Zur Biographie: Camilla Tauber

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 38. Jahrgang, Ausgabe 5 vom 04.02.1898 S. 51f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Um vollständig die heutige Stellung der amerikanischen Jüdin zu verstehen, ist es nöthig, daß wir uns auch ein wenig mit ihren Müttern und Großmüttern befassen. Noch vor dreißig Jahren wäre der Titel „amerikanische Jüdin“ ein ganz falsch gebrauchter gewesen. Einige isolirte dastehende Fälle ausgenommen, stand die Masse der in Amerika lebenden Jüdinnen durch ihre Denkweise, Gewohnheiten, Erziehung ganz unter dem Einfluß der Sitten ihres Geburtslandes. Als die ersten jüdischen Emigranten aus verschiedenen Ländern Europas sich in Amerika ansiedelten, fanden sie sich nach ihren Nationen zusammen. Die deutschen Juden bildeten ihre Gemeinden und bauten sich Tempel. Ebenso that der ungarische, böhmische, polnische und russische Jude; sie alle übertraf aber noch an Exclusivität der portugiesische. Daraus ist ersichtlich, daß diese Mischung amerikanischer und europäischer Juden sich nicht gleich weder in socialer, noch in religiöser Beziehung in Amerika assimiliren konnte.

Der Handel und das practische Leben brachte die Männer in engere Beziehung; nicht so aber die Frauen, deren religiöse und sociale Entwickelung sich nicht so schnell von den früheren Ein- drücken emancipirte. Hier half die Synagoge in gesellschaftlicher Beziehung stark nach, denn die Stellung der Jüdin richtete sich nach dem Reichthume und der Position der Gemeinde, zu welcher ihr Gatte gehörte. Die Jüdin aus dem Westen paßte gewöhnlich ihren Haushalt und ihre Lebensweise viel schneller der amerikanischen an, als ihre Schwester im Osten. Der Fortschritt der letzteren war ein äußerst langsamer. Da sich der größte Theil der jüdischen Emigranten dem Osten zuwandte, große Körperschaften sich aber nur langsam bewegen, verändern, machten sich die Spuren ihrer Exclusivität im Osten weit mehr bemerkbar. Englisch ist vielen älteren Jüdinnen noch eine ganz fremde Sprache – die amerikanischen Moden finden sie den ihrigen etweder unter- oder übergeordnet.

Wenn wir die socialen Beweggründe betrachten, welche die meisten jüdisch-amerikanischen Pionniere leiteten, muß es uns nicht überraschen, daß sie vornherein nicht gleiches Ansehen wie ihre christlichen Nachbaren erwarben. Denn sie machten es sich zur Aufgabe viel Reichthum zu erwerben, um dadurch ihren in Amerika geborenen Kindern die Vorzüge der Erziehung und Vered- lung zu bieten, die sie zu gleichem Range mit der besseren Classe der amerikanischen Bürger erheben sollte. Zwar konnte der elterliche Einfluß, trotz seines Mangels an Cultur und Bildung, in der ersten amerikanischen Generation, die ererbten Tendenzen nicht ganz verwischen. Dennoch erfüllte die Schule der neuen Welt die Jüdin mit ganz neuer Denkweise. Wenn sie vor der Kanzel den Worten des Redners lauschte, bleib sie unberührt von den Erzählungen von Israels Wohl und Weh, waren ihr gleichgiltig des Predigers Beschreibungen und Traditionen, die ihrem Geiste der Freiheit und Gleichheit so antagonistisch, Erzählungen aus dunkler Vergangenheit, schienen nicht am Platze inmitten des hellen Lichtes, das ihr leuchtete. Ihre Seele war den Lehren abgeneigt, die aus ihr ein anders geartetes Ding, als die andern machen wollten.

Nun kam für Amerika die Zeit religiöser Reform, in welcher fast jeder Rabbiner sein eigener und seiner Gemeinde Gesetzgeber wurde. Der Glaube an viele religiöse Ceremonien wurde zerstört, die Speisegesetze waren bald ein überwundener Standpunkt; mit ihnen schwand noch die Beobachtung anderer religiöser Vorschriften im Hause, deren strenge Hüterin und Bewahrern die Jüdin seit undenklichen Zeiten war. Die Kanzel bezeichnete der Jüdin fast Alles als sinnlos, worauf ihre Mutter mit Werthschätzung blickte. Doch trotz all dieser neuen Lehren konnte sich die schon in Amerika geborene Jüdin nicht ganz von dem elterlichen, religiösen Einflusse frei machen und wurde so eine Art Bindeglied zwischen der Jüdin des Ghettos und dem Gegenstand unseres Artikels, der jetzigen freiheitsliebenden amerikanischen Jüdin.

Von der Wiege bis zur Reise konnte sie sich unbehindert dem Muster amerikanischer Weiblichkeit nachbilden. Nichts in ihrer Umgebung erinnerte sie an die unglückliche Vergangenheit ihres Volkes, kein einziges Gesetz ihres Landes konnte in ihr die Vorurtheile und Verfolgungen, durch welche ihre Vorfahren litten, zurückrufen. Sie hat auch keine alten Großeltern, um derentwillen die alten Formen gehalten werden müssen; anstatt daß sie eine religiöse Anleitung von ihrer Mutter erhielte, wird die junge amerikanische Jüdin die Lehrerin ihrer Eltern. Sie brachte das Licht einer neuen Erkenntnis ins Haus, sie ignorirte die Muttersprache ihrer Eltern und hing der Landessprache an. Nach und nach übertrug sie auch ihren Gedankengang auf ihre Mutter und überzeugte dieselbe, daß man den neuen Lebensbedingungen durch moderne Maßregeln Rechnung tragen muß.

Eine wunderbare Combination der Umstände, und das unaufhörliche Vorwärtsschreiten der Frauen hat die amerikanische Jüdin auf eine gleiche Stufe mit den anderen Amerikanerinnen gestellt. Sie kam aus dem Widerspruch der Vergangenheit und Gegenwart hervor, freilich auf Kosten der religiösen Ceremonien. Trotzdem ist sie ihrem Glauben und Race treu und der Mischehe nicht geneigt. Ihre religiöse Mission im Hause aber hat sie vollständig vergessen; der Sabbat hat viel von seiner Heiligkeit eingebüßt. Die fortschrittliche amerikanische Jüdin sieht nichts Böses darin, daß die Lehren Moses am Sonntage erklärt werden, und das Gute, was Mohamed oder Martin Luther gesprochen, hört sie gerne, wenn es auch ein Rabbiner von der jüdischen Kanzel wiederholt.

Die amerikanische Jüdin ist ein actives Mitglied ihrer Gemeinde. Verhältnismäßig ist zwar ihr Besuch der Gotteshäuser gering, aber die geräumigen, luxuriösen Tempel blieben fort leer ohne sie. Sie fördert in Wort und That das materielle und geistige Wohl ihrer Synagoge. Wahrhaft anerkennenswerth ist der Eifer, mit dem sie sich in der Sphäre der Wohlthätigkeit bewegt. Diese ist ihr Reich; alle ihre Sympathien gehören den Armen; sie excellirt in Mildthätigkeit. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie ein Beispiel für edle Nächstenliebe des Gemüthes ist, denn darin ist die Amerikanerin im Allgemeinen weit zurück. Ihr Feld ist das praktische, materielle. Sie gibt in Wirklichkeit und erleichtert die Bürdern der Armen und Bedürftigen und widmet sich mit Leib und Seele diesem Werke. Unsere Jüdin strebt allerorten Hilfe an, näht den Armen Kleider, arrangirt Bälle und Bazars um die Hilfsfonde zu bereichern, fördert die Erziehungsanstalten und hat Schwesterschaften ins Leben gerufen, die unermeßlich viel Gutes thun. Wenn man die Jahresberichte dieser Vereine liest, hat man das Gefühl, daß gute Feen sich ins Mittel gelegt haben, um das menschliche Elend zu erleichtern.

Die amerikanische Jüdin hat jetzt ihren Stadt-, Staat und National-Rath, der aus mehreren Tausend Jüdinnen, aus allen Theilen der Vereinigten Staaten besteht. Doch außer seiner Organisation hat derselbe noch wenig oder nichts von Bedeutung errungen. In seiner ersten Sitzung im November 1896 erklärte sich der Bund für die Reinstallation des siebenten Tages, des Sabbates, doch wurde bis jetzt kein einziger Schritt dazu officiell eingeleitet. Die localen Sectionen sind in Classen getheilt, deren Aufgabe Humanität ist. Durch die Vereinigung sind viele jüdische Frauen in den Vordergrund gestellt worden, von denen man früher weder in literarischer, noch in socialer Beziehung gehört hatte, die sich aber mit dem Anpassungsvermögen der Amerikanerin rasch in die Situation einlebten und vom Beginne das jüdisch-amerikanische Weib gut repräsentirten.

Das Familienleben der amerikanischen Jüdin gestaltete sich nach der allgemeinen Sitte des Landes. Sie genießt dieselbe Freiheit wie ihre andersgläubige Schwester. In ihrem Heim mag sie den Platz einnehmen, der ihr im „Lied vom Biederweibe“ angewiesen ist, als weise, wachsame Leiterin; doch geht sie keineswegs ganz in ihrer Häuslichkeit auf. Sie ist überall zu sehen, in den Straßen, in Geschäften, Restaurants und Parkanlagen. Während sie ihre Töchter mit wachsamen Auge hütet, genießen diese gleich den anderen amerikanischen Mädchen vollständige Freiheit in gesellschaftlicher Beziehung. Heirat ist das Ziel der amerikanischen Jüdin, wie es das ihrer Großmütter war, doch wird sie in Erlangung desselben nicht von einem „Schadchen“ oder ihren Eltern unterstützt, und es ist in der That nicht ungewöhnlich, daß ein jüdisches Mädchen diese mit der Anzeige ihrer Verlobung überrascht. Sie mag ihre Eltern ebenso lieben, wie die Jüdin längsvergangener Zeiten, doch fehlt es ihr an Hochachtung. Kinder betrachten ihre Eltern als theure, gute Freunde, aber nicht mit Ehrfurcht als Respectspersonen. Dieser Zustand – glaublich oder nicht, ist einfach „amerikanisch“.

Ich glaube nicht, daß die amerikanische Jüdin mehr auf schöne Kleidung und äußeren Schmuck hält, als z. B. die Jüdin zur Zeit Jesaias oder die Frauen anderer civilisirter Nationen. Doch da die reiche Jüdin nicht immer die bessere Jüdin ist, so ist es oft der Fall, daß die Frauen, die die luxuriösesten Wohnungen in den aristokratischen Vierteln großer Städte haben, sich nicht immer bemühen, die ruhig edle Art ihrer Nebenschwestern anzunehmen. Dies kann oft Vorurtheil gegen die Race in noch eingenommenen Gemüthern erwecken.

In der thätigen amerikanischen Frauenwelt ist sie noch eine Null. Von den männlichen Mitgliedern der Familie unterstützt, arbeitet sie nicht, insolange sie nicht dazu gezwungen ist. Doch beginnt sie einige Zeichen intelectueller Regsamkeit zu zeigen, und wir hören hie und da von einer Jüdin die Arzt, Advocat, Schriftstellerin, Künstlerin etc. ist. Die amerikanische Gesellschaft hat bislang der Jüdin wenig Gelegenheit geboten, ihre Fähigkeiten als Führerin zu entfalten, wenn sie solche hat. Durch ein ungeschriebenes Gesetz scheint sie von jeder officiellen Thätigkeit für Gemeinde-, Staat- und National-Wohl ausgeschlossen zu sein. Die Städte des Westens haben einige Ausnahmen in dieser Beziehung gemacht.

Durchschnittlich beginnt die amerikanische Jüdin in ihrem Aeußeren fast vollständig den anderen Frauen zu gleichen, und nur ein scharfer Beobachter bemerkt den jüdischen Typus. Unter dem Sternenbanner, dem stolzen Emblem der Freiheit haben sich die phisischen Eigenthümlichkeiten der Jüdin merklich gehoben. Mit der Zeit wird sich zu ihrem jetzigen strengen, energischen Aeußern die verfeinerte, gesetzte Schönheit der gebildeten europäischen Jüdin gesellen.

Zum Lobe der amerikanischen Jüdin sei es gesagt, daß sie ihr Vaterland unaussprechlich liebt; ihr Patriotismus ist angeboren und unauslöschlich und für ihre Heimat wird sie ihr Gold und ihre Juwelen ebenso bereitwillig opfern, wie ihre Urahne es für ihre Religion that.

Die auf den alten, idealen Gesetzen begründeten moralischen und bürgerlichen Tugenden der Jüdin werden immer dieselben bleiben. Ihr Einfluß übersteigt alle Grenzen des Klimas und Landes. Rachel, die Stammmutter Israels, muß über ihre amerikanischen Töchter nicht weinen. Trotzdem eine neue Aera mit veränderten Bedingungen heraufdämmerte, sie an allen Leiden und Freuden ihrer Nation Antheil nimmt, giftig Alles was neu und schön ist zu erreichen strebt, bleibt sie doch Jüdin in Geist, Gefühl und Glauben.

Nach Jew. World.

Camilla Tauber, Prerau.

➥ Zur Biographie: M. Teller

In: Oesterreichisches Central-Organ für Glaubensfreiheit, Kultur, Geschichte und Literatur der Juden, Ausgabe vom 24.03.1848, 173ff

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

»Auf nach Amerika!« tönt es von allen Seiten, »auf nach Amerika!« hieß es in dieser, hieß es auch in andern Zeitschriften. Ich will nicht die Herloßson’sche Tirade: »Nur nicht zur See!« mit allen ihren fantasiereichen Konsequenzen diesem Aufrufe entgegen stellen, weil vielleicht doch eine Zeit kommen könnte (was aber Gott verhüten möge), wo ich selbst in diesen Aufruf einstimmen werde, für heute frage ich nur: warum nach Amerika? Warum? – um dort frei zu sein! – Erlauben Sie mir, verehrte Leser! die Sie schon mehr als einmal mit mir Geduld hatten, der vorerwähnten Frage eine andere entgegen zu stellen. Sollen wir denn die Scholle verlassen, wo unsere Wiege gestanden, sollen wir die Heimat verlassen, wo wir einst an der Seite unserer Theuren auf immer von des Lebens Mühen auszuruhen hofften – sollen wir sie verlassen ohne etwas gethan zu haben um frei zu werden? Soll das stumme und gebrochene Herz des greisen Vaters, soll das von Thränen geröthete Auge der Mutter, der scheue Blick der Gattin auf alle die Ihren, die sie nun verlassen muß – soll uns dies und noch manches andere wehmüthige Bild nicht dazu bestimmen alles anzuwenden, um frei zu werden? – Diese Frage richte ich an Euch, meine treuen Glaubensbrüder! die Ihr Geist und Herz und Kraft habt ein ernstes Wort zu sprechen, und mit Eurem Geiste und Eurem Herzen zu rathen, und mit Eurer Kraft zu helfen. »Keine Bitte, wo das Recht auf unserer Seite,« so, irre ich nicht, sprach unser würdige Mannheimer, wohl! – aber auf alle Hindernisse zeigen, die unserem Rechte entgegen stehen; die unlautern trüben Quellen zeigen, aus welchen man das Recht unserer Zurückstellung schöpft; die Verkehrtheit der Ansichten darstellen, die man in Bezug auf unsere jetzige und unsere künftige Stellung hat; den Flor vom Ange ziehen, den Schleier zerreißen, welchen der Wahn vor das Auge derjenigen gespannt, die uns verkennen – dies glaube ich ist’s was wir noch zu thun haben, bevor wir allgemein in den Ausruf stimmen: Auf nach Amerika! – dies, glaube ich, hat noch zu geschehen, wenn wir nicht die Sünde auf uns laden wollen, dem Vaterlande, das uns freilich verkennt, so viele physische, materielle und intellektuelle Kräfte zu entziehen; Kräfte, die ihm zur Zeit der politischen und socialen Wirren ihren Verlust nur um so deutlicher fühlen ließen.

Nach dieser kurzen Einleitung sei es mir nun vergönnt zur Lösung der von mir aufgeworfenen Fragen einen kleinen Beitrag zu geben, und auf eines der wichtigsten Hindernisse hinzuweisen, das unserer Freiheit entgegen steht.

Die Staatsreligion, welche in unserem und in andern Ländern besteht, ist und war von jeher die Hauptursache aller uns so hart treffenden Zurücksetzungen. Glaubenshaß, der vom Volkswahne nur noch mehr genährt wird, ist stets die Folge einer bevorzugten Staatsreligion, und er wird so lange bestehen, als es eine bevorzugte Staatsreligion gibt. Eine bevorzugte Staatsreligion ist aber die größte Inkonsequenz, die es in einem konstitutionellen Staate gibt, wenn seine Konstitution eine dem Zeitgeiste entsprechende demokratische ist; denn sie gefährdet die Gleichstellung und gleiche Berechtigung seiner Einwohner. Wenn auch eine Staatsreligion in unserer Verfassungsurkunde vom 25. April nicht deutlich ausgesprochen, so ist ihr Bestehen doch nicht zu verkennen, wie wäre denn sonst der §. 27 entstanden, würde nicht eine bevorzugte Staatsreligion bestehen und vielleicht weiter bestehen sollen (?), wozu wäre es nöthig gewesen erst eine Berathung anzuordnen, um die Verschiedenheiten der bürgerlichen und politischen Rechte einzelner Religionskonfessionen u. s. w. zu beseitigen und aufzuheben. Steht diesem nicht der §. 24: »Jeder Staatsbürger kann Grundbesitzer sein, jeden erlaubten Erwerbszweig ergreifen, und zu allen Antern und Würden gelangen,« als eine Ironie gegenüber; und zeigt dies nicht auf das Bestehen einer Staatsreligion, wenn sie auch (vielleicht nach Einflüsterung der Reaktionären) in der Verfassungsurkunde nicht ausgesprochen ist. Gäbe es aber keine Staatsreligion, keine Bevorrechtung eines Dogma’s, keine Bevorzugung eines Kultus, so wären Haß und Neid, und Verfolgung in der letzten Zeit nicht mit so maßlosem Unheil aufgetreten. Nicht durch die Differenz der Dogmen und des Kultus einer Religion, sondern durch deren Zurücksetzung maßte sich die bevorzugte an sie zu bevormunden, ja sie zu knechten; und wie man auch theoretisch beweisen möge, daß die Konstitution gegen ein solches Verfahren, praktisch hat man sich nicht davon überzeugen können. Freilich wird mancher, der nicht mehr weit hat, um sich unter Eisenmengers Fahne zu scharen, ausrufen: Die christlichen Konfessionen sind gleich gestellt, die Juden können warten bis sie uns überzeugen, daß sie dessen reif und würdig sind.

Unwillkürlich erinnert mich dies an den Mann des »Systems,« der mir um seines Systems Willen stets verhaßt war, und Niemand wird mich für seinen Panegyriker halten, wenn ich erzähle, was mir von ihm – der nun in der Eanton-Street zu London eine Ruhe genießt, um die er uns gebracht – in Betreff meiner Glaubensbrüder schon vor längerer Zeit mitgetheilt wurde. Als man ihm die Emanzipation der Juden in Vorschlag brachte, habe er geäußert: Die Juden sind ihrer reif, aber das Volk ist es nicht. Hat er mit diesem Ausspruch gelogen, so zeigt es, Ihr Männer des Staates, die Ihr Euch versammeln werdet, um über den §. 27 der Verfassungsurkunde zu berathen, sprecht es aus das Wort: Gleichstellung, gleiche Berechtigung aller Konfessionen. Zeigt ihm, daß auch dieser Ausspruch wie sein ganzes System auf falscher Ansicht beruhte, und das seine Bornirtheit so viele tausend und tausend treue, an Oesterreich mit heißer Liebe hängende Unterthanen Jahre lang geknechtet, und gräßlich darnieder gedrückt. Wäre sein Ausspruch aber vielleicht die einzige Wahrheit seines Lebens gewesen, dann ist die Unreife des Volkes für die Emanzipation der Juden nur eine traurige Folge der bevorzugten Staatsreligion, in welcher trotz ihrem (?) Prinzipe der Nächstenliebe ihren Bekennern schon in der frühesten Jugend gezeigt wird, daß der Nichtbekenner ihres Dogma’s darum zurück gesetzt werde, weil er nicht »nach ihrer Façon« selig werden will, und dann – dann ist es an Euch, die Ihr Euch beim Reichstage versammeln werdet, seine einzige Wahrheit zur Lüge zu machen, jeden Punkt, der irgend einen Schein von bevorzugter Staatsreligion an sich hätte, aus diesen und andern selbst für christliche Kirchen wichtigen Gründen bei der neuen Gesetzgebung auszuscheiden, damit die Worte unseres gütigsten Kaisers wahr werden mögen. Mit gleicher Liebe lieb ich meine Kinder, sprach unser alle seine Unterthanen väterlich liebende Ferdinand; aber die durch die Staatskirche Bevorzugten können und werden dies nicht glauben wollen; darum Gleichstellung aller Konfessionen, Abschaffung jedes Scheines einer Staatskirche, einer bevorzugten Staatsreligion.

 

Zur Biographie: Leopold Thaler


in: Wiener Morgenzeitung Nr. 2623, 22.6.1926, S. 3.

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Habima ist abgereist. Es waren Tage der Erfüllungen und Phantasien. Der Traum vom hebräischen Wort auf der Bühne wurde verwirklicht, die Phantasie von einem hebräischen Leben, von einem hebräischen Zentrum lebte auf. Das Märchen, die fast tägliche Pilgerfahrt auf die Insel der Träume, der Leidenschaft und der Erfüllung mitten im Meer der Gleichgültigkeit, des Unverständnisses und des Hasses ist vorüber. Nur der Abschiedsschmerz, die Sehnsucht und die Reflexionen blieben uns zurück.

*

Einstimmig fast war das Lob der Künstler des Theaters. Stürmisch die Begeisterung. Ehrlich und heiß die Polemiken. Von Tag zu Tag wuchs das Publikum mit seinem Theater. Zu kurz war die Habima in Wien, um sich ein Publikum zu schaffen. Ein würdiges und ein verständnisvolles. Und doch konnte man auch in dieser kurzen Zeit schon Ansätze dazu sehen. Die Krise des heutigen Theaters leuchtete in ihren Ursachen auf: den verschiedenen Theatern fehlt heute der starke, individuelle Wille, die ganze Hingabe an ein besonderes Ziel. Dieser bestimmte, ausdrückliche, künstlerische Wille, der unzweifelhaft die künstlerischen Fähigkeiten des einzelnen und der Gesamtheit erhöht, ist auch der große Führer und Erzieher des Publikums. Das Theaterpublikum ist nicht viel anders als z. B. die politische Volksmasse: es liebt eine klare, konsequente Stellungnahme, und nur von einer solchen läßt es sich fesseln und erziehen. Die Habima führt nun in den fünf Vorstellungen, die sie uns gezeigt hat, einen abgeschlossenen Abschnitt der eigenen Lebensgeschichte durch die Welt. Einen Abschnitt, in dem ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Kunst und zum Volk zum Ausdruck kommt. Die Kunst ist in den Dienst der großen Wiedergeburtsidee des Volkes gestellt worden und ist nur um sie und für sie. Die Idee der Erneuerung im Zeichen der Arbeit und der realen Bemühung ist der tiefste Inhalt der Dramen, die die Habima spielt. Besonders in der Art, wie sie sie spielt. Die Tragödie, der Schiffbruch des Wunders wiederholt sich fünfmal. In jedem Stück erweist sich dessen schließliche Ohnmacht.

In der Form wählten die Künstler der Habima konsequent die Stilisierung durch die Maske und durch das Gruppenspiel. Vielfach wurde vom Ueberwuchern der Masken und Schminke zuungunsten des Mienenspieles in der Habima gesprochen und die Kunst der Habima sogar Ersatz der Schauspielkunst genannt. Diese Ansicht stimmt nur dann, wenn man Schauspielkunst mit reinem Mienenspiel identifiziert, was aber eine willkürliche Beschränkung des Schauspielens wäre. Die Kunst der Maske und der stilisierten Darstellung von Charakteren und Inhalten ist ebenso eine Art der Schauspielkunst wie die Mimik. Mag sein, daß dem westlichen Menschen mehr die mimische Schauspielkunst entspricht, als theatralische Ausdrucksform hat aber jene Art der Habima unzweifelhaft ihre Berechtigung.

Für die Habima ist aber, wie fast alle Künstler einstimmig erklärten, die Epoche der Stilisierung abgeschlossen. Die Habima sucht jetzt nicht nur ein neues Repertoire, sie will auch neue Schauspieler erziehen und eine neue theatralische Form finden. Das ist vielleicht die größte kulturgeschichtliche Bedeutung der Habima, daß sie durch alle Stile der europäischen Theaterkunst sich hindurcharbeiten muß, bis sie den eigenen hebräischen Stil wird schaffen können. Einen Theaterstil ganz ohne Tradition zu schaffen, ist eben nicht leicht. Und da muß man schon manchmal Ueberbetonung des Fremden oder vom künstlerischen Standpunkt nicht ganz einwandfreie Lösungen des Stilproblems (z. B. der jüdische Gesang in der Bar Streatons in Bergers „Sintflut“) mit in Kauf nehmen. Wie wird das alles aber von der wunderbaren Gesamtleistung im „Dybuk“, im „Ewigen Juden“, in „Jaakobs Traum“ überschattet. Und von der hingebungsvollen, ehrlichen Kunst fast jedes einzelnen in allen fünf Stücken! Schauspielerisches Talent haben sie alle und das Schönste an ihrer Menschlichkeit ist, daß ihnen die Schauspielkunst nur Beruf ist, um die großen Ideen der Volks- und Menschheitserneuerung zu verwirklichen. Das skeptische Lächeln auf den Lippen des westlichen Menschen entlarvt den Abgrund der europäischen Kultur und des westeuropäischen Theaters. 

*

Der Sprache der Habima erstanden viele Richter. Nicht diejenigen sind gemeint, für die das Hebräische der Habima irgendwie problematisch war; nicht die Jiddischisten zum Beispiel, denn mit denen ist eine Diskussion entweder aussichtslos oder sie haben schon eingesehen, daß die einzige Sprache, in der die Habima spielen kann, auf der ganzen Welt und in Palästina, für das jüdische Volk und in seinem Namen – die hebräische ist. Nein, aber es gab manche, die geradezu Ignoranten der hebräischen Sprache sind und nuancierte Fehler der Aussprache oder der Grammatik, die vielfach ganz unbedeutend oder gar völlig unzutreffend sind, hervorstöberten, um sich mit ihrer „Reinheitsschwärmerei“ patzig zu machen. Obwohl die Habima unzweifelhaft im Laufe ihrer Entwicklung, die erst in den Kinderschuhen steckt, auch auf dem Gebiete der hebräischen Sprache wird viel zulernen müssen, so ist gerade jetzt, wo so viel und so Bedeutendes geschaffen wurde, eine Pedanterie unzweckmäßig und lächerlich. Die Verkleinerer der Habima durch das Hintertürl eines Lamed oder He mögen zunächst so viel Hebräisch lernen, wie die Künstler der Habima schon können und dann werden sie zu der Sache wahrscheinlich auch eine genügend große Liebe haben, um mit dem Reinigungsprozeß auf den richtigen Augenblick zu warten.

Jetzt kommt es zunächst darauf an, der Habima ein Heim in Palästina zu bauen. Dem hebräischen Theater die Verwurzelung im hebräischen Land zu ermöglichen. In der Atmosphäre Palästinas und ihrer Pioniere wird die Habima sowohl auf dem gesamttheatralischen als auch sprachlichen Gebiete sicherlich den eigenen, jüdischen Stil und die Reinheit und Echtheit des Ausdruckes finden. Der ehrliche Wille, die Hingabe und das Talent der Künstler ist vorhanden; bahnt ihnen den Weg! Der einzige Dank an diese uns so teuer gewordenen Pioniere der hebräischen Kunst ist Mitarbeit und Hilfe. Vielleicht weckt die Kunst die Gleichgültigen?! … 

Wien 1915.

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