Zur Biographie: Anitta Müller

In: Wiener Morgenzeitung, 2.2.1919, S. 7;

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Die nächsten Tage sind zukunftsschwer. Sie tragen die Entscheidung in ihrem Schoße über Wert und Stellung der Parteien im neuen Staate. Dem Bilde im kleinen gesellt sich das Bild im großen; auf der Friedenskonferenz wird die Entscheidung fallen über Wert und Stellung der Völker.

Jüdische Frauen, wenn ihr mit dem bangen und ehrfurchtsvollen Gefühle, wie es uns vor großen, historischen Momenten überkommt, daran denkt, habt ihr bedacht, daß diese Tage und Wochen auch die Entscheidung über Wert und Stellung eures Volkes endlich bringen müssen? – Welches ist die Stellung des jüdischen Volkes im modernen Staatenbilde? Es wird als Volkseinheit geleugnet, wo man dem Volkstume Rechte zubilligen müßte; es wird als gesonderte Volkseinheit ausgerufen, wo immer man es mit Haß und Verfolgung bedroht. 

An dem Wahlfieber dieser Tage nimmt zum ersten Male auch die Frau teil. Die Parteien umwerben sie, Plakate locken sie, Flugzettel schreien ihr Programme entgegen, laden sie zu Versammlungen. Es gilt, Volksvertreter zu wählen, welche über Wohl und Wehe, Leben und Größe, Rechte und Pflichten der Völker entscheiden sollen. Jede Partei zählt auf ihre Frauen. Auch das jüdische Volk zählt auf den Ernst und die bewußte Mithilfe seiner Frauen.

Die große Masse der Frauen ist politisch unreif. Sie hat sich erst seit viel zu kurzer Zeit mit den Fragen der Politik beschäftigt und steht darum fast ratlos vor einem Chaos, wo sich die Lager spalten, wo gleiche oder ähnliche Programme von mehreren Parteien auf einmal aufgestellt werden. Die jüdische Frau ist ihrer ganzen Wesensart nach zur leidenschaftlichen Teilnahme an der Politik geeignet. Sie hat einen lebhaften, beweglichen Geist, ist fähig, Ideale zu empfinden und sich ihrer Verwirklichung zu widmen. Die jüdischen Frauen wirken in allen Parteien, sie sind begeisterte Sozialdemokratinnen, Kommunistinnen, Demokratinnen. Die große Masse der jüdischen Frauen steht hinter den Führerinnen und ist verwirrt, denn auch sie zeigen keine einheitliche Richtung, keine Hingabe an die eine und einzige Sache. Und doch ist gerade für die jüdische Frau der Weg offen und klar. Die Plakate brauchen sie nicht zu locken, das Studium der verschiedenen Programme braucht ihnen kein Kopfzerbrechen zu verursachen; die jüdische Frau gehört ihrem Volke, sie hat nur für ihr Volk zu arbeiten und zu wählen

Auch die jüdischnationale Partei stellt Kandidaten in den Wahlkampf. Für das jüdische Volk bedeutet der Ausfall des Wahlkampfes die Entscheidung über seine Existenz und seine Lebensmöglichkeiten auf viele Jahre hinaus. Jude sein, heißt immer und überall in der Minderheit sein. Bisher haben die Minderheiten von der Gnade der Majoritäten gelebt. Die Friedenskonferenz aber will für das Selbstbestimmungsrecht für volle Freiheit auch der Minderheiten eintreten. Endlich aber muß auch die endlose unerträgliche Unterdrückung des jüdischen Volkes zur Sprache kommen, und zwar in einer würdigen Form, die sicher ist, daß alle Klagen und Beschwerden auch Gehör finden. Blutige Pogrome, Antisemitismus, der Berufe verrammelt, Existenzen untergräbt, das ist Lohn und Dank für ein Volk, dessen Angehörige in treuer Kulturarbeit jedem Lande gedient, das sie aufgenommen. Die Vertreter eines starken seiner selbst bewußten Volkes, werden überall gehört werden müssen. In der ersten Nationalversammlung Deutschösterreichs werden Entscheidungen fallen, die von weittragender Bedeutung für das Leben der Juden in diesem Land sein werden. Von der Anzahl der Stimmen, welche die jüdischnationalen Kandidaten erhalten, wird es abhängen, ob in der Schicksalsstunde des jüdischen Volkes Männer seines Blutes, Männer, die von bewußter Liebe und Hingabe zu ihm erfüllt sind, die Entscheidungen werden mitbestimmen dürfen. 

Jede Stimme kann ausschlaggebend sein. Deshalb muß jeder jüdische Mann, jede jüdische Frau in diesen Tagen sich ihrer nationalen Pflicht voll bewußt sein. Besonders an die Frauen wenden wir uns. Frauen sind die Trägerinnen des Gefühles. Der nationale Gedanke faßt nirgends so fest und tief Wurzel wie im Herzen der Frau. Wenn sich beim Manne im steten Daseinskampfe, in steter Berührung mit volksfremden Elementen das nationale Gefühl mindert oder doch in den Hintergrund gedrängt wird, in der Frau erhält sich, still behütet, das Bewußtsein der Volkszugehörigkeit wie ein Heiligtum. In ihm spricht sich die Liebe zu den Ahnen aus und die Zärtlichkeit für ihre Kinder und Enkel. Wir jüdischen Frauen, die wir mit sittlichem Ernste und gläubigen Herzen jüdisch wirken und jüdisch leben wollen, stehen zu unserem Volke in einer Art Pflichtverhältnis. Das Volk braucht uns heute und wir werden seinen Ruf aus der Not nicht ungehört verhallen lassen. Das kleine Volk, das überall verstreute, das, gedrängt und verfolgt, sich von Tag zu Tag seines Lebens wehrt, muß voll und ganz auf seine Angehörigen, auch auf seine Frauen rechnen können

Das jüdische Volk erwartet, daß alle jüdischen Männer und Frauen für die von ihm aufgestellten Kandidaten stimmen werden. Beim heutigen Wahlkampfe dürfen nicht allgemeine Schlagworte gelten, nicht nur Welt- oder Klassenfragen: für den jüdischen Mann, für die jüdische Frau gilt es vor allem das Interesse und der Fortbestand des jüdischen Volkes.

Jüdische Frauen, die Entscheidungsstunde für das jüdische Volk soll beweisen, daß ihr euch als lebende Glieder eures Volkes, als Trägerinnen des jüdischen Nationalismus fühlt. Er ist kein engherziger Nationalismus, wir er nur zu oft als Deckmantel der Unduldsamkeit dient, er ist ein Nationalismus der Liebe und der Gerechtigkeit, aber auch der Notwehr. Arbeitet für die Ehre und das Ansehen eures Volkes, für das Glück und die Zukunft eurer Kinder

Gebet eure Stimmen den Kandidaten der Jüdischnationalen Partei!

➥ Zur Biographie: Karl Müller

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 26. Jahrgang, Ausgabe 23 vom 04.06.1886, S. 219f

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Der erste böhmische Lyriker, der zweitbeste Epiker, ist heute auch schon nahe daran, der erste dramatische Schriftsteller des böhmischen Volkes zu werden. Emil Frieda, wie der unter dem Pseudonym Jaroslav Vrchlický schon weit über Böhmens Grenzen hinaus bekannte Poet eigentlich heißt, ist in jeder Beziehung eine phänomenale Erscheinung. Sowohl was Tiefe der Gedanken bei allen seinen Werken betrifft, die vor allem Andern Geist und nur Geist enthalten, als auch in Bezug auf Formvollendung, in der Vrchlický nicht seines Gleichen hat, ist er groß, aber geradezu verblüffend wirkt seine Fruchtbarkeit. Ein Mann, der zugleich durch ein Amt gebunden ist – Frida ist Secretär der böhmischen polytechnischen Hochschule – der sich an allen hervorragenderen böhmischen Blättern betheiligt, hat bis heute, wo er das dreißigste Jahr seines Lebens gar nicht lange überschritten, seinem Volke schon eine Bibliothek von nahezu einem halben Hundert von durchgängig werthvollen Werken geliefert, worunter allerdings einige wenige Uebersetzungen, aber von solcher Art sind, daß selbst diese hingereicht hätten, des fleißigen Dichters Ruf dauernd zu begründen. Ich erwähne hier blos Dante’s „die göttliche Komödie“, eine reichhaltige Anthologie moderner italienischer Poeten, Victor Hugo’s Gedichte, Hafiz’ Gedichte, Lecont de Lisle’s „Kain“, Giacomo Leopardi’s Gedichte u. s. w. An Originalsammlungen lyrischer Natur zählen wir von Vrchlický nicht weniger wie fünfzehn stattliche Bände, von epischen zehn, eine Sammlung „sentimentaler Erzählungen“ in Prosa nnd an dramatischen Werken die großen Tragödien: „Der Tod des Odysseus“, „Liebe und Tod“, „Julian Apostata“, „Hippodamie“, Drahomira“; die Lustspiele: „Im Fasse des Diogenes“, „Das Urtheil der Liebe“, „Die Nacht auf dem Karlstein“; die Komödie „Zum Leben“ und das soeben volle Häuser im böhmischen Nationaltheater machende Lustspiel „Rabinerweisheit“. Dieses dreiactige historische Lustspiel spielt Ende Mai 1608 in Prag zur Zeit Kaiser Rudolf’s und bildet die Hauptfigur des äußerst geschickt aufgebauten Stückes der ob seiner tiefen Gelehrsamkeit und humanitären Gesinnung hochgeachtete Prager Rabbiner Jehuda Löw ben Bezalet, dessen Ruf zu den Stufen des Kaisers reichte. Rudolf II. ließ sich damals ganz von seinem Leibkammerdiener und Rath Philipp Lang von Langenfels leiten, einem grundschlechten Men- schen, der, leider viel zu spät, entlarvt, schließlich im weißen Thurme sein Leben beendete, und der ebenfalls im Lustspiele auftritt.

Von Rabbi Jehuda erzählte man sich, daß er geheime Künste treibe, in die Geheimnisse der Alchymie und Goldmacherkunst eingeweiht sei und dergleichen mehr. Selbstverständlich, daß sein vor der Außenwelt sorgfältig gehütetes, angebliches Laboratorium die Neugierde der Menge ungemein in Anspruch nahm, und das umsomehr, als ja selbst seine Gattin Perl das Geheimniß der „schwarzen Kammer“ nicht kannte. Thatsächlich war aber diese vermeintliche Hexenküche nichts anderes als die einbruchsichere Depositenkammer für die von dem Menschenfreunde Mardochaj Mais hinterlassene Stiftung von 30.000 Thalern, welche als Begräbnißfond für arme Juden dienten und deren Verwaltung dem Rabbi oblag. Der Rabbi wohnte in der Langen Gasse im Hause „zum steinernen Löwen“ und fand, als er hier einzog, eine ganz eigenthümliche Einrichtung vor, welche wohl auch mit Ursache zu allerhand Gerüchten gewesen ist. Es ist das eine Architekturspielerei seltener Art. An die Kammer, welche zur Aufbewahrung des erwähnten Begräbnißfondes diente, reihten sich noch drei gleiche Kammern an, die von einander wechselseitig völlig abgegrenzt, durch eine correspondirende Achse in Bewegung gesetzt wurden, wodurch auch ein gemeinsamer Zutritt zu allen, von einer Seite aus, durch die entsprechende Drehung der Bodenscheibe vermittelt wurde. Hier beherbergte der menschenfreundliche Rabbi mitunter Obdachlose und solche Personen, die sich eine Zeitlang zurückzuziehen bemüßigt sahen. Und um diesen Theil der Wohnung des Rabbi dreht sich die ganze Handlung des Lustspieles, welche zum Theile auf der Wette des lustigen Hofmalers Bartholomäus Spranger beruht, das Geheimniß der schwarzen Kammer zu erforschen, was ihm schließlich auch gelingt.

Der erste Act, eine Art Vorspiel, in dem der Knoten der weitverzweigten Lustspielhandlung geknüpft wird, zeichnet sich namentlich durch den köstlichen Humor in der Scene, in der die lustigen Maler der schönen Jüdin Recha eine Boccaccioartige Serenade darbringen, aus. Effectvoll sind der zweite und der dritte Act, welche in der Wohnung des Rabbi spielen. Wir erfahren da Einiges von den geheimen Sünden des allmächtigen kaiserlichen Kammerdieners und seines Zutreibers, des Leibtrabanten Christoph Geißler. In den drei Kammern beherbergte der edelmüthige Rabbi die den Wellen entrissene Schafferstochter Veronika Kvěch aus Brandeis, deren zwei Schwestern ebenfalls eine Beute der Wollust des Philipp Lang geworden waren, die schöne Goldarbeitersgattin Recha, ebenfalls ein auserlesenes Opfer der Lang’schen Gelüste, und schließlich den Hofmaler Spranger, welcher auch der Rache des allmächtigen Lang ausgesetzt war und bei dem Rabbi Zuflucht suchte, um eine mit seinen Kameraden eingegangene Wette zu gewinnen, welche darin bestand, daß es ihm gelingen wird, in das Innere der Behausung des Zauberers einzudringen und sein Geheimniß zu entdecken. Diese drei Insassen wurden frei, als Lang der Nemesis verfiel, und Veronika Kvěch fiel nun ihrem Liebhaber Stephan Chanovský in die Arme, die schöne Recha eilte zu ihrem Gatten, der bereits sehr eifersüchtig zu werden begann, und der joviale Hofmaler freute sich der gewonnenen Wette. Der Rabbi, der trotz aller seiner Weisheit nun doch einsieht, daß er nicht klug gehandelt, aller er selbst seiner Frau Perl das Geheimniß der schwarzen Kammer vorenthalten, hält sich selbst die Worte des Talmuds vor: „Der Mann gehört ganz dem Weibe und umgekehrt. Euer ganzes Leben soll einem offenem Buche gleichen, worin man auf jeder Seite die Wahrheit lesen kann, und dann wird Euch stets leuchten die Liebe, diese erhabenste heilige Sabbathlampe.“

Die Disposition der Handlung überrascht geradezu durch ihren scenisch wirksamen Aufbau und durch die Charakteristik aller handelnden Personen. Alle sind Meisterstücke, aber eine besondere Vorliebe widmete der Dichter dem Helden des Stückes, dem Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel, und er hat da eine Charge geschaffen, die in den Händen eines guten Schauspielers – hier spielte sie der Veteran Šimanovský mit größtem Erfolg – geradezu überwältigend wirken muß. Der Rabbi ist ein echter und rechter Talmudgelehrter, die personificirte altjüdische Gelehrtheit. Ueberhaupt tritt eine stupende Talmudgelehrsamkeit in der ganzen Diction des Stückes hervor; Alles, was der Rabbi sagt, und der spricht gerne und viel, ist eine einzige Kette von Sentenzen und tiefen Wahrheiten. Wir haben da einen Prager Nathan den Weisen vor uns, der aber doch ein ganz anderer ist als jener Lessing’s. Trefflich, wie schon erwähnt, sind auch die übrigen Personen charakterisirt, so namentlich Meister David von Brüssel, der Kammerdiener Lang traurigen Andenkens, des Rabbis Frau Perl und dessen Famulus Jechiel.

Vrchlický hat mit diesem Lustspiele, das ebenso wie seine „Nacht am Karlsstein“ und die Einacter „Zum Leben“ und „Im Fasse des Diogenes“ ein Repertoirstück der böhmischen Nationalbühne bleiben wird, einen glücklichen Wurf gethan, und ich glaube nicht irre zu gehen, wenn ich in diesem Dichter denjenigen Poeten des böhmischen Volkes zu erblicken vermeine, der berufen ist, das leider so sehr, aber ungerecht, verlästerte böhmische Schriftwesen bei dem deutschen Volke zu rehabilitiren. Von Edmund Grün, der auch eine Uebersetzung von Vrchlicky’s Lustspiel „Die Nacht am Karlsstein“ im Manuskript besitzt, erschien soeben eine Anthologie von Gedichten dieses Poeten in Leipzig und eine zweite solche wird im Herbste seitens des Schreibers dieser Zeilen erscheinen. Vrchlický verdient in jeder Beziehung die größte Beachtung.