit und Schlauheit. Jeder, der in der Welt emporkommt, muß ein Talent besitzen, mag es nun ein Talent zu literarischer Auszeichnung, politischer Wichtigkeit, oder zum Aufhäufen von Schätzen oder zu anderen Sachen, die eine Größe bedingen, sein. Naturgaben sind das erste Erfordernis für einen ausgezeichneten Menschen. Einige werden von Freunden emporgezogen und gestützt, andere von Feinden emporgestoßen; diesen letzteren geht es am Ende besser, denn Feindschaft ist dauerhafter als Freundschaft! Die Freundschaft zieht oft ihre Hand zurück, wenn man ihrer gerade am meisten bedürftig ist, Feindschaft aber stößt immer vorwärts, so lang sie kann. So hat die allzugroße religiöse Feindschaft gegen die Juden nur dazu geführt, das Auftreten dieses Stammes entschlossener und energischer zu machen! Der Jude kennt seine Feinde bereits Jahrhunderte lang – und daher war es sein nicht zu verkennendes Streben, sich emporzuraffen und wenigstens mit der Macht des Geldes zu wirken! Das Geheimnis in der Welt emporzukommen, lehrt die Geschichte der Juden. Verfolgt, bedrückt, geschlagen und mißhandelt, sind die Juden mit ihren Freunden und Feinden fertig geworden! War hier ihr Verlust groß, so ersetzte dort reichlicher Gewinn jedwedes Leid. Wirklich, die Juden können sich auf ihre bewiesene Strebsamkeit, emporzukommen, etwas zu gute thun. Die Lastämter bilden in der Regel mehr als die Ehrenämter. Es ist der Mensch ein Wesen, das am besten gedeiht, wenn ihm so ein Druck von oben gegeben wird; nur darf derselbe nicht zu schwer sein. Siehe die Geschichte der Juden! Ehren recken den Menschen wunderlich in die Höhe, er wird dünn und bricht zusammen! – Wahr ist es, dass die Juden, um emporzukommen sich gern die Macht des Geldes erwerben wollen, aber wahr ist auch, dass Habgier und Eigennutz, Luxus und Verschwendung das Streben anderer Völker war um ihr Ansehen äußerlich emporzubringen. Dass die Juden die Ehre des Kriegers, des Edelmannes nicht kennen, hat auch seine Veranlassung. Machet die Menschen zu Menschen und die Charaktere werden sich zeigen. Ich bin des festen Glaubens, dass es keine Nation der Erde jemals gegeben hat, die nicht große uneigennützige, hervorragende Menschen geschaffen, die mehr waren als Gesetzgeber und Helden. Unvernünftig und schlecht ist es, gegen die ungebahnten größeren Rechte der Juden aufzutreten. Versuche es, Gesetzgeber, dieses Volk zu unterdrücken; es kann euch nur gehen, wie den Helden der Vorzeit, ihr geht zu Grunde! – und die Juden kommen empor! Der Jude, ja der Jude er will auch Antheil nehmen an den Bestrebungen der Völker – und warum wollt ihr es nicht leiden, ihr, des Juden Nächsten, ihr Christen? He, warum? Nun ereifert euch, nun streitet euch! ich lache euch aus! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – „

1 Nachdruck nur mit voller Quellenangabe gestattet.

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Transkription

In: Ost und West. H. 9(1909), S. 560-564. 

 ➥ Zur Biographie: Wilde Georg

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➥ Zur Biographie: Doris Wittner

In: Israelitisches Familienblatt, 37. Jahrgang, Ausgabe 7 vom 14.02.1935, S. 17 / Ausgabe 11 vom 14.03.1935, S. 17f / Ausgabe 13 vom 28.03.1935, S. 17f

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➥ Zur Biographie: Joseph Wolf

In: Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation 1 (1806), Bd. 1, 1. Heft, 1-11

[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2304627]

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Tran-skription

Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith!

Kehre wieder, daß wir dich schauen.

„Was sehet ihr an Sulamith?“

Wie Reigentanz der Kriegesheere. –

Hohe Lied Salomonis.

Jedes Volk hat seine eignen Anlagen und Bedürfnisse, seine eignen Begriffe und Fähigkeiten. In seinem frühern Entstehen haben sie ihren Grund, in der Art seiner Organisation ihre Selbstständigkeit und Dauer, und sind daher, als wesentliche Eigenschaften, von der Existenz desselben untrennbar. Der uneingenommene Menschenbeobachter wird sie nicht in Nebendingen und Zufälligkeiten suchen, er wird nicht muthwillig streben, den Grund ihres Seyns in dem allgemeinen Menschencharakter entdecken zu wollen; denn hier findet er nur den Menschen, nicht das Besondere, das Rationelle, das Menschen von Menschen unterscheidet.

Jedes Volk ist daher auch eine Bildung, einer Sittenverbesserung nicht unfähig. Ist es erwiesen, daß die EleElemente, die sein Wesen begründen, ursprünglich gut, daß Stoff und Form seinem innern Werthe gemäß gewesen sind: so wird niemand in Abrede seyn, daß nur die besondern Umstände in dem langen und vielfachen Lauf seiner Geschichte, die den Gesichtspunkt desselben allmälig entrückten, das Ganze umgebildet haben, und in einer veränderten, oft nachtheiligen Gestalt erscheinen lassen. Bringet jene in ihre vorige Lage und Ordnung, und das Ganze stehet wieder in seiner völligen Schönheit da. Nur muß die Bildung aus ihm selbst hervorgehen, die Keime eigner Kultur müssen von Neuem entwickelt werden, wenn unsere Bemühung nicht fruchtlos seyn soll. Eine wohlthätige Wirkung läßt sich alsdann erst mit Recht erwarten, wenn angeborne, aber schlummernde Kräfte wieder aufgeregt werden; mit Freuden wird man bald sehen, daß die Blume in dem großen Garten Gottes, welche schon beim Sinken nahe war, von Neuem aufblühen, ihr mattes Haupt emporheben, und neben ihren prangenden Schwestern in schönster Eintracht mit ihnen fortblühen wird. Eine fremde Kultur hingegen, aufgedrungen oder erborgt, würde sie entweder ganz zernichten, oder doch wenigstens unterdrücken und mißgestalten. Nichts Fremdes läßt sich dem Menschen anbilden, sowohl im Einzeln als bei ganzen Völkern. Die bildende Natur hat jedem Stoffe, so wie jedem Klima, seine besondern Kräfte und Erzeugnisse angewiesen, und die Kunst vermag nur da etwas zu wirken, wo sie zu dem heimischen Boden ihre Zuflucht nimmt.

Die größten Männer aller Nationen strebten daher immer, so bald sie für die Vervollkommnung ihrer Zeitgenossen begeistert wurden, ihre vorhabenden Verbesserungen auf auf die schon vorhandenen Grundsätze zu stützen. Mit dem menschlichen Herzen bekannt, hielten sie es für ihre erste Pflicht, das heiligste Eigenthum ihres Volks so viel als möglich zu schonen. Bloß umgeformt ward das Alte, und durch eine neue bessere Ansicht, die sie ihm zu geben wußten, ihrem edlen Plane zeit und ortmäßig angepaßt. Nicht entfernten sie sich eigenmächtig von dem allgemein Anerkannten, allgemein Verehrten, nicht alles ward willkürlich für untauglich erklärt, verworfen; nur das wirklich Schädliche, das Gott und Menschenbeleidigende suchten sie aus allen Kräften zu bekämpfen. Schädliche Mißbräuche, die der Aberglaube heiligte, irrige Meinungen, die auf Abwege führten, unsittliches Verfahren, von Zeloten mit einer religiösen Farbe belegt, wurden als Gebrechen des gesellschaftlichen Menschen beachtet, und wegen ihrer Schädlichkeit entfernt. So gelang es diesen Edlen ihrem Zeitalter nützlich zu werden, indem sie, wie jener Rabbi , die bittere Schale vom schmackhaften Kern weislich zu trennen wußten. – Fanden gleich die guten Grundsätze, die sie ververbreiteten, nicht überall schnellen Eingang, so hat doch die Zeit ihre Unternehmungen gerechtfertiget, und die Nachwelt segnet das Andenken dieser heilbringenden Schutzengel der Menschheit .

Es war eine Zeit, in der das jüdische Volk, getreu der segenbefördernden Religion ihrer Väter, sich zu den glücklichen Völkern der Erde zählen konnte. Sitten und Gebräuche eigneten es damals zu einem gottgeweiheten Volke, das sich in seiner moralischen und politischen Verfassung vor vielen andern damals lebenden Völkern rühmlichst auszeichnete. – In jener glücklichen Periode war es, in der das israelitische Volk, durch begünstigende Zeitumstände, einen gewissen hohen Grad der Vollkommenheit erreichte, indem die Nationalliebe sich zur allgemeinen Menschenliebe erhob, und unter dem Schutze eines friedliebenden Regenten die heilsamen Folgen des allbeglückenden Friedensdens für die Nation nicht ausblieben. Mit einer Weisheit, die nur jene religiöse Idee eines ewigen Allvaters unterstützt, erweiterte man den Gesichtskreis, vervielfältigte die Empfindung für Andersdenkende‡, und Duldung, Mitgefühl, Zufriedenheit, Ruhe und Glückseligkeit beherrschten die Gemüther der Nation. Und woher nahmen sie diese fromme Ideen? – Aus der Religion; sie, die überall auf Bruderliebe und Menschenwerth das größte Gewicht legt; sie, bey der allgemeine Vernunft und ewige Wahrheit, Tugend und Gerechtigkeit stets Hauptregel und Tendenz ist.

Doch nicht bloß dem blühenden Staate des Volkes Jakob bot sie heilbringende Lehren und Gesetze dar; in ihr liegen auch noch besonders trostgebende und aufrichtende Verheißungen für die zerstreuete Heerde Israels. Als die vaterländische Selbstständigkeit aufhörte, und die ausgewanderten Glieder der Nation in allen Welttheilen umher irrten, nahmen sie von ihren Schätzen nichts als die Religion mit sich; sie wanderte mit ihnen auf allen ihren Wegen; in ihr suchten und fanden jene arme Schlachtopfer der Tirannei Beistand und Trost. Trotz aller Verspottung und Verachtung, trotz jeder Verfolgung, die sie um ihrentwillen erdulden mußten, blieben sie ihr dennoch getreu, und um so getreuer, je mehr man an ihnen Grausamkeiten verübte. Nach vielen überstandenen Leiden, nach mancherlei empörenden und barbarischen Behandlungen, welche diesen gequälten Menschen die Menschheit immer verhaßter machten, kehrten sie in den Schooß der Göttlichen zurück, um um bei ihr neue Kräfte, neuen Muth zu sammeln, damit sie noch grausamere Schicksale, die sich über ihr Haupt mit zerschmetterndem Gewichte zusammen häuften, standhaft besiegen konnten. – Doch wozu diese traurigen Bilder der Vorzeit? Der edle Mensch blickt verachtend hinweg von den schauderhaften Scenen, wenn erfreuliche Gegenstände seine Blicke reizen. – Bescheiden werfen wir einen Schleier über diese gräuliche Vergangenheit; mit Freuden überschlagen wir das Blatt in dem Denkbuche unserer unglücklichen Väter, um unser Gemüth nicht wieder herabzustimmen, da es von neuern bessern Scenen zur freudigsten Hoffnung emporgehoben wird. Ein neuer Abschnitt hebt an in der Geschichte der Juden, der frohere Begebenheiten zu erzählen beginnt, und mit jedem Fortrücken immer heiterer, immer anmuthiger wird. Das Gesetz der Billigkeit beherrscht die Gemüther aller Nationen; die traurige Scheidewand, welche die Herzen der Menschen Jahrtausende lang getrennt hatte, ist nun durch den Geist der Duldung hinweggerissen. Menschheit ist das Losungswort, das von jedem Mund ertönt, und die Herzen der Menschen näher an einander bringt. – Auch auf die jüdische Nation hat diese Veränderung einen sehr wohlthätigen Einfluß. Man fängt an, auch für den Juden Sinn und Mitgefühl zu haben, wohl einsehend, welches Unrecht ihm geschah, da ihn die Vorwelt an dem Gemeingute der Menschheit keinen Theil nehmen ließ; welches doppelte Unrecht ihm widerfuhr, indem man ihm zugleich die Mittel raubte, wodurch er jenes Gemeingutes hätte theilhaftig werden können. – Dank der göttlichen Vorsicht! die Zeiten sind vorüber, wo die Begriffe Jude und Mensch für heterogene BeBegriffe gehalten wurden. Auch der Jude fühlt nun seinen Werth als Mensch, und fühlt ihn mit Dank gegen seine Mitmenschen. Sein inneres Bewußtseyn und sein Bedürfniß sagen ihm still und laut, daß auch er von der Natur bestimmt ist, seine Kräfte zum Wohl des Ganzen zu gebrauchen. –

Allein noch sind nicht alle Hindernisse aus dem Wege geräumt. Die Biene der rauhen Wildheit unkultivirter Zeiten hat in dem Innern der Menschheit einen gefährlichen Stachel zurückgelassen, der nur mit weiser Behutsamkeit herausgezogen werden muß. – Von der einen Seite glaubt man, in dem Lebenssysteme der Juden lauter unmoralische Motive zu entdecken, die sich durchaus zu isolirten Menschen verdammen; von der andern Seite ist noch vieles zu thun übrig; mancher Begriff muss geläutert, manches Mangelhafte ergänzt, manche Mißbedeutung berichtiget werden.

Das wahre Glück des Menschen beruhet lediglich auf dem Alleinigen Prinzip der Gerechtigkeit, das bei dem Wesentlichen einer jeden Religion zum Grunde liegt. Nach ihm soll der Mensch in allen Verhältnissen des Lebens seines Individualität, sein persönliches Bedürfniß nach dem Maaße der Allgemeinheit berechnen und bestimmen. Nur wo diesem kein Abbruch geschieht, kann jenes von ihm in Anspruch genommen werden. Damit nun der Mensch dieses ganz begreife, ist es nöthig, daß er seine doppelte Natur, seinen Verstand und seinen Willen, so viel als möglich, zu entwickeln und zu bilden suche. Die Kräfte des Verstandes müssen erweitert und verfeinert werden, durch Erlangung der Kenntniß alles Wissenswürdigen, durch Einsicht von allem allem Schönen und Edlen in der Natur. Der Wille muß gebessert und befestigt werden, durch Uebung und Thätigkeit, durch Beherrschung der sinnlichen Begierden, durch das Bestreben nach dem Nothwendigen, mit Verachtung alles Entbehrlichen und Ueberflüssigen. Dieß sind die Mittel, wodurch der Mensch sich in seinem Individuellen vervollkommnen, und in seiner Moralität veredeln kann; so nur kann er die Bestimmung mit Gewißheit erfüllen, die eine allweise und allgütige Gottheit ihm hienieden vorgezeichnet hat. Vollkommenheit in sich selbst und Vereinigung mit andern Individuen, diese beiden Vorstellungen sollen der Seele des Menschen bei jedem Gegenstande des Denkens und der Thätigkeit stets vorschweben; damit er seine Gesinnungen und Handlungen nach ihnen abwiege, und sein und Anderen Glück so viel als möglich befördere .

Wer gestehet mir nicht gerne ein, daß alle diese Wahrheiten in der Religion enthalten sind? Ja, in ihr liegen alle alle die wohlthätigen Lehren, die das Glück der Menschen begründen; in ihr liegen die Urbegriffe der ersten Entwickelung vom Thiermenschen zum Vernunftmenschen. Mit linder Warnung und mit ernster Strenge bezeichnet sie uns den Pfad, den wir auf unserer Pilgerschaft zu wandeln haben; wie wir uns nur durch einen reinen und unbefleckten Lebenswandel und durch strenge Sitten zu derjenigen moralischen Höhe emporschwingen können, die der ächten Kultur und einer wahren Aufklärung nothwendig zur Grundlage dienen muß. Mit einem Worte, die Religion ist das wesentliche intellectuelle und moralische Bedürfniß des kultivirten Menschen.

Dieß also im hellsten Lichte darzustellen, ist der Zweck, den Sulamith zu beabsichtigen sich vorsetzt. Sulamith will Ehrerbietung gegen die Religion, d. h. gegen diejenigen Wahrheiten, welche des Namens Religion allein würdig sind, bei der Nation erwecken; sie will das dringende Bedürfniß, religiöse Empfindungen und Vorstellungen zu fühlen, von neuem beleben; sie will aber zugleich die Wahrheit zeigen, daß die Begriffe und Sätze, die in der jüdischen Religion enthalten sind, weder dem einzelnen Menschen, noch der bürgerlichen Gesellschaft im mindesten schädlich sind; sie will ferner die Nation zur nativen Bildung zurückführen, indem mit einer unumstößlichen Gewißheit dargethan wird, daß diese Urbildung ganz rein ist, und ihre Religionsbegriffe und Lehren, so lange sie durch keine aberabergläubische Zusätze verunstaltet sind, nie irgend einer politischen Verfassung in den Weg treten, sondern zum Theil sich mit ihr vereinigen, und da, wo keine gänzliche Vereinigung Statt findet, wenigstens brüderlich mit derselben verbinden lassen. Sulamith will endlich das Wahre vom Falschen, das Wirkliche vom Täuschenden, das Nützliche vom Verderblichen weislich sondern, und die Nation in ihrem eigenen Selbst aufklären; sie will – es sey mir hier die Anwendung eines Bilds vergönnt, dessen sich ein berühmter Gelehrter bei einer andern Gelegenheit bedient – die Quelle des Guten aus dem trocknen und harten Felsen herausschlagen, welche sodann von selbst fortströmen würde, in ihrer ursprünglichen Reinigkeit, um die Säfte des Stammes innerlich zu verbessern – keineswegs aber durch eitle Künste ihm fremde Früchte anheften, welche aus diesem Holze nicht wachsen können. – Hierdurch allein glaubt sie im Stande zu seyn, die glückliche Stimmung, in welche Aufklärung und Bildung die Gemüther der Menschen versetzt haben, zu derselben eignem Besten zu benutzen, und Segen und Heil über die Nation zu verbreiten.

Wer also an der Verbreitung nützlicher Wahrheiten, an der Beförderung des allgemeinen Menschenwohls, und an einer angenehmen und geschmackvollen Unterhaltung der Leser, Antheil nehmen will, der wird hierdurch ergebenst eingeladen, durch passende, und dem Plane entsprechende Beiträge, sich dieser Zeitschrift geneigtest anzuschließen. Jede Wahrheit, jede Untersuchung, die aus reinem Herzenstriebe entspringet – gleichviel, welcher Feder sie entfließt, – wird der Sulamith willkommen seyn. Der Geist der SanftSanftmuth und der heiligen Achtung für Menschenwohl belebe diese Zeitschrift; also keine Persönlichkeiten, keine Herabwürdigung und Anzüglichkeit, sie seyen von welcher Art sie wollen; daher können auch Streitschriften, nur in so ferne dieselbe auf Entwickelung nützlicher Wahrheiten, oder auf die Darstellung mißkannter Charaktere abzwecken, eine Aufnahme finden. Am allerwenigsten wird Sulamith sich in politische Angelegenheiten mischen, sie mögen auf die jüdische Nation oder auf irgend einen Staat Bezug haben. Still und friedlich wird Sulamith ihr Werk beginnen, und stets ihrem Zwecke getreu bleiben, dem einzigen Zwecke: Entwickelung der intensiven Bildungsfähigkeiten der Juden, um sie für das Gute, dessen sich unser Zeitalter zur erfreuen hat, ganz empfänglich zu machen; damit auch die Kinder Israel an dem erhabenen Denkmale, das die Geschichte den erlauchten Regenten unserer Zeit errichtet, entzückt und dankvoll hinzutreten mögen, um die Inschrift darauf zu graben: Euch weihen sich unsere Herzen, Euch, die Ihr vom Geiste der Humanität und Liberalität belebt, einem gebeugten Volke seine verlornen Rechte wieder ertheilet – !!! Wolf. 

 

Zur Biographie: Alfred Wolfenstein

Aus: Der Jude: eine Monatsschrift, Jg. 6 (1921-1922), H. 7, S. 428-440

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Zur Biographie: Alfred Wolfenstein

Aus: Der Morgen: Monatsschrift der Juden in Deutschland, Jg. 10 (1934-1935), H. 5 (August 1934), S. 208-215

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➥ Zur Biographie: Heinrich Woznianski

In: Jüdische Rundschau, 37. Jahrgang, Ausgabe 59 vom 26.07.1932, S. 282

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Die Wechselbeziehungen zwischen Palästina und dem Galuth finden äußerlich immer stärkeren Ausdruck in der Kurve der Besuchsziffern hüben und drüben. Heute, wo das Interesse für Palästina aus den verschiedensten Ursachen einen aktuellen Antrieb erhält, ist die Förderung der Alijah durch das Mittel der persönlichen Fühlungnahme für Propagandazwecke in Rechnung zu setzen. Es wird als ein Mißstand empfunden, daß die Anwesenheit von palästinensischen Besuchern im Galuth für diesen Werbezweck nicht genügend ausgenützt, insbesondere, daß sie den heimischen Interessenten und Zionisten, die einen persönlichen Kontakt mit diesem oder jenem Gast aus Palästina suchen, überhaupt nicht bekannt wird.

Mein Vorschlag geht dahin, daß nach dem Muster einer Einrichtung, wie sie bei den überseeischen Schiffahrtsgesellschaften besteht, die ankommenden Palästinenser sich in einem ständig dafür auszulegenden „Gästebuch“ eintragen. Das Gästebuch wäre zweckmäßig beim „Palestine Lloyd“ aufzulegen und diesem die Verpflichtung zu übertragen, die Meldungen regelmäßig an die Z. V. f. D. weiterzuleiten, wo unter Umständen ein zweites Gästebuch präsent sein sollte, vorwiegend für durchreisende Zionisten aus dem übrigen Ausland. Die Z. V. f. D. hätte die Einrichtung zu treffen, daß mit den auswärtigen Besuchern für die Dauer ihres hiesigen Aufenthalts Treffzeiten und -punkte arrangiert werden und in der „Jüdischen Rundschau“ eine „Gäste-Tafel“ als ständige Rubrik einzuführen. Die Maßnahme wäre später auf andere Plätze, insbesondere auf Kurorte auszudehnen.

Natürlich müßten Presse und Touristenbüros in Palästina und im sonstigen Auslande diesen Gedankenbei den Reisenden populär machen, vielleicht erscheint seine sinngemäße Uebertragung für Palästina hinsichtlich der Ankömmlinge aus dem Galuth angezeigt, und die Exekutive sollte diese Vorschläge in entsprechender Weise für die einzelnen Länder abwandeln.

Die bevorstehende A.-C.-Sitzung dürfte die beste Gelegenheit bieten, um mit diesen Anregungen einen praktischen Versuch zu machen, da ja alsdann eine Anzahl von Delegierten aus Palästina nach Europa kommen und die Teilnehmer aus dem Osten ihren Weg über Deutschland zu nehmen pflegen.

Beobachtungen auf einer Palästinareise und Gespräche mit Touristen leiten zu dem Urteil, wie wenig die lange Schiffsreise und die Spannungen des Reisenden, die in ihnen das erwartete Erlebnis Palästina erzeugt, propagandistisch ausgenutzt werden. Wie Stark empfindet man doch die durch eine innere Regie improvisierten Chöre und Tänze von heimkehrenden Chaluzim, wenn einem das Reiseglück widerfährt, mit einer solchen Gruppe von Menschen die Reise teilen zu können? Sonst aber fehlt jegliche Organisation, jegliche Regie auf den Schiffen hinwärts und rückkehrend, die die aufgelockerte Empfänglichkeit von Menschen in Hochstimmung zum Angriffspunkt einer propagandistischen Idee, die sich um unser Aufbauwerk gruppiert, nimmt. Turnowsky beklagt bereits in Nr. 70/1931 der Rundschau „… daß die erzwungene Konzentration auf den Schiffen für eine systematische Werbung nicht ausgenutzt wird …“.

Es gibt zwar eine Anweisung an die Palästinaämter, Vertrauensleute auf den Schiffen zu bestellen, die den Verkehr mit Palästina vermitteln. Diese Anweisung der Exekutive geht aber an der propagandistischen Aufgabe solcher Vertrauensleute gänzlich vorbei; aber auch in ihren sonstigen Absichten lebt sie nur auf dem Papier. Dabei führt die lebhafte Reisebewegung fast auf jedem Dampfer Palästinakenner und Persönlichkeiten, die Vorträge, informative Veranstaltungen über das Aufbauwerk und über Investierungsmöglichkeiten, über Reiseprogramme im Lande organisieren könnten. Man kennt sich aber nicht auf dem Schiff, wo oft Palästinafreunde aus aller Welt zusammengewürfelt sind, und es ist nicht jedem gegeben, Reisebekanntschaften nach dem Rezept von Scholem-Aleichems Kaßrilowker Reisetypen „… Vun wannent is a Jid, vun wu fohrt a Jid?” anzuknüpfen.

Die Herstellung persönlicher Bekanntschaften und die Pflege eines lebendigen Konnexes zwischen den reisenden Zionisten vermag eine elementare Einrichtung zu gewährleisten, wie sie auf den Dampfern gang und gebe ist, nämlich die Auflegung von Passagierlisten, die sich allerdings bisher nur auf die I. und II. Klasse erstreckt. Die Exekutive dürfte es bei den Schiffsgesellschaften ohne weiteres erreichen, daß das Vorrecht einer kapitalistischen Welt- und Schiffsordnung auf den Palästinadampfern auch den Reisenden III. Klasse zugute kommt. Schon mit so einfachen Mitteln würde man es fast automatisch erreichen, die Arrangierung von Veranstaltungen zu erleichtern geeignete Referenten und Palästinakenner dafür ausfindig zu machen.

Einige der Passagierlisten sollten die europäischen Palästinaämter in den Ankunftshäfen erhalten und sie an die Landesorganisationen überweisen, sie würden als Ergänzung des Materials für das „Gästebuch“ dienen, vielleicht auch für statistische Zwecke ausgewertet werden können. In Palästina sollten aber die Listen vom Zionistischen Informationsbüro für Touristik, dessen gute Arbeitsweise mit den beschränkten Mitteln hervorgehoben werden, aber durch Errichtung eines eigenen Büros in Tel-Aviw erweitert werden muß, im Sinne einer systematischen Erfassung der Ankömmlinge für die Werbung benutzt werden.

Bei den vorstehenden Anregungen handelt es sich um technisch leicht durchzuführende Verbesserungen, die mit einem geringfügigen Aufwand in Gang zu bringen sind. Daneben aber muß eine systematische Werbung auf den Palästinadampfern durchorganisiert werden. Wer den Apparat etwa eines K.-H.-Werbefeldzuges in einer beliebigen Stadt kennt, all die unendlichen Mühseligkeiten und Anspannungen von Rednern und Helfern durchkostet hat, um abseits sich haltende und „zugeknöpfte“ Menschen zu erfassen und zu bewegen, und dies mit den fragwürdigen Ergebnissen einer solchen Kampagne in Beziehung setzt, dem bleibt es unverständlich, warum die allein schon durch die „erzwungene Konzentration“ auf dem Schiff sich ohne weiteres darbietende, aufnahmebereite Masse von Palästinatouristen von der Propaganda geradezu geflissentlich vernachlässigt wird. Und dabei ist eine solche Kampagne gänzlich risikolos; der drive kostet keine Saalmiete, erfordert keine Annoncen, Plakate, Drucksachen, Porti; es ist auch kein Risiko vorhanden, daß diejenigen, die man gerufen hat, nicht kommen, und daß diejenigen, die kommen, womöglich nicht berufen sind, zu hören, sondern zu stören; auch keine Lichtbilder oder Filme brauchen als Zugmittel angewendet zu werden, die Suggestion des lebendigen Gesichts von Palästina schwebt jedem vor dem geistigen Auge als Lichtbild vor und vibriert noch stärker in der Rückerinnerung der Zurückkehrenden.

Diese Stimmung gilt es auszunutzen durch „Werbung auf Reisen“.

In diesem Zusammenhange an die von Turnowsky in dem angezogenen Artikel angeregten Fragen der „Werbung durch Reisen“ eindringlich zu erinnern, gebietet die neue Alijah-Tendenz. Die A.-C.-Sitzung sollte sich mit den Methoden von organisierten Propagandareisen nach Palästina eingehend befassen und diese nüchternen Wirtschaftsdinge nicht etwa als „minima non curat praetor“ von sich abtun.