In: Neues Museum der Philosophie und Litteratur 2 (1804) 1. Heft, S. 125-146 (1. Teil)

Neues Museum der Philosophie und Litteratur 2 (1804) 2. Heft, S. 139-162 (2. Teil)

Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von K. P. Moritz. In 2 Tlen. Berlin 1792/93.

1. Teil

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2. Teil

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Frankfurt a. M. [1907] (Die Gesellschaft, Bd. 9).

Zur Biographie: Fritz Mauthner

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München 1918.

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In: Selbstwehr, 12. Jahrgang, Ausgabe 29, 30, 32 und 38

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In: Wiener Morgenzeitung (6.1.1924), 10.

➥ Zur Biographie: Samuel Meisels

Transkription

Der jüdische Witz, der mehr aufs Begriffliche als aufs Anschauliche eingestellt ist, äußert sich zumeist, seiner Eigentümlichkeit entsprechend, in einem packenden, verblüffenden Wortspiel. Der jüdische Witz ist Wortwitz. Er sucht die Sache durch das Wort, den Gegenstand durch seine Benennung zu überwinden; er kümmert sich weniger um die Dinge als um ihre Namen. Nicht das Mannigfaltige, sondern das Vieldeutige ist seine Domäne. Nicht die Aufdeckung ähnlicher Merkmale in verschiedenen Dingen, sondern das Herausgreifen verschiedener Deutungen in gleichlautenden Worten ist seine Aufgabe. Nicht das Gleichsein, sondern der Gleichklang bildet seinen Wert. Deshalb ist in ihm eine Art von Rhythmus, etwas Vibrierendes und Schwingendes, ein anregender und aufheiternder, wenn auch die Lachmuskeln selten berührender Wohllaut, und mag er auch die größten Ungereimtheiten sagen – es reimt sich immer.

Er greift das Wort aus irgendeiner Wendung heraus und läßt es in allen möglichen aber auch unmöglichen Nuancen spielen. Er zerlegt das einzelne Wort in seine Silben, wechselt die Betonung, schiebt nach Willkür andere Vokale dazwischen, bis er den Spruch in seinen Widerspruch aufgelöst und die frühere Behauptung in ihr Gegenteil umgewandelt hat. Dabei sagt er dasselbe, was früher gesagt worden ist, und hebt dennoch das früher Gesagte auf. Darin besteht denn auch seine ganze Fertigkeit.

Wenn Kürze wirklich des Witzes Würze ist, so ist der Wortwitz der würzigste unter allen anderen Witzgattungen. Denn: Kürze ist des Wortwitzes Tugend. Der Wortwitz ist

nicht mehr als ein Wurf, der gelingt, eine rasche Wendung im Vorbeigehen, und er schafft nur Neues, indem er das Alte wiederholt. Seiner Wesensart entspricht es nicht, Neues zu

schaffen, sondern das Empfangene in anderer Gestalt wiederzugeben. Der Wortwitz schafft nichts, weil er kein Produkt des schöpferischen Geistes ist. Er ist das Erzeugnis einer übersprudelnden Laune, das freie Spiel einer voltigierenden Augenblicksstimmung, die, wie ein geschickter Ballspieler den Ball, das Wort von sich schleudert und es sozusagen im Sprung wieder auffängt.

Wer einen Wortwitz macht, bei dem muß das Gefühl für den im Worte schlummernden Rhythmus stark lebendig sein. Denn häufig wird nur durch die Veränderung des Tonfalles die gewünschte Wirkung erzielt. Jener Schauspieler, der mitten in einer „Carlos“-Aufführung als Marquis Posa statt „O Sir“ das Wort „Osser“ in den Zuschauerraum hineindonnert— wodurch das geflügelte Wort „Osser, sagt Schiller“ entstanden ist —, hat nichts weiter getan, als die bekannte Anrede auf einen Ton tiefer gestimmt.

Einen stark entwickelten Sinn für die Betonungsmöglichkeit des einzelnen Wortes bekundet auch jener Heiratsvermittler, der einem jungen Mann auf die Bemerkung, daß er nur ein ehrbares Mädchen heiraten würde, die vielsagende (nebenbei gewisse Kreise trefflich charakterisierende) Frage entgegenhält: „Legen Sie mehr Wert auf ehr oder aus

bar?“ Hier zeigt sich eine neue Abart des Wortwitzes, die darin besteht, daß sie das einzelne Wort zerlegt, Silbe von Silbe trennt und dadurch des Wortes Einheit in eine Vielheit auflöst, deren Bedeutung seinen ursprünglichen Sinn in scherzhafter Weise entstellt. Ähnlich verhält es sich auch mit dem bekannten Ausspruch: „Ein Mädchen mit zwanzig Jahren hat Hochzeit, bei einem Mädchen von dreißig Jahren ist’s hoch Zeit.“ So soll ein mit Töchtern reich  gesegneter Vater einmal gesagt haben; diesem Mann war es also kein Wortwitz, sondern ein Erfahrungssatz.

Vom Augenblick geboren, ist der Wortwitz von der Gunst des Augenblicks abhängig. Dieses blitzartige Aufleuchten, dieses rasche, zeitlich kaum zu begrenzende Zusammentreffen von Wort und Wort mag vielleicht auf eine gewisse Gedächtnisroutine zurückzuführen sein: ein Wort weckt die Erinnerung an alle seine eigenen Bedeutungsmöglichkeiten oder an ein anderes Wort gleicher Klangfarbe. Bei Ludwig Börne, der häufig den Wortwitz anwendete, können wir es an manchen Stellen beobachten. Einen Brief aus Bruchsal datiert er einmal: „Trübsal, den 18. November 1820″, und fügt gleich hinzu: „Bruchsal heißt der Ort, aber mir ist er ein Trübsal und Scheusal. Wenn die Verzweiflung Witz gibt oder nimmt, so werde ich hier ein Voltaire oder ein Kretin. Ich möchte aus der Haut fahren, hätte sie nur eine Öffnung, die groß genug wäre, mich durchzulassen.“ Ein anderes Mal schreibt er aus München am seine Freundin Jeanette Wohl

und bittet sie, den Ortsnamen so auszusprechen, daß sie an den Nachmittagsgottesdienst der Juden erinnert werde (Börne meint das Wort Minchah, das wahrscheinlich im Frankfurter Jargon „Minchen“ ausgesprochen wurde). In Anerkennung und Dankbarkeit für die geistige Förderung, die ihm durch Jeanette Wohl wurde, unterzeichnet er seine an die

Freundin gerichteten Briefe „Dr. Börne geb. Wohl“. Aus dem geborenen Wohl wird aber bald ein Wohlgeboren, und mancher Brief ist unterschrieben: „Dr. Börne Wohlgeboren.“ Kein schlechter Witz für den, der den Zusammenhang kennt; dagegen eine Geschmacklosigkeit für den, der diese Unterschrift mißversteht, oder sie gar ernst nimmt.

            Ebenso wie die verschiedenen Bedeutungen ein und desselben Wortes nützt auch der Wortwitz die etymologischen Abstufungen und Schattierungen und löst nicht selten substantivierte Infinitive, Adjektiva und Partizipia in ihre ursprüngliche Form auf. Saphir war darin Meister. Wenn er einmal sagt: „Ein Doktor der Rechte ist nicht immer der rechte Doktor,“ so wird ihm mancher recht geben. Oder wenn er auf die Frage, warum man einen Gesandten nicht einen Geschickten nenne, die Erklärung gibt, daß ein Gesandter zwar gesandt, aber meistens nicht geschickt ist, so hat er diese Erklärung höchst geschickt formuliert. Oder wenn er dem Baron Rothschild, den er wegen eines versprochenen Darlehens besucht und von diesem mit den Worten empfangen wird: „Sie kommen um ihr Geld, Herr Saphir?“ prompt antwortet: „Nein, Herr Baron, Sie kommen um ihr Geld“, so hat er den Doppelsinn der Wendung „um etwas kommen“ gewissermaßen im Fluge für sich ausgenützt. 

danke nnd Forni bilden eine Einheit. Die beiden Einhciten
konnen sich nicht vollstandig decken, aber jede von beiden
starkt und vertieft die anderc.

➥ Zur Biographie: Ella Mensch

In: Jüdische Volksstimme, 11. Jahrgang, Ausgabe 39 vom 28.09.1910, S. 9

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Der Zionismus zählt zu den edelsten und gerechtesten sozial-religiösen Bewegungen unserer Zeit. Aber er ist in der Hauptsache noch eine Männerbewegung, in welcher die Frau noch so gut wie gar nicht die ihr gebührende Rolle eingenommen hat. In „Altneuland“* von Theodor Herzl wird wohl das weibliche Element in die erwachende palästinensische Zukunftskultur hineingezogen, aber niemals geht von ihm eine Initiative aus. Das halte ich für eine empfindliche Lücke in der Bewegung und gerade weil ich hier nicht pro domo spreche, möchte ich mir erlauben, die Träger der Bewegung, von meinem christlich-germanischen Standpunkt aus, auf ein stärkeres Heranziehen der Frau, der Frauenkraft hinzulenken.

Der Zionismus, wenn er mehr als schöne Illusion sein soll, ist meines Erachtens von einer tief religiösen Welt- und Lebensauffassung untrennbar. Aber bei den meisten Zionisten trägt der messianische Gedanke den Charakter einer losen Arabeske, die ganz leicht um den Zukunftsbau herumgelegt ist; sie kann auch ebenso gut fehlen. Die messianische Hoffnung hat ihren konstruktiven Wert eingebüßt. Das Glas Wein, welches der israelitische Hausvater bei der österlichen Feier für den Messias bereit stellt, die Tür, welche für diesen offen gelassen wird, erscheint den meisten doch nur als ein alter Brauch, der rückwärts, aber nicht vorwärts deutet.

Messiase lassen sich nicht erfinden; sie kommen eben, wenn die Zeit erfüllet ist. Für die Zionisten dürfte denn auch allmählich ihr Messiasglaube von einer Person zu einem Zustande, einem neuen, glücklicheren Erdendasein sich gewandelt haben. Diese Metamorphose merkt man deutlich in „Altneuland“. Theodor Herzl gibt zu, daß dies neue Haus in Palästina, welches er und seine Brüder herbeisehnen in Europa, in Deutschland und in England gebaut worden sei. Zu diesem Neubau, den Juda in Angriff nimmt, hat die jüdische Frau bis jetzt nur noch wenige Steine herbeitragen helfen. Aus Vergangenheit und Gegenwart erklärt sich diese Tatsache. Die Israelitin alter Tradition, die streng orthodoxe, welche noch das Stirnband trägt, dieser Typ, der sich in Galizien, Polen, Rußland findet, kommt selbstverständlich nie auf den Gedanken, aus eigener Erkenntnis politisch-sozial sich betätigen zu wollen. Sie bereitet die Speisen nach dem Ritual, sie zündet am Freitag, sobald der erste Stern am Himmel erschienen ist, die sabbathlichen Kerzen an und fastet an allen hohen Feiertagen, am strengsten am Versöhnungstage, wo sie nicht einmal einen Schluck Wasser über die Lippen bringt. Theologisches Wissen bleibt ihr zeitlebens fern. Der Ausspruch des „Talmud“, daß man lieber das Gesetz verbrennen soll als es einem Weibe lehren, ist ja bekannt. In neuerer Zeit ist das nun freilich anders geworden. Es gibt Schulen, wie z. B. die Schulen der israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt a. M., wo auch die Mädchen in die „Mischna“ eingeführt werden. Sogar eine Art Konfirmation, der christlichen nachgebildet, hat man aufgenommen. Die Reformsynagoge ist noch einige Schritte weiter gegangen. Aber ein großes religiöses Leben in den Töchtern Israels zu erwecken, ist ihr nicht gelungen. Die moderne Jüdin ist in der Hauptsache religionslos und tut sich meistens noch etwas zugut auf diesen negativen Freisinn, der nicht die Frucht von Kämpfen ist, sondern gewöhnlich gedankenloser Bequemlichkeit entspringt. Der Mangel einer religiösen Kultur gibt der jüdischen Frau etwas Heimatloses, nimmt ihr Wurzelhaftigkeit und Bodenbeständigkeit. Von den Idealen ihres Volkes weiß sie wenig. Die jüdischen Mädchen, die in den christlichen Schulen oder in den Simultanschulen sitzen, haben durchschnittlich von den Erzvätern, von Moses und den Propheten bei weitem nicht die Kenntnisse, die ihre christlichen Mitschülerinnen besitzen. Daß man die Psalmen Davids auswendig lernen könnte; kommt ihnen nicht in den Sinn. Als ich einmal ein junges Mädchen auf diesen Schatz religiöser Kultur aufmerksam machte, bekam ich zur Antwort: „Was kümmern mich diese alten, dummen Sachen, wir sind moderne Menschen.“ Ja, daß man nur leider mit dieser Phrase „modern“, die über alle Vergangenheitsgeschichte wegtragen soll, keine wahre Kultur hervorbringt.

Von diesen oberflächlichen Assimilanten haben wir wohl jene anderen zu unterscheiden, welche wie die Frauen der Familie Mendelssohn, wie eine Rahel, eine Fanny Lewald sich ihre eigene Geisteswelt erbauten im planvollen Anlehnen und Hineinwachsen in das Reich unserer großen Denker und Dichter. Sie fanden den Weg nach Weimar und lernten Jerusalem vergessen. Auch die männlichen jüdischen Schriftsteller entfremdeten sich dem Osten mehr und mehr; die Liebe für die Heimatsgeschichte schwand dahin. Woher käme es denn sonst, daß sämtliche erhabene, geistig gehobene jüdische Frauengestalten in der schönen Literatur den Köpfen von Germanen entsprungen sind! Die sinnige „Recha“ in Lessings „Nathan“, die stolze „Judith“ Hebbels, Grillparzers königliche „Esther“, die hochherzige „Rebekka“ in Walter Scotts „Ivanhoe“, die philosophisch veranlagte „Judith“ in Gutzkows „Uriel Akosta“ und viele andere! Wen aber Heinrich Heine sein liebstes weibliches Ideal vorführen will, dann entnimmt er die Farben und Formen dem Madonnenkult:

„Im Dome, da steht ein Bildnis Auf goldnem Leder gemalt,
In meines Lebens Wildnis
Hat’s freundlich hineingestrahlt.

Es spielen Blumen und Englein
Um uns’re liebe Frau.
Die Augen, die Lippen, die Wänglein Gleichen der Liebsten genau.“

Die Differenzierungsbewegung, der aufbrechende Nationalitätengegensatz, hat den Assimilie- rungsprozeß aufgehalten, auf Jahrzehnte vielleicht zurückgeworfen.

* Verlag von Hermann Seemann Nachfolger, Berlin und Leipzig. (Sechste Auflage, Mark 2.–).

Zur Biographie: Rosa Menzel-Pomeranz

In: Wiener Morgenzeitung, 22.8. 1924, S. 5., Kurzfassung

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Es gibt zwei Typen derselben: die „russische“ und die „polnische“ Jüdin. Die politischen Verhältnisse vor dem Kriege, besonders die Paßschwierigkeiten seitens Rußlands nach hüben und drüben, die Unberechenbarkeiten für eines Aufenthaltes für Fremde in dem Zarenstaate, hatten die beiden großen Judengruppen Osteuropas einander entfremdet und im Laufe der Jahrhunderte ziemlich tiefgehende Charakterunterschiede gezeitigt.

Besonders die russische Jüdin bot ein Bild extremen Wesens. Entweder: schon mit 16 bis 18 Jahren ganz unwissend, geistig unentwickelt: verheiratet, in dem engen und oft trüben Bezirk des Hauses, der Familie, des Kleinstadtlebens aufgehend, keiner geistigen und sozialen Entwicklung teilhaftig. Oder: als „russische Studentin“ in den Hauptstädten des Westens heimisch – einem vertrockneten, schmachtenden Boden gleich, gierig die reichen Fluten westlicher Kultur in sich aufnehmend, wissenschaftlich gebildet, beruflich geschult, politisch – oft den extremsten Ideen Verständnis und Interesse entgegenbringend.

So die russische Jüdin.

Ein stark divergierendes Bild bietet die sogenannte „polnische“ Jüdin und speziell die „galizische“. (In Galizien, dem größten Kronlande Österreichs lebten vor dem Kriege zirka 1.000.000 Juden.)

Das kulturelle Durchschnittsniveau dieser Jüdin war ein ungleich höheres, das Streben nach Bildung in allen Frauenschichten lebendig – auch allen zugänglich. So, im Lande bleibend, hatte eben die polnische Jüdin den größten Einfluß und den hervorragendsten Anteil an dem kulturellen Aufstieg der Familie, der jüngsten Generationen.

Die polnische Judenheit war stets viel, viel schwächer in wirtschaftlicher Beziehung denn die russische und weltfremder, da das milde österreichische Regime keine Veranlassung zur Auswanderung gab, zum Hin-und-her-Fluten, und die oft weniger als bescheidenen materiellen Verhältnisse der jüdischen Masse wie des Mittelstandes Bildungsreisen und damit Weltkenntnisse und Lebenserfahrung ausschlossen.

Dagegen sorgte und strebte jede jüdische Mutter hier, ihren Kindern mehr Bildung und Wissen zu geben, als ihr selber einst im Elternhaus zuteil geworden. Die jüdischen Frauen Deutschlands nahmen reichen Anteil an der deutschen Kultur.

Daher im heutigen, wieder vereinten Polen der so ansehnliche Prozentsatz gebildeter jüdischer Frauen.

Welche war nun von Anbeginn die Stellung der osteuropäischen Jüdin zu den gewaltigen Problemen der jüdischen Renaissance?

Entsprechend den psychischen und geistigen, den politischen und wirtschaftlichen Unterschieden im Wesen und Leben dieser beiden Gruppen war die Haltung beider dem Zionismus gegenüber lange Zeit eine verschiedene. Das autokratische – und das bedeutet stets: fortschritts- und bildungsfeindliche – Rußland lastete vor allem auf dem Juden, diesem ältesten Enthusiasten für Fortschritt und Wissen. Dazu kamen seit 1882 die furchtbaren Verfolgungen. Sie fügten dem Drange nach unbehinderter kultureller Entwicklung die Sehnsucht hinzu: nach nationaler und politischer Freiheit, nach Sicherheit von Ehre und Leben, nach unbehinderter wirtschaftlicher Betätigung. Die erlösenden Worte der Pinsker, Smolenski usw. bis zu dem Donnerwort „Judenstaat“ mußten den furchtbarsten [recte: fruchtbarsten] Boden im Denken und Fühlen just der russischen Judenheit finden. Und sie fanden ihn auch! Wir alle wissen, wieviel der neue Jischuw in dem Abschnitt bis 1914 der russischen Judenheit zu danken hat. Wie viele bedeutende Führer, wie viele herrliche, jugendliche Pioniere der realen, täglichen, schweren Arbeit in Erez Israel dem großen russischen Reservoir entstammen.

Mit dem Manne trat auch die Frau – von der Jugendlichen bis zur Matrone – in die Reihen der national Gläubigen, Hoffenden, Wirkenden. Und wenn man heute überall in Erez Israel, in den bedeutendsten wie in den bescheidensten Arbeitsstellen des Landes, russische Juden und Jüdinnen antrifft, so ist die einzig richtige Erklärung für diese – manchmal leise aufreizende – Erscheinung die, daß die russischen Juden und Jüdinnen eben vor allen anderen dort waren, vor allen andern ihr seelisches, geistiges, physisches und materielles Scherflein beigetragen haben zu Jischuw Erez Israel. „Not lehrt beten“ und lehrt auch so lange vergessene oder gering eingeschätzte Güter wieder ehren und erstreben.

Die polnischen Juden kamen ein wenig später. Sie kamen mit mehr theoretischen Kultureinschlag, sie waren bedächtiger in der Auswanderung nach der historischen Heimat, weil nicht getrieben von seelischer Not, sie brachten – gemäß ihren Verhältnissen – weit geringere finanzielle Opfer für Erez. Die Einwanderung, speziell aus Galizien, war eine minimale. Die Renaissancebewegung in diesem Lande hatte ein vornehmlich geistiges Gepräge mit schwachem, praktischem Untergrund. Die Frauen schufen Vereine und Organisationen, die hebräische und Geschichtskurse einrichteten, Makkabäer- und andere nationale und historische Gedenkfeiern veranstalteten, ihre Groschen für den Nationalfonds spendeten. Die wohlhabenden Zionisten kauften, meist auf Anregung der Frauen, einen oder mehrere Dunam Boden im Vaterlande. Voila tout!

Der Krieg brachte den großen Umschwung, kehrte das Unterste zu oberst.

In dem gewaltigen Zarenreiche reduzierte sich die Judenheit auf weniger denn die Hälfte. Der schier endlose Zug russisch-jüdischer Flüchtlinge durch fast die ganze Welt gleicht einer blutigen Trasse, auf der alljährlich tausende hinsinken, um sich nicht wieder zu erheben. Ein Bild, das an die schwersten Tage des Mittelalters, an den grausigen Zug aus dem Spanien der katholischen Isabella gemahnt.

Die zweite, sich unablässig vermindernde Hälfte der Juden Rußlands hat in den letzten acht Jahren eine Hölle durchlebt, die jeder Beschreibung spottet. Sie ist leider solange – und wer weiß wie lange noch – für jede ernste finanzielle Mitwirkung am Aufbau der Heimat ausgeschaltet, sowohl infolge politischer Hemmungen wie aus wirtschaftlichen Gründen.

Dagegen tritt allmählich die Judenheit Polens auf den Plan und damit die jüdische Frau dieses Reiches.

Es sind Aussichten vorhanden, daß Polen die Bedeutung Erez Israels für die wirtschaftlichen Interessen dieses Staates richtig einschätzen wird, und damit ist auch eine freundlichere Haltung gegenüber der zionistischen Tätigkeit hier, als: Organisation, Emigration, finanzielle Hilfeleistung für das Aufbauwerk usw. gegeben. Damit ist ferner der Propalästinafrauenarbeit im ganzen Reiche ein weites Feld eröffnet. Das Bewußtsein der Pflicht ihrer historischen Heimat gegenüber mußte im Hintergrunde bleiben, solange die Nachwirkungen des Krieges (der speziell in Galizien ein zweijähriges blutiges Nachspiel fand in dem Bruderkrieg zwischen Polen und Ukrainern) die geringen materiellen Mittel, das ganze reiche Gemüt, Zeit und Kraft der jüdischen Frauen Polens in Anspruch nahm: für die tunliche Heilung der schwersten Schäden, durch Immediathilfe sowohl wie durch Schaffung von Dauerinstitutionen sozial-humanitären Charakters.

Das Dringlichste auf diesem Gebiete ist nunmehr getan und der Ausbau der einheimischen Fürsorgearbeit setzt sich quasi mechanisch fort. Die Zionistin, die Jüdin in Polen überhaupt, darf von der „Momentarbeit“ zur „Ewigkeitsarbeit“ zurückkehren. Daß sie dies redlich will, beweist der rapide Aufschwung der Spenden für Keren Kajemeth in Polen, der eben dem neu erwachten Eifer der Frauen zu danken ist.

Schon im Herbst dieses Jahres soll die organisatorische Zusammenfassung – hoffentlich aller – jüdischen Frauen Polens erfolgen, ohne Unterschied der religiösen oder sonstigen Anschauungen, für eine fruchtbringende, segensreiche Arbeit in Erez Israel.

Der feste Entschluß, die geeigneten Propagandistinnen der Idee, der Arbeitsplan, die Stimmung in der Masse unserer Frauen – alles ist vorhanden und zugerüstet, um ein neues, starkes Element dem Wiederaufbauwerk zuzuführen: die Opferwilligkeit der Jüdinnen Polens und das moralische, geistige und materielle Ergebnis dieser Bereitschaft für Erez Israel.

 

➥ Zur Biographie: Salmon H. Mosenthal

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 17. Jahrgang, Ausgabe 14 vom 06.04.1877, S. 111f / Ausgabe 15 vom 13.04.1877, S. 117ff / Ausgabe 16 vom 20.04.1877, S. 126f / Ausgabe 20 vom 18.05.1877, S. 157f / Ausgabe 22 vom 01.06.1877, S. 173ff

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Der Tenorist.
Novelle von S. H. Mosenthal


Besser als in manchem gedruckten Geschichtsbuche hat sich die Zeit in der Bauart der Stadt
C…. verewigt. Auf dem alten Marktplatze steht man an der Grenze zweier Jahrhunderte! Vor uns
liegt die glänzende Neustadt mit ihren regelmäßigen weißen Häusern, ihren glattgepflasterten
Straßen und freundlichen Plätzen; hinter uns, jenseits der grauen Steinbrücke, die finstere Altstadt
mit krummen, engen Gäßchen und erkerreichen Giebelhäusern. Hier streckt der verschnörkelte
Kirchthum seinen geweißten Rococokopf aus rothen Dächern hervor; dort steigt der gothische
alte aus schwarzen, hohen, ernsten Giebeln in die Höhe. Auf dem Marktplatze selbst kämpft noch
das Mittelalter mit der Neuzeit. Die letzter scheint zu siegen; schon haben sich die Eisenerker in
moderne Läden umgewandelt, die kleinen Fenster in die Länge und Breite gedehnt; auf manches
graue Steinhaus ist ein neuer weißer Stock gestiegen, und selbst den alten viereckigen Thurm des
Krankenhauses hat der Magistrat mit grünen Jalousien schmücken lassen. Aber aller Neuerungssucht trotzt das Rathhaus, das sich die Eisenerker von seinen gothischen Fenstern nicht nehmen
läßt. Ueber dem Thore ist in Stein gehauen die Inschrift zu lesen:
„Eines Mannes Red’
Keines Mannes Red’,
Du sollst sie hören beed’.“
So stehen wir hier und denken, wie in vergangenen Zeiten über diesen Platz minnigliche Mägdlein mit dem vergriffenen Gebetbüchlein in der Hand vorüberwandelten. Da wendet sich unser
Auge neugierig in einen Winkel des Marktes, der sich in einen langen Hals zu einem Gäßchen verlängert. Schwarze, alte Baraken, hie und da mit Balken gestützt, scheinen den Eingang eines Viertels zu bilden, in dem Menschen in Schmutz und Modergeruch wohnen. Das Gäßchen läuft zuerst
in engen Windungen fort, dann theilt es sich in zwei hagere Arme. Mitten durch läuft ein schmaler
Graben, in dem die Ausgüsse der Häuser münden, und so diesen Winkel mit pestartigen Gerüchen erfüllen. Die Häuser scheinen sich oben fast zu berühren und lassen keinen Strahl der Sonne, kaum ein Fleckchen Himmelsblau sehen. Die Thüren sind eng, niedrig und führen in tiefe Gänge von undurchdringlicher Finsterniß. Vor den meisten Fenstern hängen alte Kleider und Wäsche
zum Verkauf; bei anderen Häusern liegen Fleisch und Häute auf schmutzigen Bänken und vermehren die Ausdünstungen dieses jammervollen Bezirkes. Das Eckhaus, von Balken gestützt,
dem Einsturz nahe, hat ein niedriges Thor, das kaum einem aufrechtstehenden Manne den Eintritt
gestattet. Wer möchte glauben, daß dieses Haus ein Gotteshaus ist, in dem eine Gemeinde von
tausend Seelen ihrem Gotte dient? Während das Aeußere vom Moder zernagt scheint, ist im Hofe
der kleine Tempel halb aufgefrischt und wartet auf die Vollendung des neuen freistehenden Gotteshauses, zu dem ein hochherziger Fürst selbst den Grundstein gelegt hat. Es war ein Freitag
Abend im Spätherbst. Die enge Gasse schien minder unfreundlich; denn bis zu den Dächern hin1
auf waren die Fenster vom Schein der Sabbathlampen erleuchtet, Kleider und Waaren im Hause
verschlossen und Hausflur und Straße rein gekehrt. Eine bunte, summende Menschenmenge, die
am Eingange des Bethauses versammelt war, zerstreute sich langsam durch die enge Gasse über
den Markt oder verschwand in den Häusern. Nachdem die Straßen fast menschenleer geworden,
trat ein hagerer Mann, in einen Mantel gehüllt, aus dem Vorhause des Tempels.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 15 vom 13.04.1877, S. 117ff


(Fortsetzung)


Während er nach der Seite bog, beleuchtete der Widerschein einer Lampe sein bleiches Gesicht, das ein langer schwarzer Bart umrahmte; die fein gebogene Nase, das schwarze, glänzende
Auge verriethen den Italiener oder Orientalen. Der Mann eilte mit raschem Schritt durch die Gasse; Freude oder Angst schien seinen Schritt zu beflügeln. Als er die Ecke des Marktplatzes erreicht hatte, trat ihm ein zweiter, ebenfalls in einen langen Mantel gehüllter Mann entgegen.
„L’avete trovato?“ fragte dieser.
„Trovato, egli e nostro!“ antwortete der Erste, indem er den Arm des Anderen ergriff . . . . .


Zur selben Zeit, als die beiden Fremden über den Marktplatz eilen, sieht es in einem Häuschen
der engen Straße gar traulich und feierlich aus. Vom äußersten Ende eines tiefen Ganges führt
eine Wendeltreppe, an der ein abgenütztes Seil das Aufsteigen erleichtert, zu einem kleinen Zimmer im ersten Stockwerk. Die geweißten Wände sind von blendender Reinlichkeit und mit einigen
buntgemalten, in schwarzen Rähmchen gefaßten Scenen aus der Bibel geschmückt. In der Ecke
steht aus schwerem Eisen der viereckige niedrige Ofen, auf dem ein Stoß reinlicher Teller gehäuft
ist; eine wohlthuende Wärme füllt den kleinen Raum. Von der niederen Decke hängt eine siebenzackige Lampe herab, an der heute Alle sieben Flammen flackern. Ueber den viereckigen Tisch
wurde ein weißes Tuch gebreitet, ebenso über die beiden Commoden, die, aus schwarzem Holz
geschnitzt, in den Ecken des Zimmers stehen. Ein Sofa mit großblumigem Kattun überzogen, ein
alter grüner Sessel mit gepolstertem Schemel und vier Rohrstühle machen das ganze Ameublement des armen, aber freundlichen Zimmers aus. Von den Bildern, die über dem Sofa hängen,
stellt das eine einen alten Mann von patriarchalischer Schönheit mit langem weißen Barte vor, das
zweite Bild ist das eines Jünglings. Das frische Antlitz glüht von Jugend und Kraft, die Lippen
schwellen von üppiger Fülle, das dunkelschwarze Auge verräth Stolz und Sinnlichkeit; die Haare
sind von bläulichem Schwarz, in natürlichen Locken um das Haupt flatternd, das für vollendet
schön gelten könnte, wenn nicht die Nase, etwas zu groß, den Typus des Orientalen trüge. Und
doch scheint dieses Bild der Jugend dem des Patriarchen an seiner Seite zu gleichen.
Eine Frau steht neben dem Tisch, in den Händen hält sie ein großes, in schwarzes Leder gebundenes Buch, die Augen sind andächtig zum Himmel erhoben. Sie scheint 50 Jahre alt, das
bleiche Gesicht hat der Kummer vorschnell abgezehrt. Dennoch ist das zum Himmel erhobene
dunkle Auge von einer rührenden Innigkeit, von einer jugendlichen Frische. Aus der anliegenden
Haube, die die gefaltete Stirn eng einschließt, quillt auf beiden Seiten eine graue Locke hervor. Die
Hand, die das Gebetbuch hält, ist von blendender Weiße und auffallender Zartheit. Ein brauner
Ueberrock umschließt die magere Gestalt bis zum Hals, von dem eine lange weiße Krause herabfällt, die kaum gegen die blendende Weiße des Halses absticht.
Das Gebet ist beendet, sie schließt das Buch und führt es an die Lippen; dann fällt ein langer
seelenvoller Blick auf das Bild des Jünglings, die Lippen zucken wie zu einem Lächeln, die Hände
falten sich wie zu einem Segen – es muß eine Mutter sein, die für ihren Sohn gebetet hat.
Die Thür des Zimmers öffnet sich, ein Mädchen von 16 Jahren tritt ein. Ein dunkelblaues, wollendes Kleid verhüllt die erst halbentwickelten Formen. Rabenschwarze Haare legen sich schlicht
um die gewölbte Elfenbeinstirn und fallen in langen Zöpfen tief auf den Nacken hinab. Die Augen
sind von seinem Sammtbraun, offen und sinnig, die schwellenden Lippen lassen zwei Reihen
blendender Perlen gewahren.
Warum malen unsere Maler gewöhnlich die Rachel blond? Ein treffliches Modell böte sich in
diesem Mädchen dar, das jetzt eintretend der bleichen Frau mit niedergeschlagenen Augen naht
und mit sanfter Stimme sagt. „Muhme! segnet mich!“
Die Muhme legt beide Hände auf die glatten Scheitel des Mädchens, „der Herr lasse Dich werden wie Sarah, Rebekka, Lea und Rachel!“ und die bleichen Lippen drücken einen Kuß auf die
weiße Marmorstirn des Mädchens.
„Frohen Sabbath, Muhme!“ erwiederte diese und küßte die magere Hand.
„Frohen Sabbath, Hanna! aber sag’, wo bleibt er denn heute so lang?“
„Ich weiß nicht Muhme“, erwiderte Hanna. „Ich war schon am Fenster und habe hinübergeschaut, sie sind fast Alle nach Hause gegangen, selbst der alte Samuel, der sonst immer bis zuletzt bleibt.“
„Er wird mit dem Rabbiner hinübergegangen sein, er trägt ihm ja gewöhnlich das Gebetbuch
und läßt sich dafür segnen.“
„Nein, Muhme! auch der Rabbiner ist bereits hinüber, Levis Jacob hat ihm das Buch getragen.“
Die Muhme schüttelte den Kopf.
„Ihr müßt’ Euch nicht ängstigen, Muhme“, nahm Hanna das Wort; „was kann ihm denn begegnet sein? Soll ich hinabgehen und im Tempel nachsehen?“
„Nein, mein Kind! er hat es nicht gern, wenn ich ängstlich bin; gewiß redet er mit einem Freunde aus der Singschule.“
„Es kann wol sein!“ entgegnete Hanna. „Das ist ja seine einzige Freude, sein einziger Gedanke.
Ach und wie recht hat er; welche Stimme hat ihm der liebe Gott gegeben, er ist ja die Zierde des
ganzen Chors, des ganzen Tempels.“
„Mein Kind!“ antwortete die Mutter mit ernstlicher Besorgniß, „ich freue mich nicht über die
neuen Moden. Unsere Väter haben auch gute Stimmen gehabt, sein Vater, Gott habe ihn selig!
(und ihr Blick fiel auf das Bild des Patriarchen) war weit und breit wegen seiner Stimme berühmt,
und wenn er am Neujahrstag oder am Versöhnungstag sang, so war er mein Stolz und mein
Ruhm, wie es jetzt Raphael ist. Aber er hatte nie Lehrer und nahm nie Unterricht. Er hat die wehmüthigen Melodien unseres Gottesdienstes, wie sie von Mund zu Mund fortleben, einfach oder
wo es sein muß, mit Trillern und Läufen gesungen. Es war nicht der Ton, es war das Wort, nicht
die Melodie, es war das Gebet, das er sang; aber jetzt studiren sie nach Noten und singen wie in
einem Opernhaus. Hanna, mein Kind! ich rede nie mit ihm davon, mag er thun, was sein Herz ihm
sagt; aber Dir sei es vertraut, ich gehe nicht mehr zum Tempel hinab, weil mich mein eigenes Kind
nicht freut, wenn es unsere heiligen Lieder und Psalmen so künstlich zersingt und mit dem Fuß
den Tact dazu tritt, wenn es die Wunder Gottes an Israel preisen soll. Es macht ihm Freude, sie
wollen es Alle so, ich dulde es, aber mein Herz thut mir weh.“
Bei diesen Worten vernahm man Tritte auf der Stiege.
„Da ist er, Muhme!“ rief Hanna aus und eine leichte Röthe färbte die Wange höher und zog sich
über die weiße Stirne. Sie öffnete die Thür, damit der Schein der Lampe die dunkle Treppe erleuchte; ein Jüngling trat schnell ins Zimmer; wir kennen ihn bereits vom Bilde – es ist Raphael.
Ein schwarzer Rock umschloß die kräftige Gestalt bis zum Halse, um den ein schwarzes Tuch
kühn geschlungen war. Die schönen dunklen Haare flatterten um das strahlende Gesicht, Glück
und Freude blitzten aus den großen Augen. Die Mutter betrachtete mit Stolz die Züge des schönen Sohnes; Hanna war an den Ofen zurückgetreten, sie schien nach der andern Seite zu blicken,
doch in Wahrheit ruhte ihr Auge auf dem kleinen Spiegel der Wand, in dem das schöne Bild Raphael’s sich widerstrahlte. Der Jüngling warf sich auf das Sofa nieder und zog die Mutter stürmisch an seine Seite, dann faßte er die hageren Hände, hob sie an seinen Mund und drückte einen Kuß auf die Spitzen der Finger.
„Mutter, höre zu,“ begann er mit einer Stimme, die durch den schmelzenden Klang tief in die
Seele ging; „Hanna, höre auch zu, welches Glück mir begegnet ist; aber unterbrich mich nicht,
Mutter, laß’ mich ausreden, es entscheidet über das Glück meines Lebens.“
„Was hast Du, mein Sohn?“ fragte die Mutter bestürzt. Hanna trat an den Tisch, ihr schwimmendes Auge heftete sich auf die Lippen Raphael’s.
„Seit einiger Zeit schon sah ich“, begann dieser, „einen hageren Mann mit schwarzlockigem
Bart im Tempel, er fiel mir auf; denn er schien nicht zu beten, er heftete auf mich sein glühendes
Auge, ja er betrachtete mich oft durch ein Glas. Es beängstigte mich, aber ich verschwieg es Dir
immer, Mutter; denn ich kenne Deine Furchtsamkeit. Neulich redet er mich an, fragt mich um meinen Namen, um mein Alter, um meine Wohnung.“
„Weiter, weiter, mein Sohn! rief die sorgsame Mutter. „Fühle nur, wie mein Herz schlägt.“


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 16 vom 20.04.1877, S. 126f


(Fortsetzung)


„Gestern Abends,“ fuhr Raphael fort, „sangen wir zum erstenmal den neuen Psalm: Komm, o
trauer Bräutigam, o süßer Sabbath komm!“ Noch sang der Chor die Anfangsstrophe, da bemerkte
ich den Mann, der mir so oft aufgefallen, sein Blick schien mich zu durchbohren. Vor Angst begann mein Herz hörbar zu klopfen; jetzt sollte ich die Solostrophe beginnen, auf die ich mich so
lang gefreut Ich zagte, ich konnte den Ton nicht finden, da hob ich mein Aug’ empor zur heiligen
Lade, eine glühende Begeisterung überkam mich und ich sang:
Steh’ auf aus der Asche, Gottesstadt,
Lang genug lagst du im Thränenthal;
Wie der Bräutigam kehrt zurück zur Braut.
So kehret der Herr zurück zu dir!“ –
„Nie sang ich so, ich fühlte es selbst; schwellend stieg das Lied aus meiner Brust, ich kannte
mich selbst nicht mehr. Mutter! Welche Wonne! Die ganze Gemeinde schaute empor, ich sah die
Wangen glühen, ich sah die Augen feucht. Da plötzlich hör’ ich eine Stimme dicht neben mir: Bravo! Bravo! ich wendete mich um, es war derselbe Mann, der mich bisher verfolgt. Wie schnitt es in
mein Herz! Bravo! Bravo! war sein Amen auf mein Lied. Der Tempel leerte sich, ich blieb zurück,
um unserm frommen Lehrer die Bibel heimzutragen. Da trat der Mann zu mir, zog mich in die Seitenhalle und“ – –
„Um Gotteswillen! Du gingst doch nicht mit!“ rief zitternd die Mutter.
„Beruhige Dich. Ich muß lachen über meine eigene Furcht; denke, der gute Mann ist niemand
Anderer als Perini, der Sänger und Operndirector. Er hat meine Stimme gehört, er interessirt sich
für mich, er will mich im Gesang selbst unterrichten, will mich zum Sänger bilden – – aber was
hast Du Mutter, Du zitterst ja?“
Wirklich hatte plötzlich Todesblässe die Röthe von den Wangen der Mutter gedrängt. Sie strich
mit der Hand über die Augen und rief: „Raphael! Mein Sohn! Welche Schlingen legen sie Dir – o
die Feinde Gottes sind listig. Raphael, Du dienst dem Tempel, halte fest an dem heiligen Ort; laß’
Dich von Versuchern nicht hinauszerren in die Welt der Verderbniß – – oder hast Du es gethan,
hast Du es ihm zugesagt?“
„Aber, Mutter, Mutter!“ rief aufschreiend der Jüngling, „wohin führt Dich Deine übertriebene
Empfindlichkeit; in welcher Zeit leben wir denn? Ja, ich habe ihm zugesagt, ich gehe morgen zu
dem großen Meister und beginne meinen Unterricht, ich habe es versprochen.“
„Ohne mich zu fragen?“ fiel die Mutter ein.
„Ja, ja,“ entgegnete der Sohn, „weil ich auf Deine Vernunft rechnete. Bin ich ein Kind? Ich bin
18 Jahre alt, und weil es denn einmal zur Sprache kommt, ich weiß, wozu mir Gott eine Stimme
gegeben, ich will was besseres thun, als vor diesem Volk singen, dem Jeder gleich ist, der seinen
Psalm herunterleiert. Ich will das gut verzinsen, das in meiner Brust begraben liegt; ich will Euch
und mich damit zu Ehren bringen; studiren will ich Tag und Nacht; ich will eine Welt begeistern mit
meiner Stimme; sie sollen auf Dich mit Fingern weisen und dabei ausrufen: „Das ist seine Mutter!“
Die Mutter schüttelte schweigend den Kopf.
„Was sagst Du, Hanna?“ fragte der Jüngling und schaute mit großen Augen das Mädchen an.
Hanna senkte den Blick.
„Ist Dir’s nicht recht, wenn ich ein berühmter Mann werde?“
„Dann wirst Du dich unser schämen“, erwiderte Hanna, und eine glühende Röthe überzog ihre
Wangen.
„Mutter!“ sprach Raphael im Tone des zärtlichen Vorwurfs, „das glaubst Du vielleicht auch?“
„Wer kann für sich einstehen, mein Sohn! Kennst Du die Versuchungen der Welt? Du wirst in
neuen Kreisen leben, in größeren Dich behaglich fühlen; warum zurückkehren in unseren engen?
Man sucht Dich, denn man braucht Dich; man wird Dich feiern, rühmen. Du wirst wohl an die alte
Mutter denken, aber mein Gott! man hat nicht immer Zeit; die alte Frau hält fest an ihren Ceremonien, sie paßt nicht mehr für die Gesellschaft, die Dich umgibt und so ziehen sie Dich fort, immer
weiter von meinem Herzen; weihen Dich ein in ihre Freuden und Genüsse; ihr Lob, ihre Liebe wird
Dir zum Bedürfniß; Du schämst Dich der Mutter, Du schämst Dich Deines Gottes, bis Du die eine
verlierst und den andern verleugnest.“
„Das wolle Gott nicht!“ rief Hanna aus.
Raphael sprang auf und trat ans Fenster; er starrte in die Nacht hinaus und trommelte mit den
Fingern auf die Scheiben.
Nach einer Pause begann die Mutter in ruhigem Tone, als ob Alles vergessen sei: „So kommt,
Kinder, zum Speisen; es ist schon spät.“
Raphael wendete sich um, sein großes Auge schwamm in Thränen; er ergriff die Hand der Mutter und küßte sie mit brennenden Lippen. Hanna deckte den Tisch und trug die Speisen auf; es
mundete Niemandem.
Der Abend verging unter gleichgiltigem Gespräch; Alle begaben sich zeitlich zur Ruhe.
In dem kleinen Kämmerchen, in dem eine Nachtlampe spärlich schimmert, sehen wir die magere Hand der Mutter leise die Vorhänge ihres Bettes zurückschieben. Sie lauscht, ob Raphael
schläft. Der Jüngling liegt im tiefen Schlummer. Die Mutter erhebt sich schnell; ich habe ihn ja zu
segnen vergessen, flüsterte sie sich selbst zu. Sie tritt zu seinem Bett und legt beide Hände auf
die glänzende Stirn des Sohnes.
Wie Gott will! flüsterte sie wieder und schüttelte das Haupt.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 20 vom 18.05.1877, S. 157f


(Fortsetzung.)


Sechs Monate später finden wir Raphael wieder – man würde in ihm kaum mehr den Sänger
der Synagoge erkennen.
In einem kleinen, mit dem feinsten Geschmack möblirten Salon steht ein herrlicher Flügel, dem
eine weiße zarte Hand Accorde entlockt, um die schmelzende Stimme eines Tenors zu begleiten.
Das Mädchen am Clavier ist von schlanker Gestalt, tausend feine Ringellocken fließen von der
hohen Stirn herab und vermälen sich mit der Sammtschwärze des enganliegenden Kleides. Die
Wangen sind blühend roth, die feinen Lippen schließen sich im Mundwinkel zu einem satyrischen
Zuge. Ein Theil der Arme und der Brust ist nackt, und sticht durch seine blendende Weiße vom
schwarzen Sammt noch mehr ab. Die feinen zugespitzten Finger schweben nur leise über die Tasten.
Der junge Tenor im eleganten Salonanzuge steht hinter ihr, seine Hand hält das Notenblatt, auf
dem sein Auge nicht haftet; denn es ist festgebannt durch die Reize seiner schönen Begleiterin.
„Warum singen Sie nicht weiter, Raphael?“ fragte die Dame und schaute empor.
„Kann ich, kann ich, Angela! wenn ich singen muß, was mein eigenes Herz zerreißt; wenn ich
singen muß, daß ich Dich liebe; wenn ich es singe mit allen Accorden meines Herzens, und Sie
kalt dabei über die Tasten streifen, und nur hören, ob ich rein intonire.“
„Aber Raphael! ich bin ja ihre Lehrerin!“
„Angela! Angela!“ rief der Jüngling mit zitternder Stimme, und das Blatt entsank seiner Hand.
„Angela! ich beneide dieses Elfenbein, über das Ihre Finger gleiten; verstehen Sie mich denn nie;
sehen Sie nicht, wie die Gluth der Liebe mich verzehrt, wie jeder Augenblick in Ihrem Lichtkreis
das Feuer meiner Leidenschaft anfacht, Angela!“
Und zwei große Thränen entstürzten seinen Augen; er ergriff hastig Angela’s Arm und drückte
die glühende Lippe auf denselben.
„Sie erschrecken mich!“ rief Angela und fuhr mit dem einen Tuch über die Wangen.
„Sie sind bewegt!“ rief er mit zitternder Stimme, „ja, ich bin Ihrem Herzen nicht mehr gleichgiltig?
„O Raphael! zwingen Sie mich doch nicht zu einem Geständniß, das ein Anderer an jedem
meiner Blicke errathen hätte; aber Sie kennen ja meine Lage. Mein Vater Perini liebt in seinem
Kinde nur das Talent. Ich bin Sängerin; meine Studien haben viel gekostet; er betrachtet mich als
ein Capital, das er verzinst. Wie wird er es aufnehmen, wenn mein Herz sich an Sie gebunden, ehe
Ihre Carrière unsere Zukunft sichert. Die Zeit naht heran, wo Sie zum erstenmal vor unser Publikum treten sollen. Studiren Sie ruhig fort; bezwingen Sie die Leidenschaft, die nur die Feindin ihrer
Liebe ist. Seien Sie ein Mann. Kein Wort mehr zwischen uns von Liebe; wir wollen in unserm Studium ruhig fortfahren. Fällt Ihr Debut gut aus, wie wir es hoffen, dann dürfen Sie mit meinem Vater sprechen.“
„Kann ich denn, kann ich denn,“ seufzte Raphael, „ein Gefühl zum Schweigen bringen, in dem
sich meine ganze Seele aufgelöst?“
Und von Neuem drückte er seinen Mund auf ihrem Arm. Angela zog den Arm zurück, da umschlang mit wildem Ungestüm der Jüngling den schlanken Leib der Sängerin, zog sie an seine
Brust und drückte sein lockiges Haar auf ihre Schulter. „Laß mich im Kuß vergehen“, rief er aus,
und Kuß auf Kuß entperlte seinen Lippen.
Ein Schrei entfuhr der Sängerin. Raphael wendete sich um, ein Zeuge war unvermerkt eingetreten, es war Perini.


Ein spöttisches Lächeln flog über das gelbe Frauengesicht des Italieners. Raphael stand
stumm, die Augen zu Boden geheftet; Angela schien verlegen, nur der aufmerksamste Beobachter hätte bemerkt, wie sie dem Vater mit einem flüchtigen Blick ein Zeichen des Einverständnisses
zu geben schien.
„Fleißig im Studium? Raphael!“ rief Perini, indem er die ganze Scene zu ignoriren schien.
Raphael zauderte mit der Antwort; es schien ihm verächtlich, seine Liebe zu verleugnen. Er trat
zu Angela und faßte ihre Hand, indem sein dunkles schwimmendes Auge zu ihr emporblickte.
„Gedenken Sie Ihres Versprechens“, sprach Angela mit lispelnder Stimme und entzog ihm die Hand.
„Sie müssen sich beeilen,“ nahm Perini wieder das Wort, „der Tag des Auftretens rückt näher.
Die Vermälung der Prinzessin soll in zehn Tagen gefeiert werden; man verlaugt den „Robert“ und
ich versprach ihn zu geben. Angela singt die Prinzessin, ich den Bertram, eine junge Sängerin aus
Wien debutirt als Alice. Auf Sie baue ich, denn nicht nur Ihre, auch meine Ehre hängt von diesem
Erfolg ab. Ich habe dem Fürsten für Sie garantirt. Es ist wahr, Sie haben außerordentliche Fortschritte gemacht; ich zweifle nicht an dem Gelingen, wenn Sie ernsthaft bei Ihrem Studium blei7
ben. Das haben Sie mir gestern versprochen. Sie wollen mir Ehre machen, Raphael, gedenken Sie
des gestrigen Abends und der zehn Flaschen, denen wir den Hals gebrochen.“
„Sie erinnern mich auf delicate Weise an meine Schuld“, antwortete der Tenorist, indem er einen vollen Beutel aus der Tasche zog; „nehmen Sie hier, was Sie gestern im Spiel verloren.“
„Wie, Sie spielten?“ fragte Angela.
„Nur um die Zeit zu vertreiben,“ erwiderte Perini, „fließt ihm nicht das Gold reichlich zu, seitdem er den Contract mit der Hofopfer abgeschlossen? Allegro, Raphael – Gold ist nur Chimäre –
schnell, und Du, Angela, begleite ihn.“
Mit gewaltiger Stimme begann Perini das Lied, während Angela’s Finger über die Tasten flogen.
Die bleichen Wangen Perini’s überzogen sich purpurroth, die Adern seiner Stirne schwollen auf
und seine kleinen schwarzen Augen blitzten.
Angela schlug den Accord des Duetts an, worin Robert mit dem Zauberzweig die zitternde Isabella umfaßt. Welche Töne, welche Gluth in Raphael’s Stimme! Angela sah ihn mit durchbohrendem Blick an und stimmte in das Duett mit reiner, wiewohl etwas schneidender Stimme ein. Perini
weidete sich an dem Schauspiel; nie hatte ein Robert, nie eine Isabella reizender, glühender, rasender gesungen. Mit der Linken hielt Raphael den Schwanenhals des Mädchens umfaßt, die sich
abwehrend zurückbog; mit der Rechten zum Himmel erhoben, schien er den Zauberzweig wie einen Blitzstrahl zu halten, ein Blitzstrahl selbst – sein glühendes Auge. Das Duett ging zu Ende, die
Sänger, wie aus einem Traum erwacht, schwiegen erschöpft und blickten sich schweigend an.


(Forts. folgt.)


Ausgabe 22 vom 01.06.1877, S. 173ff


(Fortsetzung und Schluß)


„Bravissimo! Bravissimo!“ donnerte Perini dazwischen, „Rafaele, mein Freund, Du bist ein gemachter Mann! Du mußt mit mir nach Neapel; 10.000 Scudi sind Dein für eine Stagione – forderst Du mehr?“
Auf ein Zeichen Angela’s sprang Raphael auf seinen Meister zu und sein Mund stotterte verwirrt das Wort: Sie!
„Noch eine Probe“, erwiderte Perini, „entspricht die Oper dem heutigen Versuche, ist Angela Dein.“
„In diesem Augenblick zog eine Hand die seidenen Vorhänge der Glasthür zurück, ein Diener
trat ein Signore Rafaele, eine Dame wünscht Sie zu sehen, und bringt wichtige Nachrichten.
„Jetzt nicht“, rief Angela schnell.
„Das Mädchen“, nahm der Bediente das Wort, „läßt sich nicht abweisen.“
„Sie warte im Nebenzimmer“, erwiderte Raphael.
Der Bediente verschwand. Einige Momente später sehen swir durch die Glasthür ein Mädchen
in einfacher Kleidung schüchtern eintreten. Es ist Hanna. In dem kleinen Zimmer, das mit purpurrothen Tapeten bedeckt ist, werden auf dem der Thür gegenüberstehenden Camine die silbernen
Armleuchter angezündet. In dem Salon ist es allmälig finster geworden, man kann von dem hellen
Zimmer aus nicht bemerken, was in dem dunklen Salon vorgeht.



Raphael, der, ohne die Eintretende zu bemerken, berauscht ein Glück aus Angela’s Auge einsog, hielt noch immer die Hand des Mädchens gefaßt. Sie lächelte mit ihrem süßesten Blick dem Jüngling zu.
„Hab ichs recht gemacht“, nahm Perini kichernd das Wort; freilich setzte er hinzu: „Du weißt,
Rafaele, mein Sohn, daß unsere Kirche ein Bündniß nicht gestattet, so lange ein Unterschied der
Religion besteht. Was mich und mein Kind betrifft, wir fragen nicht nach solchen Lappalien; Jud
und Türk ist uns gleich; aber das Gesetz will es. Du machst Carrière mit einem Schritt – von der Taufe zur Hochzeit.“
Bei dem Worte Jude überzog Purpurgluth das Gesicht des Jünglngs und seine Lippen begannen zu zucken. Ein kalter Schauer erfaßte ihn plötzlich, er wendete sich, um nach der Thür zu
schauen; hier aber bot sich ihm ein Bild dar, das alle seine Nerven erzittern machte. Der reich beleuchtete, von Säulen getragene Camin glänzte wie der Altar eines Tempels und davor stand Hanna in ein weißes Tuch gehüllt. Die Hand, die sie eben aufhob, die Klinke der Thür zu erfassen, schien ihm zu winken.
Ein Schrei preßte sich aus seiner Brust. Die Stimme versagte ihm, er stürzte hinaus und stand
vor dem zitternden, schüchternen Mädchen. – In diesem Augenblicke nickte der Italiener seiner
Tochter zu, nahm ihre Hand und flüsterte mit zufriedenem Lächeln: „hai fatto bene le tue parti!“
„Gottlob, daß Du da bist“, rief Hanna ihm entgegen und holte tief Athem; die Angst, die
Schüchternheit hatte sie fast der Stimme beraubt.
„Was hast Du, Hanna? Du bist so bleich!“
„Ich bringe auch keine gute Nachricht. – die Muhme ist krank, sehr schwach!“
Meine Mutter!“ rief Raphael mit herzzerreißendem Tone und sank in einen Lehnsessel.
„Beruhige Dich, Raphael! Es ist nicht so arg. Als Du das letzte Mal, vor acht Tagen, bei uns
warst und die volle Börse brachtest, da war sie noch so froh, so wehmüthig froh, und als Du fort
warst, sprach sie lange von Dir und weinte. Noch in derselben Nacht bekam sie heftiges Herzklopfen und gegen Mitternacht trat Schwindel und Bluthusten ein. Ich suchte Dich von Tag zu Tag
und traf Dich nicht. Heute Nacht hat sich der Anfall wiederholt; ich bin zum Doctor gelaufen, der
bei ihr sitzt und habe Dich gesucht, denn sie ist schwach und verlangt nach Dir.
Raphael drückte die Hände vor das Gesicht.
„Du warst nicht zu Hause“, fuhr Hanna fort, „da sagte man mir, – vielleicht träfe ich Dich – hier!“
Stotternd hatte sie diese letzten Worte gesprochen, ihre Wangen glühten; sie hatte ja Angela’s
Stimme vernommen.
„Hanna!“ rief endlich der Sänger, „und meine Mutter flucht mir?“
„Wie Du nur so reden kannst“, erwiderte Hanna, „Du bist unwohl, ruhe Dich aus! aber Du
kommst doch heute noch?“
„Nein, nein!“ rief Raphael, „nimm diese Börse, kaufe, was Du brauchst: Erfrischung, Arznei.“ –
Er suchte vergebens nach der Börse; er hatte sie dem Italiener für die Spielschuld gegeben.
Suche nicht danach, Raphael“, nahm Hanna mit sanftem Tone das Wort. „Ach! es ist nicht
Geld, was uns fehlt.“ Ein zarter Vorwurf lag in dem Ton, eine Thräne trat in das Auge des Mädchens.
In diesem Augenblicke trat Angela durch die grünen Vorhänge der Thüre.
Vor dem Anblick der hohen Gestalt schreckte Hanna zurück; sie sah, wie die Italienerin die
Hand Raphael’s ergriff, wie er vor der Berührung erbebte – da brach die Knospe, die lange im verschwiegenen Traume gelegen, auf, ein glühender Strahl fuhr in das Herz des Mädchens. – Noch
einen wehmüthigen Blick warf sie auf den geliebten Genossen ihrer Kindheit, dann verschwand
sie. Angela ergriff die Hand Raphael’s und versuchte, ihn in den Salon zurückzuführen.
„Laß mich, laß mich, Angela!“ rief bebend Raphael.
„Wer war das Mädchen? Böser!“ rief schmollend die Italienerin.
„Du sollst Alles wissen; aber laß mich, ich muß fort –“
„Ist das Deine Liebe?“ lispelte Angela und wendete das Haupt.
„O Angela!“ stammelte Raphael und zog sie in seine Arme.
Der Vorhang entglitt ihrer Hand, ein verschwiegenes Dunkel umgab das Paar.
Und hätten alle Engel des Himmels ihm fortgewinkt, er wäre geblieben – machtlos, besinnungslos umklammerte er das schöne Weib, das in den purpurnen Lehnstuhl sank und verbarg
sein glühendes Haupt in ihrem Schoß.


Seit Jahren hat das Theater der Stadt C . . . keine glänzendere Versammlung gesehen, als an
diesem Abend. Karawanen pilgerten über den Markt zu den Säulenhallen der Oper. Nicht nur der
Hof, der mit der neuvermälten Prinzessin und dem fremden Gefolge heute zu sehen war, auch das
erste Auftreten des jungen Tenoristen zog Menschenströme in das Theater. Bald waren alle Räume gefüllt, Kopf an Kopf drängte sich – der Hof trat ein, rauschender Empfang begrüßte ihn –
nach und nach kam das brausende Meer zur Ruhe; ein Zeichen im Orchester, die Ouverture beginnt. Raphael weilte an Perini’s Seite, namenlose Angst trieb ihm das Blut gegen das Herz, selbst
unter der Schminke schien er todtenblaß; Secunde um Secunde zerrann, Freunde und Neider mit
frommen Wünschen umsausten ihn, Angelica selbst sah er nicht, sie war noch in der Garderobe.
Plötzlich tritt die fremde Sängerin aus Wien in dem einfachen blauen Kleide Alicen’s aus der Coulisse. Er hat sie bei der Probe in Angelica’s Nähe nie eines Blickes gewürdigt, jetzt betrachtet er
das ovale Gesicht, die lang herunterfallenden Zöpfe, das dunkle Auge – Hanna! Welche Aehnlichkeit mit ihr, sonderbares Spiel des Zufalls. Er eilt auf sie zu, er will fragen, forschen; das Zeichen
im Orchester schneidet ihm das Wort ab, die Bühne wird leer, mit gepreßtem Herzen tritt er hervor
auf die Bretter, ein Blick durch den Vorhang und schwindelnd sieht er ein wallendes, wogendes
Meer von Köpfen; er tritt zurück – immer nach Hanna’s Gestalt den Blick sendend. Jetzt läutet die
Glocke, es ist das Armensünderglöckchen des Geängstigten; der Vorhang fährt rauschend in die Höhe.
Wie beim Treibjagen tausend Rohre auf das gehetzte Wild, so richten sich tausend Gläser auf
den Debutanten und jedes Antlitz lächelt. Die schöne, edle Gestalt im mittelalterlich goldgestickten braunen Sammtkleid, die Locken, die natürlich um die gewölbten Schläfe fallen, der feine Bart
über der schwellenden Lippe – – ein schönes Bild! Der Chor beginnt, Perini reicht Raphael einen
Becher dar; der Wein ist das Leben, der Wein ist die Luft – belebendes Feuer durchrieselt die
Adern des Jünglings – voll Adel, voll Kraft tritt er vor und singt so männlich, so zart, so innig, so
glockenrein. Den ersten Accorden folgen die ersten Bravos. Perini faßt seine Hand, Begeisterung
füllt den jungen Sänger; er vergißt die Bühne, jede Bewegung ist Leben, ist Natur!
Aber plötzlich überzieht eine weiche Melancholie die Züge Raphael’s; Alice tritt herein; die
Züge der Sängerin rühren ihn tief, er hat ja Hanna’s unterdrückte Thränen wohl gemerkt, er hat sie
verstanden. Wie eifrig er bemüht ist, Alice zur Seite zu ziehen und zu fragen: „Wer bist Du, mein
Kind, was bringst Du?“
„Einen Brief der Mutter!“ singt Alice.
Raphael fährt mit der Hand an’s Herz, da reißt ihn Perini fort zum Spiel, zum Wein; ha, das Gold
ist nur Chimäre! ruft die wohlbekannte Stimme, und zieht den schwankenden Jüngling hinein den Taumel der Luft.
Ein rauschendes „Bravo!“ ertönt durch den Saal, nie hatte ein „Robert“ so gespielt, so natürlich
gesungen. Auch Angela war heute bezaubernd schön, als Robert mit dem Zauberzweig in der
Hand die schöne Gestalt umschlang, als sie, die schöner als je, zu seinen Füßen um Gnade flehte,
und er dann, besiegt von der Angst der Schönen, den Zweig der Kraft zerbrach. Wie ein elektrischer Strom sich Tausenden mittheilt, so wirkte die Begeisterung der Sänger auf das jubelnde
Publicum. Der Vorhang des vierten Actes fiel. Perini hielt den gefeierten Jüngling in seinen Armen
– Angela ist Dein! rief er dem Glücklichen zu
In diesem Augenblick trat Alice leise hinzu. Raphael fuhr auf, wendete sich nach der andern
Seite um, aber – war es ein Bild der Hölle – Hanna, eine zweite Hanna schien zitternd, todtenbleich in den Coulissen zu stehen, ihm zu winken. Ja, sie ist es, es ist nicht Alice; er eilt auf sie zu.
Sie findet keine Worte.
„Verzeih’ mir!“ stammelte sie endlich, „man führte mich hieher. Die Mutter liegt im Sterben!“
Hanna enteilt, er will ihr nach; Perini hält ihn zurück, die Glocke läutet.
„Um Gotteswillen, haltet ein!“ bebt Raphael, „ich kann nicht mehr!“
Man zögert, das Publicum wird ungeduldig.
„Du mußt“, schreit Perini, „Unglücklicher! Willst Du mich zugrunde richten?“ Er winkt.
Der Vorhang rollt empor; es ist die Halle eines Tempels. Bleich, zitternd steht Robert da und
schaut zu dem Altar empor. Er sieht Angela, ein Fremder führt sie zum Altar; es rührt ihn nicht, er
starr lautlos hinaus. Jetzt naht Perini. Schauder ergreift den Jüngling; er ahnt es, es ist der Verführer, der ihm sein Glück stahl.
„Laß mich!“ ruft er ihm bittend zu.
Da erfaßt ihn Perini, er umklammert ihn, flüstert ihm ins Ohr: „Du verlierst Angela! Du richtest mich zugrunde!“
„Mein Sohn! laß’ trostlos mich nicht sterben! Umsonst sucht Robert sich zu ermannen. Da erscheint Alice; er eilt auf sie zu.
„Höre der Mutter Wort!“ ruft sie. „Mein Sohn, die Mutterliebe kann nicht sterben!“
Verzweifelnd ringt Robert, er windet sich aus den Armen Perini’s; er singt, was er mechanisch
gelernt, mit herzzerreißendem Schmerz, mit erschreckender Wahrheit. – –
Das Publicum starrt mit zurückgehaltenem Athem das Schauspiel an, diesen Kampf zwischen
Mensch, Engel und Teufel. Ist es Perini, ist es Raphael? Nein, es ist Robert und Bertram und der
rettende Engel, der im Namen der Mutter den Sohn aus den Händen der Verführers reißt. „Großer
Gott“, ruft sie aus, und stürzt auf die Knie, „errette Du ihn!“
Horch, da ertönt die Orgel, der Chor beginnt. Raphael kennt ihn, kennt die heiligen Accorde
des Tempels. „So hört’ ich es einst in meiner Kindheit Tagen, wenn die Mutter mit mir betete!“
Thränen erstickten seine Stimme, Thränen füllten die Augen des Publicums.
„Süße Harmonie des Himmels! ja es ist Gott selber, der zu mir spricht.“
Mit gefalteten Händen sinkt Robert zusammen; Bertram stürzt in den Abgrund der Hölle; langsam senkt der Vorhang sich.
Jetzt brach der Jubel der betäubten, erschütterten Menge in laute Wonne los; aber der Vorhang hob sich nicht; das Publicum verdoppelte seinen Beifall umsonst – endlich rollt der Vorhang
empor; Perini tritt hervor.
„Das hochverehrte Publicum entschuldige den Tenoristen, eine Ohnmacht hat ihn ergriffen.“
Er hatte die Stimme der Kindheit nicht umsonst gehört; er fand seine Mutter wieder und seinen Gott!

Zur Biographie: Anitta Müller

In: Wiener Morgenzeitung, 2.2.1919, S. 7;

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Die nächsten Tage sind zukunftsschwer. Sie tragen die Entscheidung in ihrem Schoße über Wert und Stellung der Parteien im neuen Staate. Dem Bilde im kleinen gesellt sich das Bild im großen; auf der Friedenskonferenz wird die Entscheidung fallen über Wert und Stellung der Völker.

Jüdische Frauen, wenn ihr mit dem bangen und ehrfurchtsvollen Gefühle, wie es uns vor großen, historischen Momenten überkommt, daran denkt, habt ihr bedacht, daß diese Tage und Wochen auch die Entscheidung über Wert und Stellung eures Volkes endlich bringen müssen? – Welches ist die Stellung des jüdischen Volkes im modernen Staatenbilde? Es wird als Volkseinheit geleugnet, wo man dem Volkstume Rechte zubilligen müßte; es wird als gesonderte Volkseinheit ausgerufen, wo immer man es mit Haß und Verfolgung bedroht. 

An dem Wahlfieber dieser Tage nimmt zum ersten Male auch die Frau teil. Die Parteien umwerben sie, Plakate locken sie, Flugzettel schreien ihr Programme entgegen, laden sie zu Versammlungen. Es gilt, Volksvertreter zu wählen, welche über Wohl und Wehe, Leben und Größe, Rechte und Pflichten der Völker entscheiden sollen. Jede Partei zählt auf ihre Frauen. Auch das jüdische Volk zählt auf den Ernst und die bewußte Mithilfe seiner Frauen.

Die große Masse der Frauen ist politisch unreif. Sie hat sich erst seit viel zu kurzer Zeit mit den Fragen der Politik beschäftigt und steht darum fast ratlos vor einem Chaos, wo sich die Lager spalten, wo gleiche oder ähnliche Programme von mehreren Parteien auf einmal aufgestellt werden. Die jüdische Frau ist ihrer ganzen Wesensart nach zur leidenschaftlichen Teilnahme an der Politik geeignet. Sie hat einen lebhaften, beweglichen Geist, ist fähig, Ideale zu empfinden und sich ihrer Verwirklichung zu widmen. Die jüdischen Frauen wirken in allen Parteien, sie sind begeisterte Sozialdemokratinnen, Kommunistinnen, Demokratinnen. Die große Masse der jüdischen Frauen steht hinter den Führerinnen und ist verwirrt, denn auch sie zeigen keine einheitliche Richtung, keine Hingabe an die eine und einzige Sache. Und doch ist gerade für die jüdische Frau der Weg offen und klar. Die Plakate brauchen sie nicht zu locken, das Studium der verschiedenen Programme braucht ihnen kein Kopfzerbrechen zu verursachen; die jüdische Frau gehört ihrem Volke, sie hat nur für ihr Volk zu arbeiten und zu wählen

Auch die jüdischnationale Partei stellt Kandidaten in den Wahlkampf. Für das jüdische Volk bedeutet der Ausfall des Wahlkampfes die Entscheidung über seine Existenz und seine Lebensmöglichkeiten auf viele Jahre hinaus. Jude sein, heißt immer und überall in der Minderheit sein. Bisher haben die Minderheiten von der Gnade der Majoritäten gelebt. Die Friedenskonferenz aber will für das Selbstbestimmungsrecht für volle Freiheit auch der Minderheiten eintreten. Endlich aber muß auch die endlose unerträgliche Unterdrückung des jüdischen Volkes zur Sprache kommen, und zwar in einer würdigen Form, die sicher ist, daß alle Klagen und Beschwerden auch Gehör finden. Blutige Pogrome, Antisemitismus, der Berufe verrammelt, Existenzen untergräbt, das ist Lohn und Dank für ein Volk, dessen Angehörige in treuer Kulturarbeit jedem Lande gedient, das sie aufgenommen. Die Vertreter eines starken seiner selbst bewußten Volkes, werden überall gehört werden müssen. In der ersten Nationalversammlung Deutschösterreichs werden Entscheidungen fallen, die von weittragender Bedeutung für das Leben der Juden in diesem Land sein werden. Von der Anzahl der Stimmen, welche die jüdischnationalen Kandidaten erhalten, wird es abhängen, ob in der Schicksalsstunde des jüdischen Volkes Männer seines Blutes, Männer, die von bewußter Liebe und Hingabe zu ihm erfüllt sind, die Entscheidungen werden mitbestimmen dürfen. 

Jede Stimme kann ausschlaggebend sein. Deshalb muß jeder jüdische Mann, jede jüdische Frau in diesen Tagen sich ihrer nationalen Pflicht voll bewußt sein. Besonders an die Frauen wenden wir uns. Frauen sind die Trägerinnen des Gefühles. Der nationale Gedanke faßt nirgends so fest und tief Wurzel wie im Herzen der Frau. Wenn sich beim Manne im steten Daseinskampfe, in steter Berührung mit volksfremden Elementen das nationale Gefühl mindert oder doch in den Hintergrund gedrängt wird, in der Frau erhält sich, still behütet, das Bewußtsein der Volkszugehörigkeit wie ein Heiligtum. In ihm spricht sich die Liebe zu den Ahnen aus und die Zärtlichkeit für ihre Kinder und Enkel. Wir jüdischen Frauen, die wir mit sittlichem Ernste und gläubigen Herzen jüdisch wirken und jüdisch leben wollen, stehen zu unserem Volke in einer Art Pflichtverhältnis. Das Volk braucht uns heute und wir werden seinen Ruf aus der Not nicht ungehört verhallen lassen. Das kleine Volk, das überall verstreute, das, gedrängt und verfolgt, sich von Tag zu Tag seines Lebens wehrt, muß voll und ganz auf seine Angehörigen, auch auf seine Frauen rechnen können

Das jüdische Volk erwartet, daß alle jüdischen Männer und Frauen für die von ihm aufgestellten Kandidaten stimmen werden. Beim heutigen Wahlkampfe dürfen nicht allgemeine Schlagworte gelten, nicht nur Welt- oder Klassenfragen: für den jüdischen Mann, für die jüdische Frau gilt es vor allem das Interesse und der Fortbestand des jüdischen Volkes.

Jüdische Frauen, die Entscheidungsstunde für das jüdische Volk soll beweisen, daß ihr euch als lebende Glieder eures Volkes, als Trägerinnen des jüdischen Nationalismus fühlt. Er ist kein engherziger Nationalismus, wir er nur zu oft als Deckmantel der Unduldsamkeit dient, er ist ein Nationalismus der Liebe und der Gerechtigkeit, aber auch der Notwehr. Arbeitet für die Ehre und das Ansehen eures Volkes, für das Glück und die Zukunft eurer Kinder

Gebet eure Stimmen den Kandidaten der Jüdischnationalen Partei!

➥ Zur Biographie: Karl Müller

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 26. Jahrgang, Ausgabe 23 vom 04.06.1886, S. 219f

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Tran-skription

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Der erste böhmische Lyriker, der zweitbeste Epiker, ist heute auch schon nahe daran, der erste dramatische Schriftsteller des böhmischen Volkes zu werden. Emil Frieda, wie der unter dem Pseudonym Jaroslav Vrchlický schon weit über Böhmens Grenzen hinaus bekannte Poet eigentlich heißt, ist in jeder Beziehung eine phänomenale Erscheinung. Sowohl was Tiefe der Gedanken bei allen seinen Werken betrifft, die vor allem Andern Geist und nur Geist enthalten, als auch in Bezug auf Formvollendung, in der Vrchlický nicht seines Gleichen hat, ist er groß, aber geradezu verblüffend wirkt seine Fruchtbarkeit. Ein Mann, der zugleich durch ein Amt gebunden ist – Frida ist Secretär der böhmischen polytechnischen Hochschule – der sich an allen hervorragenderen böhmischen Blättern betheiligt, hat bis heute, wo er das dreißigste Jahr seines Lebens gar nicht lange überschritten, seinem Volke schon eine Bibliothek von nahezu einem halben Hundert von durchgängig werthvollen Werken geliefert, worunter allerdings einige wenige Uebersetzungen, aber von solcher Art sind, daß selbst diese hingereicht hätten, des fleißigen Dichters Ruf dauernd zu begründen. Ich erwähne hier blos Dante’s „die göttliche Komödie“, eine reichhaltige Anthologie moderner italienischer Poeten, Victor Hugo’s Gedichte, Hafiz’ Gedichte, Lecont de Lisle’s „Kain“, Giacomo Leopardi’s Gedichte u. s. w. An Originalsammlungen lyrischer Natur zählen wir von Vrchlický nicht weniger wie fünfzehn stattliche Bände, von epischen zehn, eine Sammlung „sentimentaler Erzählungen“ in Prosa nnd an dramatischen Werken die großen Tragödien: „Der Tod des Odysseus“, „Liebe und Tod“, „Julian Apostata“, „Hippodamie“, Drahomira“; die Lustspiele: „Im Fasse des Diogenes“, „Das Urtheil der Liebe“, „Die Nacht auf dem Karlstein“; die Komödie „Zum Leben“ und das soeben volle Häuser im böhmischen Nationaltheater machende Lustspiel „Rabinerweisheit“. Dieses dreiactige historische Lustspiel spielt Ende Mai 1608 in Prag zur Zeit Kaiser Rudolf’s und bildet die Hauptfigur des äußerst geschickt aufgebauten Stückes der ob seiner tiefen Gelehrsamkeit und humanitären Gesinnung hochgeachtete Prager Rabbiner Jehuda Löw ben Bezalet, dessen Ruf zu den Stufen des Kaisers reichte. Rudolf II. ließ sich damals ganz von seinem Leibkammerdiener und Rath Philipp Lang von Langenfels leiten, einem grundschlechten Men- schen, der, leider viel zu spät, entlarvt, schließlich im weißen Thurme sein Leben beendete, und der ebenfalls im Lustspiele auftritt.

Von Rabbi Jehuda erzählte man sich, daß er geheime Künste treibe, in die Geheimnisse der Alchymie und Goldmacherkunst eingeweiht sei und dergleichen mehr. Selbstverständlich, daß sein vor der Außenwelt sorgfältig gehütetes, angebliches Laboratorium die Neugierde der Menge ungemein in Anspruch nahm, und das umsomehr, als ja selbst seine Gattin Perl das Geheimniß der „schwarzen Kammer“ nicht kannte. Thatsächlich war aber diese vermeintliche Hexenküche nichts anderes als die einbruchsichere Depositenkammer für die von dem Menschenfreunde Mardochaj Mais hinterlassene Stiftung von 30.000 Thalern, welche als Begräbnißfond für arme Juden dienten und deren Verwaltung dem Rabbi oblag. Der Rabbi wohnte in der Langen Gasse im Hause „zum steinernen Löwen“ und fand, als er hier einzog, eine ganz eigenthümliche Einrichtung vor, welche wohl auch mit Ursache zu allerhand Gerüchten gewesen ist. Es ist das eine Architekturspielerei seltener Art. An die Kammer, welche zur Aufbewahrung des erwähnten Begräbnißfondes diente, reihten sich noch drei gleiche Kammern an, die von einander wechselseitig völlig abgegrenzt, durch eine correspondirende Achse in Bewegung gesetzt wurden, wodurch auch ein gemeinsamer Zutritt zu allen, von einer Seite aus, durch die entsprechende Drehung der Bodenscheibe vermittelt wurde. Hier beherbergte der menschenfreundliche Rabbi mitunter Obdachlose und solche Personen, die sich eine Zeitlang zurückzuziehen bemüßigt sahen. Und um diesen Theil der Wohnung des Rabbi dreht sich die ganze Handlung des Lustspieles, welche zum Theile auf der Wette des lustigen Hofmalers Bartholomäus Spranger beruht, das Geheimniß der schwarzen Kammer zu erforschen, was ihm schließlich auch gelingt.

Der erste Act, eine Art Vorspiel, in dem der Knoten der weitverzweigten Lustspielhandlung geknüpft wird, zeichnet sich namentlich durch den köstlichen Humor in der Scene, in der die lustigen Maler der schönen Jüdin Recha eine Boccaccioartige Serenade darbringen, aus. Effectvoll sind der zweite und der dritte Act, welche in der Wohnung des Rabbi spielen. Wir erfahren da Einiges von den geheimen Sünden des allmächtigen kaiserlichen Kammerdieners und seines Zutreibers, des Leibtrabanten Christoph Geißler. In den drei Kammern beherbergte der edelmüthige Rabbi die den Wellen entrissene Schafferstochter Veronika Kvěch aus Brandeis, deren zwei Schwestern ebenfalls eine Beute der Wollust des Philipp Lang geworden waren, die schöne Goldarbeitersgattin Recha, ebenfalls ein auserlesenes Opfer der Lang’schen Gelüste, und schließlich den Hofmaler Spranger, welcher auch der Rache des allmächtigen Lang ausgesetzt war und bei dem Rabbi Zuflucht suchte, um eine mit seinen Kameraden eingegangene Wette zu gewinnen, welche darin bestand, daß es ihm gelingen wird, in das Innere der Behausung des Zauberers einzudringen und sein Geheimniß zu entdecken. Diese drei Insassen wurden frei, als Lang der Nemesis verfiel, und Veronika Kvěch fiel nun ihrem Liebhaber Stephan Chanovský in die Arme, die schöne Recha eilte zu ihrem Gatten, der bereits sehr eifersüchtig zu werden begann, und der joviale Hofmaler freute sich der gewonnenen Wette. Der Rabbi, der trotz aller seiner Weisheit nun doch einsieht, daß er nicht klug gehandelt, aller er selbst seiner Frau Perl das Geheimniß der schwarzen Kammer vorenthalten, hält sich selbst die Worte des Talmuds vor: „Der Mann gehört ganz dem Weibe und umgekehrt. Euer ganzes Leben soll einem offenem Buche gleichen, worin man auf jeder Seite die Wahrheit lesen kann, und dann wird Euch stets leuchten die Liebe, diese erhabenste heilige Sabbathlampe.“

Die Disposition der Handlung überrascht geradezu durch ihren scenisch wirksamen Aufbau und durch die Charakteristik aller handelnden Personen. Alle sind Meisterstücke, aber eine besondere Vorliebe widmete der Dichter dem Helden des Stückes, dem Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel, und er hat da eine Charge geschaffen, die in den Händen eines guten Schauspielers – hier spielte sie der Veteran Šimanovský mit größtem Erfolg – geradezu überwältigend wirken muß. Der Rabbi ist ein echter und rechter Talmudgelehrter, die personificirte altjüdische Gelehrtheit. Ueberhaupt tritt eine stupende Talmudgelehrsamkeit in der ganzen Diction des Stückes hervor; Alles, was der Rabbi sagt, und der spricht gerne und viel, ist eine einzige Kette von Sentenzen und tiefen Wahrheiten. Wir haben da einen Prager Nathan den Weisen vor uns, der aber doch ein ganz anderer ist als jener Lessing’s. Trefflich, wie schon erwähnt, sind auch die übrigen Personen charakterisirt, so namentlich Meister David von Brüssel, der Kammerdiener Lang traurigen Andenkens, des Rabbis Frau Perl und dessen Famulus Jechiel.

Vrchlický hat mit diesem Lustspiele, das ebenso wie seine „Nacht am Karlsstein“ und die Einacter „Zum Leben“ und „Im Fasse des Diogenes“ ein Repertoirstück der böhmischen Nationalbühne bleiben wird, einen glücklichen Wurf gethan, und ich glaube nicht irre zu gehen, wenn ich in diesem Dichter denjenigen Poeten des böhmischen Volkes zu erblicken vermeine, der berufen ist, das leider so sehr, aber ungerecht, verlästerte böhmische Schriftwesen bei dem deutschen Volke zu rehabilitiren. Von Edmund Grün, der auch eine Uebersetzung von Vrchlicky’s Lustspiel „Die Nacht am Karlsstein“ im Manuskript besitzt, erschien soeben eine Anthologie von Gedichten dieses Poeten in Leipzig und eine zweite solche wird im Herbste seitens des Schreibers dieser Zeilen erscheinen. Vrchlický verdient in jeder Beziehung die größte Beachtung.