Zur Biographie: Hans Natonek

Aus: „Berliner Volkszeitung“ vom 9.8.1921, S. 25

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Es liegt nahe, daß Leute, die sonst keinerlei Vorzüge besitzen, sich an das klammern, was allen zu eigen und was selbstverständlich ist: das Nationale. Um aber diesen allgemeinen Wert zu einem besonderen zu machen, ist es nötig, ihn den anderen abzusprechen und sich zu alleinigen Pächtern dieses Wertes aufzuwerfen. Hier habt ihr den doppelten Grund für die in Deutschland ziemlich häufige Erscheinung der „echten Deutschen“ zum Unterschied von den Deutschen zweiten, dritten und vierten Ranges.
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Wie zahlreich sind in allen Ländern die Bekenner: Ich bin stolz, ein Deutscher – ein Franzose – ein Engländer – ein Italiener zu sein. Schön; aber das sollte zu denken geben, warum nur eine Minderheit bekennt: Ich bin stolz, ein Mensch zu sein.
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Erst bin ich Deutscher – dann Mensch. So denken alle Nationen. Dabei ist weder das Nationale noch das Menschliche gut gefahren. Erst – dann: der zeitliche Aufschub wurde nie beendet und zur Harmonie gebracht. Das „dann“ blieb leere Verheißung und vom „erst“ getrennt. Aber ohne das „dann“ taugt das „erst“ nicht viel.
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Auch „Mensch“ ist wie „Deutscher“ eine allgemeine Eigenschaft, die an sich noch keinen Vorzug in sich schließt. Auch „Mensch“ ist wie „Deutscher“ jedes Mißbrauchs fähig. Wie teuflisch versteht die Sprache, das Wort „Mensch“ zu gebrauchen. Zur Beleidigung kann das edle Wort umbetont und durch grammatikalische Mißbildung sogar zum Schimpfwort gesteigert werden: „das Mensch“, „die Menscher“ als Bezeichnung verachteter Wesen. Höchstes und Niedrigstes birgt: Mensch. Untrennbar verschmolzen tönt beides in „ecce homo!“ Siehe diesen Menschen! Niemand vermag zu sagen, ob Pontius Pilatus diese Worte verächtlich oder als Anerkennung höchsten Wertes gemeint hat.
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Manche Leute – es gibt Menschen, die nur Leute sind – gebrauchen „Deutscher“ so, als wäre er der Komperativ, die Steigerung von „Deutsch“; das liegt am inneren Tonfall. Sie sagen „Deutscher“ so unausstehlich, daß man das Gefühl hat, sie meinen sich selbst, während die anderen, die Deutschtum auf eine andere Art bewähren, undeutsch sind. Wie sieht der Superlativ von Deutsch aus? Ich vermute: Alldeutscher.
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Nichts als Deutsch – das könnte Teutonismus, nichts als Mensch – das könnte Schwärmerei sein. Aber beides zusammen, das ist ein beständiger Wettkampf zwischen beiden. Nicht mehr ein Auseinanderfallen: erst Deutscher, dann Mensch, sondern ein Sichsuchen, ein Zielsetzen des einen, ein Nacheifern des anderen, ein Sichübergipfeln, ein beglückendes Sichfinden.
Wenn die Nationalstolzen bange werden um ihren Anspruch auf das bessere Deutschtum, dann rollen sie das Rassenproblem auf und machen die Blutprobe. Blut ist ein ganz besonderer Saft, hat aber nicht die mindeste Beweiskraft für Wert oder Unwert. Die Rassenfrage, in die Debatte geworfen, verwirrt die Köpfe und verschleiert die Kernfrage: was ist wahrhaft deutsch? Es ist ja so unsäglich dumm und primitiv, nur das Rassendeutsche als das Wertdeutsche anzuerkennen. Die Aufwerfung des Rassendeutschtums ist eine Schiebung im Unterbewußtsein, durch die ein Manko verdeckt und das Primat auf Grund lediglich des Blutausweises und Stammbaums aufgerichtet werden soll. Eine kleine Fabel mag das verdeutlichen: Um eine Quelle lagerten friedliche Rinder in bunter Schar. Da kamen ein paar Zuchtbullen drohend angestürmt, im Maul den notariell beglaubigten Stammbaum, und brüllten: Nur wir sind auserwählt, aus der Quelle zu saufen. Sie ist unser! Fort mit euch; ihr seid stammesfremd, nicht echtblütig. Und sie trieben die Rinder fort und machten sich an der Quelle breit, ohne sich weiter um sie zu bekümmern. – Die Quelle, das ist das lebendige Deutschtum, an dem sich laben mag, wer kann; die fortgewiesenen Rinder das sind die Deutschen, die den Nationalstolz nicht auf der Zunge tragen, die Wahldeutschen, deren gewählte Heimat Deutschland ist, und wer die notariell beglaubigten Zuchtbullen sind, das brauche ich nicht zu sagen.
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Die Nation steht am höchsten, die das Nationale vom Rassendünkel frei macht. Der Stammbaum gehört in das Tierreich. Gestüte und Zuchtbullen brauchen ihn als Ausweis. Der Mensch von Wert ist nicht nur Geschöpf seines Blutes. Sein Blut wählt die Heimat; die Heimat ruft das Blut. Es ist ein erstauntes Erkennen, ein freudiges Bewußtwerden, ein Gefühl, das, wie alles Echte, lieber inwendig ist als laut wird.
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„Ich liebe Deutschland, weil ich in keiner anderen Sprache denken und schreiben kann als in der deutschen“, sagte ein Wahldeutscher dessen Eltern und Voreltern zum Teil „stammesfremd“ waren, der also auf jeder Rassenausstellung schlecht abgeschnitten hätte. „Ich liebe Deutschland“, sagte er „weil es mir die Gnade seiner Sprache schenkte, die ich in Ehrfurcht Muttersprache nennen darf. Ich kann nicht anders als Deutschland lieben, denn wenn ich es nicht liebte, könnte ich nicht in seiner Sprache leben, in welcher der deutsche Geist lebt.“ – „Ich liebe Deutschland“, sagte der rassenreine Nationalstolze „weil sein Heer und seine Panzerschiffe machtgebietend sind und seine Handelsbilanz aktiv ist.“ Als aber das Heer und die Panzerschiffe zertrümmert waren und die Handelsbilanz passiv wurde, da wußte er nicht, was er an Deutschland noch lieben solle, und er grollte seinem Lande.
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Jeder liebt an seinem Vaterlande das, was er von ihm empfängt. Wohl dem, der ein unzerstörbares Geschenk erhält. Die Macht ist zerstörbar. Die Muttersprache aber und der deutsche Geist, der in ihr lebt, sind unzerstörbar.
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Es ist nicht ohne Belang, daß Nietzsche es sich ernstlich verbat, als reiner Deutscher zu gelten und auf den polnischen Einschlag in seiner Abstammung Wert legte.
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Es ist ja bei den Menschen nicht wie bei den Tieren, daß die Rassen um so besser geraten, je unvermischter sie sind. Die englische Nation ist das Beispiel einer großen Rassenvermischung und ist immerhin kein ganz unbegabtes und untüchtiges Volk.
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Das Glück, seine Heimat zu wählen, sie zu entdecken, sich zu ihr zu bekennen, an ihr zu wachsen, ist dem eingeborenen Rassedeutschen versagt; denn ihm ist Deutschsein eine Selbstverständlichkeit, das durch die physische Bindung der Geburt Gegebene. Der Wahldeutsche aber steht zu seiner Heimat ganz anders als der selbstverständliche Deutsche; nicht so sicher, leidenschaftlicher, suchender, heftiger. Er durchschaut die Schwächen des Deutschen schärfer und liebt seine Werte inniger. Der Rest von Fremdheit ermöglicht ihm, deutsches Wesen kritisch und objektiv zu sehen.
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Was ist wahrhaft deutsch? Es kann nichts anderes sein, als was wahrhaft englisch, französisch, italienisch usw. ist: also das wahrhaft Menschliche, also die höchsten Eigenschaften und Kriterien des Menschen innerhalb eines Volkes, geäußert in seiner Sprache und im Dienste seiner Erziehung. So entsteht eine Gemeinschaft von Völkern, für die das Nationale selbstverständlich ist und mit dem Menschlichen nicht mehr in Widerstreit steht.

In: AZ, 16.12.1928, S. 17

Zur Biographie: Robert Ehrenzweig (Pseud.: R. Lucas, Neon)

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Berlin. Mitte Dezember.

Berliner Warenhaus: „Seifenabteilung“— „Gang geradeaus.“ — „Steckkontakte“— „Dritter Stock, Lift rechter Hand.“— „Trauerkleider?“ — „Bitte, Halbstock.“ — „Ukrainische Volkskunst?“ — „Dritter Stock, Lift rechter Hand.“ — „Kaffeehaus?“ „Bilderbücher?“ „Antike Möbel?“ „Gewehre?“ „Hosenträger?“ „Bitte, wo ist der Ausgang?“

Rolltreppen gleiten aufwärts mit ihrer un­ruhigen Last von Menschen und falten sich laut­los zusammen, Lifte schießen empor, stürzen ohne Aufprall in die Tiefe. Bunte Menschenmassen wälzen sich über die Treppen, strömen durch die Gänge des paradiesischen Labyrinths.

Aufgestapelt liegen die Reichtümer dieser Erde.

Musik.

„Radioabteilung?“— Bitte, den Gang zu Ende, dann rechts.“— „Grammophone?“ — „Hier zurück, dann links.“

Kleider rauschen im Gehen, Ellbogen streifen einander, der Geruch frisch geölten Bodens und die Ausdünstung von Menschen, der Duft regennasser Mäntel liegen in der Luft. Draußen irgendwo, woher man kam, rieselt Regen vom bleiern grauen Himmel. Hier strahlen die Sonnen anwesender Lampen, die Kleider trocknen in der wohligen Wärme der Zentralheizung. Von den Schirmen tropft das Wasser ab, und auf den schimmernden Strümpfen trocknen die kleinen schwarzen Kleckse von Dreck.

Mikroskope, Feldstecher, Photographische Appa­rate, Radio.

Eine Beethoven-Sonate schwebt in der Luft. Dreiröhrenapparat. Lautsprecher. Tiptop. Ein süßes Adagio von Beethoven wandert mit zu­sammengefalteten Flügeln durch das Warenhaus.

Auftollend durchkreurzt es ein Walzer von Strauß. Gloria-Schallplatten für jedes  Heim. In Qualität und Billigkeit unübertroffen.

Vom Flügel rauscht eine ungarische Rhapsodie.

Aber im Warenhaus klingt noch eine andre Musik. Schwebt überall, über den Badeschwämmen und Ölgemälden, über Wintermänteln und Fischkonserven, über Schreibmaschinen, Puderquasten, summend, unsagbar betörend eine Musik, eine Musik von Zahlen und Namen, die alles Weh und alle Lust der Welt enthält: die Musik des Geldes.

Liebe.

Spiegel, Lippenstifte. Briefpapier, Nagel­feilen. Seidenwäsche, Konfekt.

Die Atmosphäre ist elektrisch geladen von der Erotik der Ware. Der Flirt zwischen Artikel und Konsumenten ist ein leidenschaftserfülltes Spiel. Wanderst du durch ein Spalier kokettierender Luxus- und Bedarfsartikel, so strömt die Liebe und die Sehnsucht, zu  besitzen, aus diesen kost­baren Dingen in dich, erfüllt dich mit betörender Wärme. „Lieber!“ „Liebstes!“ „Daß ich dich nicht besitzen kann!“

Es gibt noch eine andre Liebe im Warenhaus. Oh, ihr jungen Verkäuferinnen mit siebzig bis hundert Mark im Monat. je jünger, desto billiger! Vorschriftsgemäß dunkel gekleidet, ohne Schmuck, außer euren Gesichtern. Müde vom Stehen, müde vom Anbieten und Auskunftgeben. — „Automobile?“— „Im Par­terre.“ — „Gebetbücher?“ — „Erster Stock,

rechts.“— „Kakteen?“ — „Gang geradeaus.“ — „Stempelkissen? — „Im Parterre.“— Müde

vom Gedränge der Menschen und der begehrten Kostbarkeiten.

Früh, pünktlich um acht Uhr, wenn ihr aus Autobussen und Untergrundbahnen strömt, an der Kontrolluhr vorüber, halb Gelächter, halb Schlaf in den Augen, faßt euch das Getriebe des rationalisierten Jahrmarktes. Stößt euch durch die Stunden, saugt euch aus, nimmt euch eure Kraft und entläßt euch dann abends, euch Müde, Ausgepreßte — glücklich in der Er­wartung der Abenteuer des Abends, ängstlich in der Erwartung des häuslichen Elends. Tagsüber ein Automat des Feilbietens, ein Automat der Höflichkeit, dessen einziger Zweck es ist, den Anordnungen der Direktion gemäß zu funktionieren, durch Prämien zu erhöhter Leistungsfähigkeit angestachelt, beaufsichtigt durch die wachsamen Augen der Gehkontrolle. Aber dieser Automat hat unter den vorschrifts­mäßigen Kleidern eine weiße Haut, blau ge­ädert, lebenswarm, Jugend, Liebe, verstohlenes Weinen und Gelächter.

Mittags sitzen die Mädchen eng gedrängt an den langen Tischen. Kostbares Meißener

Porzellan, silbernes Besteck, schillernde Vasen aus Venedig, mit phantastischen Orchideen,

Tischtücher aus Damast, Ananas, Kaviar, glut­voller Wein — weggewischt sind sie aus ihren

Augen, es sind Kostbarkeiten, die sie nur ver­kaufen, nicht genießen dürfen. Klappernde

Blechlöffel, altgeschlagene Teller, Tischtücher voll häßlicher Speisereste, Kartoffelsuppe, Wasser, ja so sieht ihre Tafel aus.

Aber wie Girlanden winden sich ihre Ge­spräche.

„Heute abend gehe ich aus!“ — „Morgen gehe ich mit meinem Freund in den Titaniapalast.“

Photographien wandern von Hand zu Hand. „Gott, o Gott, ist der süß!“— „Guck mal, die energischen Augenbrauen!“— „Wirst du ihn heiraten?“— „Bist du mit ihm zufrieden?“ — 

„Liebst du ihn wirklich, du?“

Dann welken die Girlanden, dann klirrt das Geschirr und die Arbeit geht weiter.

Reichtum

Einmal, im Traume, achtzehnjähriges Warenhausmädel, wirst du, vornehm angetan,

an dem Arm deines Freundes durch die Gänge des Paradieses wandeln, strahlend von Frische und Begehrlichkeit. „Dieser Nerzmantel, wollen Fräulein gnädigst probieren?“ — „Seidenstrümpfe, bitte, in allen Farben!“ — „Fräulein wünschen ein Armband? Wollen Sie nicht ein wenig Platz nehmen?“— „Geschenke für die Mutter, herrliche Näschereien!“ — „Bitte Kasse Nummer 36, gerade gegenüber!“ Der Herr zahlt.

Du ertrinkst in dem Meer deiner erfüllten Sehnsüchte. Du kannst hier in der Konditorei dich krank essen an Schokolade und Schlagobers und kannst nebenan in der Apotheke dir Arzneien kaufen, um wieder gesund, zu werden. Du kannst überhaupt dein ganzes Leben im Warenhaus verbringen, anders als bisher, in einem Taumel des Genießens. Bitte: Restaurant, Café, Erfrischungsraum, Frisiersalons, Wintergarten. Oh, du rächst dich, genießest in vollen Zügen die dir dienende Höflichkeit, lächelst und schließt die Augen, wenn die Verkäuferinnen, die armen, dir Auskunft geben. „Tanzschuhe? Zweiter Stock, bitte!“ — „Wäsche? Bitte. Fräulein, Gang geradeaus.“ — „Südfrüchte? Bitte drüben in der Lebensmittelabteilung.“ Die Welt breitet sich dir aus, ein neues Leben.

Abends geht es nach Hause, du und dein Freund, voll beladen mit Paketen.

Frühmorgens wachst du aus. starrst auf die kalkgetünchten Wände und in deinem Hirn bohrt die Erinnerung unruhiger Träume« und verfolgt dich bis ins Warenhaus.

 ➥ Zur Biographie: Nordau Max

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Zur Biographie: Max Nordau

In: Ost und West: Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, Jg. 4 (August 1904), Heft 8-9 (August-September 1904), S. 563-568.

 

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Theodor Herzl

Mehr als acht Tage sind es jetzt her, dass mich die entsetzliche Nachricht zerschmetternd getroffen hat, und ich habe mich von diesem Keulenschlag noch immer nicht erholt, und ich bin noch immer ganz davon betäubt, und ich muss noch immer eine qualvolle Anstrengung machen, um mir die Tatsache zu vergegenwärtigen,dass Theodor Herzl tot ist.

Wie? Er, der Hochwüchsige, Starke, Unerschöpfliche, immer in Schwingung und Spannung, übersch.umend von Geisteskraft und Einfällen, er, der um zehn Jahre Jüngere, ist vor mir dahingegangen! Und ich muss ihn beweinen! Und ich muss ihm den Nachruf halten! Aber das ist ja ungerecht bis zur Unerträglichkeit! Aber das ist ja so ungeheuerlich, dass man aufschreien möchte!

Von allen Seiten tritt man an mich heran, ich möchte doch über ihn schreiben, weil man weiss, dass ich ihn mit tiefer Freundschaft geliebt habe, die in demselben Masse triebhaft wie bewusst war. Bisher habe ich mit Heftigkeit abgelehnt. Ich verabscheue es, mich zum Schauspiel herzugeben. Ich mag nicht schluchzen im Angesicht von aller Welt. Wenn ich einwillige, hier die erste Ausnahme zu machen, so ist es, weil ich mich hier an allernächste Freunde wende. Wir verstehen uns auf Andeutungen hin. Hier erwartet man nicht, dass ich aus Anlass von Herzls Tod Literatur mache. Ich wäre dazu nicht imstande. Ich kann nur Klagen laut werden lassen, ohne darauf zu achten, dass sie kunstvoll aneinandergereiht sind. Und sogar in dem Augenblick, da ich meine Feder nur den Eingebungen meines Schmerzes folgen lasse, fühle ich etwas wie eine Art Beschämung, dass ich gewissermassen berufsmässig mein eigenes innerstes Gefühlsleben darstelle und den Tod Herzls zum Gegenstand eines Artikels wähle …

* * *

Die tiefen Massen des jüdischen Volkes haben das dunkle Gefühl, dass dieser Tod eines Mannes eine nationale Katastrophe bedeutet. Aber die schlichten Seelen sind noch weit entfernt davon, sich eine genaue Rechenschaft über den Umfang des Unglückes zu geben, das sie trifft, das uns alle trifft. 

Solange Herzl da war, lebendig, immer tätig, allen Anforderungen der Lage gerecht werdend, allen Notwendigkeiten eine Antwort entgegensetzend, allen Widersachern seine Brust darbietend, fand man das alles ganz natürlich, als müsste es immer so sein, so, als könnte es gar nicht anders sein. Aber jetzt, da er verschwunden ist, wird die ungeheure Weite der Lücke, die er zurücklässt, wird die Erkenntnis der Unmöglichkeit, sie auszufüllen, allmählich dem jüdischen Volk eine genaue Vorstellung davon geben, was Herzl war, und es ihm möglich machen, die Grösse seines Verlustes zu ermessen.

Eines Tages bei einem Frühstück, an dem unser Freund Alexander Marmorek teilnahm, sagte ich zu Herzl: „Wenn ich gläubig wäre und wenn ich die Gewohnheit hätte, mich in mystischer Sprache auszudrücken, würde ich sagen, dass Ihr Erscheinen im kritischsten Augenblick der jüdischen Volksgeschichte ein Werk der Vorsehung sei. In diesem beklemmend qualvollen Augenblick bedurfte es eines einzigartigen Menschen, und siehe, da tauchen Sie auf, um den Verzweifelten die Hoffnung wiederzugeben und den Entmutigten die Zukunft zu verbürgen.“

In seiner so aufrichtigen, so weit von jeder Pose entfernten Bescheidenheit errötete er, wurde er beinahe ärgerlich. „Nicht doch!“ entgegnete er, „nicht doch! Wie können Sie so sprechen, Sie, der Sie doch den Wert des Wortes kennen! Es gibt nichts Einzigartiges, nichts Aussergewöhnliches in meinem Fall. Lassen Sie mich verschwinden, und hundert Männer, tausend Männer werden sich sofort dem jüdischen Volke zur Wahl darbieten und das Werk genau an dem Punkte fortsetzen, wo ich es verlassen habe.“

Ich mochte das Gespräch nicht fortsetzen auf eine Voraussetzung hin, die ich für unsinnig erachten wollte. Aber ich schüttelte den Kopf, und Alexander Marmorek tat wie ich.

Was ich damals nicht einmal als möglich ins Auge fassen wollte, das gerade ist nun doch eingetroffen. Herzl ist verschwunden. Und man wird sehen, und man sieht, wie sehr ich recht hatte. Es bieten sich nicht tausend, nicht hundert Männer, nicht einer dar, um ihn zu ersetzen. Er war einzig.

* * *

Er war es, nicht so sehr durch jeden einzelnen seiner vielen Vorzüge, als vielmehr durch deren wundervolle Vereinigung in einer Person.

Er war ein Schriftsteller von sehr grosser Begabung, und wenn er sich hätte konzentrieren, wenn er sich hätte ganz seiner Kunst widmen können, er wäre gewiss im deutschen Schrifttum eine hervorragende Gestalt geworden. Er wäre in die erste Reihe gerückt. Aber ich weiss nicht, ob er der erste Schriftsteller seines Geschlechtsalters geworden wäre.

Er war ein hervorragender Redner: ruhig, sprachgewandt, einfach, immer voll Mass und Geschmack. Seine Form war von einer tadellosen Eleganz, auch in der Stegreifrede. Seine Geistesgegenwart verliess ihn nie. Vollkommen Herr seiner selbst, war er schon dadurch Herr über die aufgeregtesten Versammlungen und die leidenschaftlichsten Erörterungen. Aber er misstraute sich selbst und zog der Improvisation die schriftliche Vorbereitung seiner Reden vor, die er ablas, was natürlich deren unmittelbare Wirkung einigermassen abschwächte, und von seinen wohlbedachten, verständigen, überredenden Worten ging nur selten jener grosse Hauch aus, der auch den Zweifler aufwirbelt und berauscht.

Er hatte eine fruchtbare, schöpferische Einbildungskraft, die für alle Schwierigkeiten Lösungen zu ersinnen und Bilder von hoher Schönheit hervorzuzaubern wusste. Aber seine Dichterphantasie überflügelte doch nicht die von Georges Eliot, deren „Daniel Deronda“ von manchen seinem „Altneuland“ vorgezogen wird.

Er hatte einen durchdringend praktischen Sinn, und er hat ihn bewiesen in dem Organisationswerk der zionistischen Bewegung, der Kongresse, der Jüdischen Kolonialbank und des Nationalfonds. Aber auf diesem Tätigkeitsgebiete können sich die grossen jüdischen Finanziers, Gewerbeleiter, Kaufleute, Verwalter für ihm ebenbürtig halten.

Weniger Dichter als Heinrich Heine, weniger Redner als Disraeli, weniger phantasiereich als die Christin Eliot, weniger Administrator und Organisator als etwa ein Baron Hirsch, war er nichtsdestoweniger grösser als jeder von diesen, weil er all das zugleich war. Und er war noch etwas anderes. Sein Geist war genährt und geschmückt von der modernsten, aufgeblühtesten Gesittung Westeuropas, und sein Herz schlug doch zugleich im Gleichtakt mit den jüdischen Herzen des traditionellsten Osteuropas. In den Dienst der dichterisch kühnsten Konzeption stellte er die vorsichtige, überlegte Methode des mit nüchternster Berechnung abwägenden Staatsmannes. Und um nicht ausser acht zu lassen: Er war auch durch jene Aeusserlichkeiten, durch jene Zufälligkeiten begünstigt, die in den menschlichen Dingen eine so grosse Bedeutung haben. Er war schön, er war gross und wohlgestaltet, er hatte die edle Denkerstirn, das schwarze gebietende Auge, das bezaubernde Lächeln, die warme, starke, weittragende Stimme. Er ward geboren, er wuchs auf im Wohlstand, sein natürlicher Stolz hat niemals die Demütigungen der Armut gekannt, und sein Blick hatte immer die Gewohnheit, gerade und voll den seines Gegenübers zu treffen, auch wenn er ein Kaiser, ein König oder der Papst war. Die materielle Unabhängigkeit hatte sein Rückgrat gestärkt, das niemals gelernt hat, sich knechtisch zu beugen.

Das jüdische Volk hat viel Begabungen hervorgebracht, aber sie waren selbstisch oder unvollständig. Wir hatten Heines, aber sie sangen die Liebe, den Rhein und die Wallfahrt zur Muttergottes von Kevelaar; Jehuda Halevys, aber ihre jüdische Sehnsucht gab sich ganz aus in einem harmonischen Lyrismus; Disraelis, aber was sie schufen, das war der britische Imperialismus; Manasse Ben Israel`s, aber ihr Ideal beschränkte sich auf die Erlangung der Zulassung von Juden in England, Simsons, „geborene Präsidenten“, aber sie liessen sich taufen, um den politischen Versammlungen Deutschlands vorsitzen zu können; Mendelssohns, Apostel westlicher Gesittung, aber sie lehrten die Verachtung der traditionellen jüdischen Werte. Zum erstenmal seit zweitausend Jahren hatte das jüdische Volk einen Mann hervorgebracht, der wundervoll europäisch und zugleich enthusiastischer Jude war; dessen Leidenschaft der grundstürzendste Fortschritt war und der damit einen prachtvollen Geschichtssinn verband; der zugleich Dichter und Staatsmann des jüdischen Gedankens war; der Präsident, Redner, Organisator, Träumer und Tatenmensch war; der vorsichtig war, wo er es sein durfte, und wagemutig, wo er es sein musste; der bereit war zu allen Opfern, und sogar zum Martyrium, soweit es ihn betraf, doch von einer unerschöpflichen Nachsicht und Geduld für alle anderen; der stolz war, vornehm, voll Würde und dennoch bescheiden und brüderlich gegenüber den Einfachsten und Niedrigsten. Dieser Mann war Theodor Herzl, und wir haben ihn verloren, da er 44 Jahre alt war.

* * *

Wir wissen, was ihn getötet hat, sprechen wir nicht davon. Ich will nicht bitter werden. In meine Trauer soll sich kein Zorn mischen.

Ich höre um mich ein Gerede: „Ein Mann der Oeffentlichkeit muss eine dicke Haut haben. Er muss gepanzert sein gegen Angriffe und gegen Verleumdungen.“

Unselige! Glaubt ihr denn, dass er, wenn er unempfindlich gewesen wäre, den Judenschmerz heftig genug gefühlt hätte, um sein Behagen aufzugeben, um sich von seiner vielverheissenden Schriftstellerlaufbahn abzukehren und sich in den lodernden Brand des zionistischen Kampfes zu stürzen? Seine zarte Empfindlichkeit eben war es, die ihn zum Begründer und zum Führer des Zionismus machte, aber sie liess ihn auch grausam alle Wunden fühlen, die rohe und heimtückische Feinde ihm schlugen, und sie war es, die schliesslich sein armes, gemartertes Herz zermalmte.

* * *

Und die Zukunft?

Ich bewahre alle meine Hoffnungen. Aber für den Augenblick möge man mich

nichts fragen in Hinsicht auf die Zukunft; meine Tränen hindern mich noch, sie klar zu sehen.

Paris, den 12. Juli 1904

*aus dem französischen Manuskript übersetzt und vom Autor durchgesehen.

 

Zur Biographie: Max Nordau

In: M. Nordau: Pariser Briefe. Kulturbilder. 2. Vollständig umgearbeitete und vielfach vermehrte Aufl. Leipzig 1887 (o.S.)

 

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