dargestellt in zwei Predigten über 2. B. M. 12,2; gehalten bei der Einweihung der neuen Hauptsynagoge zu Frankfurt a.M., am 23/24. März 1860. I. Die Erinnerung.

In: Der Israelitische Volkslehrer. Ein Organ für Synagoge, Schule, Leben und Wissenschaft des Judenthums 10/4 (1860), 121-136.

➥ Zur Biographie: Franz Steiner

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 15 vom 15.04.1910, S. 1f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

In der jüdischen Presse ist seit dem Erscheinen des sensationellen Artikels des bekannten Nationalökonomen und Zionisten Franz Oppenheimers über „Nationalbewußtsein und Stammesbewußtsein“ in der „Welt“ vom 18. Februar ein lebhafter und bedeutungsvoller Meinungskampf über Ost- und Westjudentum entbrannt, an dem sich in erster Reihe die hervorragendsten Köpfe der jungjüdischen Bewegung beteiligen, ein frischer und ernster wissenschaftlicher Kampf, der – wie nicht anders zu erwarten stand – die vielfältigsten und verschiedenartigsten Anschauungen über Volkstum, Sprache, Rasse und Milieu, Kultur und Sitte, über Judentum und Zionismus zutage gefördert hat und noch lange kein Ende absehen läßt. Die Vorhersage Oppenheimers trifft ein: das Ventil ist geöffnet, der Ueberdruck im Kessel beginnt abzuströmen.

Dieses Abströmen fing – ein Beweis, wie stark der Ueberdruck – explosionsartig an. Die Wiener Zionisten – stets im Opponieren groß – begannen mit einem geharnischten Protest gegen Oppenheimer. Feiwel in Berlin rückte mit einer sehr gedankenreichen, tiefgrabenden, aber nicht unvoreingenommenen und vielfach die Grenzen der wissenschaftlichen Disputation überschreitenden Abhandlung als erster gegen Oppenheimer zu Felde. Bald aber meldeten sich andere zum Worte, die zustimmten und ergänzten und die Frage des unleugbaren Gegensatzes oder mindestens des tiefgreifenden Unterschiedes zwischen dem jüdischen Osten und Westen immer mehr ausweiteten, vertieften und durchdachten, so daß die Erörterungen, die offenbar einem akuten, tiefempfundenen Bedürfnis entgegenkamen, sich zu einer großen Literatur von Wert und Bedeutung ausgewachsen haben.

Es ist unmöglich, in dem bescheidenen Rahmen unseres Blattes auch nur auszugsweise den interessanten Inhalt dieser Gutachten wiederzugeben. Wir mußten uns vielmehr schon seinerzeit darauf beschränken, nur einige wenige Stellen aus dem Hauptartikel Oppenheimers, der die ganze Debatte geweckt, viele meinen: „heraufbeschworen“ hat, zu zitieren. Anderseits ist die Frage eine so tiefeinschneidende, aktuelle und wichtige, daß es nicht angeht, darüber schweigend hinwegzugehen. Es sind uns schon eine Anzahl Aeußerungen über die Ost- und Westjudenfrage zugekommen, die wir, teils weil sie unreif, teils weil sie dem Rahmen und Wesen des Blattes nicht entsprachen, nicht veröffentlichen konnten. Wir haben uns aber, vielfach geäußerten Wünschen entsprechend, entschlossen, ganz kurze, präzis und sachlich gehaltene Gutachten, die von Autoren aus Böhmen über diese Frage einlaufen, von Fall zu Fall zu publizieren, wobei wir uns aber wegen Platzmangel eventuelle sinngemäße Streichungen vorbehalten müssen.

Für heute beginnen wir mit folgendem Gutachten:

Nationalbewußtsein u. Volksbewußtsein

(Gekürzt.)

Die Begriffseinteilung, die Oppenheimer zwischen Stammes-, Volks-, National- und Kulturbewußtsein macht, scheint mir unzureichend, unklar, ja unzutreffend. Es macht den Eindruck, als ob hier in einer rein persönlichen, sozusagen einer Herzensangelegenheit den Wissenschaftler – man verzeihe – die Wissenschaft ein wenig im Stiche gelassen hätte oder als ob der Aufsatz in Eile und unausgegoren in Druck gegangen sei. Denn die Distinktionen entbehren fast durchweg der festen, klaren Umrissenheit und gleiten oft verschwommen ineinander über. Oppenheimer meinte das Richtige, aber er sagt es so, daß es Widerspruch erregen muß. So scheint mir, daß das Mißverständnis auf Oppenheimers Seite liegt, wenn er sagt: „Die meisten von uns (Westlern), die allermeisten, nennen sich Nationaljuden auf Grund eines Mißverständnisses.“ Trotzdem wir Juden zweifellos im Osten und Westen soziologisch ganz verschieden determiniert sind, sind wir doch ebenso zweifellos in Ost wie West nicht nur Stammesjuden, sondern – sofern wir eben zionistisch, d. h. noch oder wieder jüdischnational gesinnt sind – auch Nationaljuden, wenn dieses Nationaljudentum auch mehr Nationalbewußtsein als ursprüngliches, instinktives Nationalgefühl ist.

Es geht nicht an, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein in einen solchen Gegensatz zu bringen, wie es Oppenheimer tut. Diese Distinktion, diese Gegensätzlichkeit ist eine erdachte, keine wirklich bestehende, ebenso wie sich Nationalbewußtsein nicht in Volks- und Kulturbewußtsein spalten läßt. Das, was Oppenheimer unter Stammesbewußtsein zusammenfaßt – „gemeinsame Abstammung, gemeinsames Blut, (ehemalig) gemeinsames Volkstum, gemeinsame Geschichte“ – ist schon auch Volksbewußtsein und Nationalbewußtsein, und das, was er unter Volksbewußtsein und Nationalbewußtsein verstanden wissen will – „Gemeinsamkeit der Sprache, der Sitte, der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen usw. und der geistigen Kultur“ – d. h. die gegenwärtige physische und psychologische Struktur des Volkes gehört insgesamt – sogar die Sprache läßt sich hier miteinbeziehen – unter den Begriff der Kultur. Nicht das Volksbewußtsein ist die psychische Wiederspiegelung des Milieus, sondern das Kulturbewußtsein, und nicht in der Verschiedenartigkeit des Nationalbewußtseins liegt der Unterschied zwischen Ost und West – das Nationalbewußtsein ist sogar im Westen, weil bewußter, auch betonter und ausgeprägter – sondern lediglich in der Kulturhöhe, und daraus braucht durchaus weder eine Anmaßung noch ein Hochmut des Westens dem Osten gegenüber deduziert werden.

Die Kulturhöhe allein ist das entscheidende Moment der Distinktion zwischen östlichem und westlichem Judentum und alle Beispiele, die Oppenheimer bringt, illustrieren durchgehends nur, daß Nationalbewußtsein und Kulturbewußtsein zwei verschiedene Dinge sind. Und hier muß man Oppenheimer vollkommen beipflichten: „Wir (Westler) können nicht Kulturjuden sein, denn die jüdische Kultur, wie sie aus den Ghetti des Ostens aus dem Mittelalter herübergerettet worden ist, steht unendlich tief unter der neuzeitlichen Kultur, deren Träger Deutsche, Franzosen, Engländer, Amerikaner usw. sind.“ Und wir sind tatsächlich zu 95% oder mindestens zu 75% aus westeuro- päischen Kulturelementen zusammengesetzt.

Das ist – so schmerzlich sie auch vielen klingen mag – eine Tatsache, und so sehr auch die Jargonliteratur geschätzt und bewundert werden mag, so sehr auch die Anfänge einer neuhebräi- schen Kultur und Literatur begrüßt werden müssen, wir modernen Westjuden können – von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr Kulturjuden sein, weil wir die hebräische Sprache, die hebräische Kultur nicht mehr in uns aufnehmen können oder nicht wollen. Uns ist die deutsche, französische Kultur usw. verwandter, näher geworden als die ostjüdische. Das gilt ebenso von Herzl, Nordau und – Oppenheimer, wie es für die überwiegende Majorität der Westler überhaupt gilt, und man müßte, wenn man Oppenheimer deswegen verdammen und als Nichtzionisten verschreien wollte, dann auch Herzl einen Nichtzionisten nennen, denn er war Kulturdeutscher. Aber so wie Herzl sich dagegen verwahrt hätte, nicht Nationaljude zu heißen, nicht jüdisches Volksbewußtsein gehabt zu haben, so beruht es meines Erachtens auf einem Mißverständnisse Oppenheimers, wenn er wegen seines deutschen Kulturbewußtseins sein jüdisches Nationalbewußtsein bezweifelt.

Ich möchte ein Beispiel anführen, ein recht triviales, aber darum um so schärfer in die Augen springendes, das, glaube ich, das ganze Verhältnis des Westens wie des Ostens zum jüdischen Volke und zum Zionismus charakterisiert: Der Jude des Westens ist der „aus der Art geschlagene“, d.h. aus der Enge des Vaterhauses in die Welt verschlagene Sohn des jüdischen Volkes, von der Familie schon als verloren geglaubt, anders in Art und Sitte, Sprache und Kleidung, als Eltern und Geschwister daheim, aber doch der echte, legitime Sohn. Und nun kehrt er als Zionist in sein Vaterhaus zurück, und siehe da: er ist nicht „verloren“, er verleugnet trotz seines besseren Gewandes seine Eltern nicht, nicht seine Brüder, sondern fühlt sich eines Sinnes mit ihnen vermöge des Stammes, des Blutes, der Rasse, der Nationalität nach, nur nicht der Kultur nach. Denn er kann unmöglich eine höhere Kultur, die er sich oft mühsam erworben hat, einer niederen oder erst in der Entwicklung begriffenen zuliebe aufgeben. Er fühlt sich eins nicht aus Gnade, nicht aus Rachmonith, nicht aus Mizweh, sondern auch tiefster Ueberzeugung und innerster Liebe zu seinem Blute, und weil er liebt, will er die Seinen befreien, ihnen helfen, sie in eine neue Kultur hinüberführen. Das ist der Standpunkt der westlichen Zionisten, und wahrhaftig – es ist nicht der schlechtere, minderwertige, es ist ganzer, nicht verwässerter, nicht Wohltätigkeitszionismus, sondern Zionismus aus Liebe und Treue.

Die Liebe zum jüdischen Volke eint Ost und West, und in dieser Hinsicht gibt es keinen zweifachen Zionismus und keine verschiedenen Standpunkte.

Und wieder hat Oppenheimer recht, wenn er sagt: „Nicht in der Diaspora, erst in Palästina kann und wird eine neue jüdische, vollwertige Kultur aufblühen und erst in Palästina kann der Westjude wieder Kulturjude werden, er oder, besser gesagt: sein Enkelkind.“ Daran glauben wir alle, Ost und West, an die jüdische Renaissance in Palästina, und wir glauben, daß es dann auch wieder eine Sprache geben wird: sie heißt hebräisch.

Und hier erst kann wieder von einer „Mission“ die Rede sein und hier können wir dann auch dem Mystiker Buber folgen, der den Sinn des Judentums nicht in der Vergangenheit sucht, sondern in der Zukunft, im jüdischen Palästina. Dort kann vielleicht der neue Messias erstehen – für die ganze Welt.

 

 

➥ Zur Biographie: Heymann Steinthal

Mit einer Vorbemerkung von Leo Baeck. In: Der Morgen 8 (1932-1933) H. 2, S. 141-146.

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➥ Zur Biographie: Sturmann Manfred

(Anläßlich des Erscheinens des letzten der nachgelassenen Romane Franz Kafkas: „Amerika.“)

In: Selbstwehr, Nr. 6, XXII. (22.) Jahrgang, 10. Feber 1928, S. 3–4.

I.

Es erübrigt sich heute, fast vier Jahre nach dem Tode Franz Kafkas, mit dem Nachdruck auf seine Bedeutung hinzuweisen, der 1924 noch notwendig war, um sich Gehör zu verschaffen. Allmählich ist die Gemeinde des Dichters gewachsen, die Kühlsten und Fernstehendsten haben bei den gewaltigen Gaben seines Nachlasses aufmerken müssen, und jene Wenigen, die noch zu seinen Lebzeiten und unmittelbar nach dem Tode des Unvergeßlichen immer wieder seine Größe klarzustellen und seine zukünftige Wirkungskraft zu prophezeien sich bemühten, jene Wenigen haben eine beglückende Bestätigung erfahren dürfen und nicht zuletzt die Gewißheit, daß Franz Kafka die Anerkennung und darüber hinaus den Ruhm finden wird, der ihm gebührt. Noch ist es nicht so weit. Wohl ist der Name Kafka im Kreise der literarisch Interessierten längst kein unbekannter mehr, wohl wachsen von Tag zu Tag die Stimmen, die den Vorstoß durch die Indifferenz weiterer Kreise intensivieren helfen –, noch aber hat leider dieser Vorstoß nicht jene Kraft erreicht, die allein letzte Verbreitung und damit die Unvergänglichkeit des Werkes gewährleistet.

Franz Kafka ist ein jüdischer Dichter nicht nur seiner Abstammung nach, sondern vor allem gemäß seiner geistigen Struktur und nach jener tragischen Besessenheit, mit welcher er versucht, sich dem Gefüge der Welt einzuordnen. Franz Kafka ist der Jude schlechthin. Es ist vielleicht gut zu sagen: Der Ewige Jude. Kafka, der das Maß beherrscht, wie kein zweiter Dichter dieses Jahrhunderts, steht selber ungemessen der Ordnung, dem Kosmos gegenüber. Nirgends gibt es einen verborgenen Winkel, in den er sich betten darf; was bei jedem Kuli eine Selbstverständlichkeit ist, wird bei ihm zur Utopie. Er müht sich, erniedrigt sich, zwingt sich mit heroischer Geduld zu immer erneutem Versuch. Aber es liegt doch gleichzeitig eine Hoffnungslosigkeit, eine Verzweiflung in dieser Bemühung, und indessen entblättert sich das Leben wie ein herbstlicher Baum. Das ist Kafkas Melodie, die seiner selbst und die seiner Dichtung; denn nirgends anders finden wir eine solche Einheit von Leben und Werk wie bei ihm. Diese Melodie klingt aus der noch zu Lebzeiten erschienenen Novelle Die Verwandlung, aus den Romanen Der Prozeß und Das Schloß und schließlich aus dem dritten Nachlaßband, der im Folgenden noch näher betrachtet werden wird.[1]

Bedarf es noch eines Beweises, daß diese seine Melodie eine jüdische ist? Ist Kafkas Thema nicht das jüdische Schicksal in letzter Prägnanz? Jenes der Ordnung-gegenüber-stehen, jene Sehnsucht, seine Art zur Norm zu machen, jene Bemühung, in die Reihe zu treten, nur um aufzuhören, ein Sonderfall zu sein? Wenn Josef K. im Prozeß sein Leben hingibt im Kampf mit einer geheimnisvollen Gerichtsbehörde, nur um den Grund zu erforschen, weshalb er verfolgt und verurteilt ist; wenn K. im Schloß seine letzten Energien verschwendet, nur um in einer fremdartigen Umgebung Durchschnittsmensch zu werden; wenn schließlich der sechzehnjährige Karl Roßmann im dritten Nachlaßband Amerika trotz allem Fleiße und aller Entbehrung in seinem Bestreben, sich der Ordnung des fremden Kontinents einzureihen, immer wieder versagt – wer spürte nicht über den Leiden dieser Einsamen den Schlagschatten des jüdischen Geschicks: Ein zweitausendjähriges Sehnen nach der Norm, nach einer natürlichen Daseinsform?

Ueberall in Kafkas Werk stehen die Menschen gleich Zuschauern um den Einzelfall, staunend zuweilen, doch oft auch mit Gelächter. „Es ist doch so einfach, da zu sein!“ denken sie. Kann die Parallele noch deutlicher sein: Wie der Held in Kafkas Werk den Zuschauern, so steht der Jude seiner Umgebung, so das Judentum den Völkern gegenüber, als Einzelfall, als betrachtens- und vielleicht bemitleidenswerte Extravaganz. Im Prozeß erzählt Kafka eine Legende, in der ein Mensch zum Türhüter des Gesetzes wandert und Einlaß begehrt. „Es ist möglich,“ sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Und der Arme wartet vor der Türe. Monde und Jahre. Er gibt den Versuch auf, hineinzudringen in das Gesetz, und wartet, bis man ihm die Türe öffnet. Indessen wird er alt, krank und kindisch. Ehe er stirbt, rafft er sich noch einmal zu einer Frage auf: „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß begehrt hat?“ Und der Türhüter antwortet: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

In diesen Tagen ist der dritte Nachlaßband, Amerika, erschienen. Mit diesem Werk – und den beiden anderen genannten Romanen Der Prozeß und Das Schloß – schließt sich Kafkas geniale Trilogie des Einsamen, des faustischen Wanderers, des um die letzte Weisheit Irrenden. Kein zweiter Dichter unter den Jüngeren vermochte mit so einfachen Mitteln Epen solcher Größe zu schaffen; keiner so über die Zeit hinauszuwachsen wie Kafka; keiner mit einer aus Einfachheit emporgesteigerten Sätzen Prosa zu formen, die in ihrer geordneten Klangfülle wie eine Wortsymphonie wirkt. Wer kann das Geheimnis deuten: Kafkas Sprache ist streng; jemand, der sie zum ersten Male liest, wäre versucht, sie als Kälte zu deuten. Dem aber ist nicht so. Diese Prosa ist zwar ausnahmslos frei von Lyrismen; sie ist herauskristallisiert aus der Idee, aus Kafkas tragischer Besessenheit eben. Aber wie der Kristall hart ist, und doch die Weichheit des Lichtes sich nicht versagt, so ist die Sprache Kafkas nach außen hart abgegrenzt, doch von allen Seiten her durchsichtig, spiegelt sie innerste Bewegtheit wieder, Liebe und Mitleid, und so verbindet sich zu seltener Einheit das zwiefache Maß Form und Gehalt.

II.

Amerika ist das weltlichste Buch Kafkas im wortwörtlichen Sinne. Das Buch nämlich, das der Welt am nächsten kommt. Während im Prozeß und im Schloß der Einsame der Welt gegenübersteht mit jener Sehnsucht, von der wir oben sprachen – ist Karl Roßmann im dritten Roman ein Knabe, der noch nicht um diese Stille weiß, der sich des Tragischen also noch nicht bewußt wurde.

Er will nichts als ein in geordneten Verhältnissen lebender Mensch werden, nur ein Arbeiter. Der Junge hat Pech gehabt. Er wurde von einem Dienstmädchen verführt und ist mit 16 Jahren Vater geworden. Die kleinbürgerlichen, durch das Mißgeschick kopflos gewordenen Eltern schicken ihn nach Amerika. Das ist in solchen Fällen am bequemsten. Das Dienstmädchen aber weiß, daß Karl einen Onkel in Amerika hat, sie schreibt an ihn, und so kommt es, daß der junge Auswanderer, noch ehe er das Schiff verläßt, im Hafen von New York von seinem Onkel gefunden wird. Es scheint nun alles gut zu enden. Karl hat Zeit, sich in einem reichen Hause auf die neue Welt vorzubereiten. Er wird verwöhnt, bekommt ein Klavier, einen Hauslehrer und Reitunterricht. Der Onkel ist ihm zwar mit väterlicher Liebe zugetan, aber so sehr Prinzipienmensch, daß er aus einem geringfügigen Anlaß den Neffen verstößt und der Hölle des fremden Landes preisgibt. Karls Schicksal wendet sich jäh. Er weilt eben noch in einem prunkvollen Landhause bei New York – da verstrickt sich die Situation: Plötzlich sind jene Menschen, die ihn eben noch gastlich bewirteten, seine Feinde, die Villa wird zum Labyrinth, die so sanft scheinende Tochter des Hauses zum Ungeheuer, mit dem er sich buchstäblich zu prügeln hat, und zu allem Ueberfluß wird ihn mitten in seiner Verwirrung ein Brief des Onkels übergeben, nach welchem er verstoßen ist und nie mehr in das Haus des Onkels zurückkehren darf. Karl sitzt auf der Straße. In einer Herberge lernt er zwei Strolche kennen. Delamarche und Robinson, – sie erinnern in allem an die beiden Gehilfen im Schloß – die ihn unter dem Vorwand, für ihn Arbeit zu suchen, mitschleppen und ihn doch nur ausnutzen bis es zum offenen Streit kommt. Karl verläßt die Weggenossen und findet im Hotel Occidental ein Unterkommen als Liftjunge. Sein Dienst ist maßlos schwer. Mit äußerster Anspannung nur kann er auf seinem Posten ausharren. Er beißt die Zähne zusammen, er muß sich durchkämpfen, um langsam aus der kleinen Anstellung aufzusteigen. Er gewöhnt sich recht und schlecht an die neue Umgebung und an das Zusammenleben mit den anderen Liftjungen des Hotels. Schon hat er von seinen Trinkgeldern ein hübsches Sümmchen erspart, in der einflußreichen Oberköchin eine Gönnerin und in der kleinen Sekretärin Therese eine reizende Freundin gefunden. Wieder hat es den Anschein, als stünden seine Sterne gut. Da aber taucht plötzlich Robinson auf, er ist hoffnungslos betrunken. Karls Situation ist unerträglich. Er bringt es nicht fertig, den Burschen hinauszuwerfen und läßt sich von seiner Gutherzigkeit verleiten, seinen Posten ohne Erlaubnis, für ein paar Minuten nur, zu verlassen, um den betrunkenen Robinson im Schlafsaal der Liftjungen in Sicherheit zu bringen. Das Versäumnis wird von seinem Vorgesetzten entdeckt, eine grundlose Diebstahlsverdächtigung kommt hinzu – Karl ist fristlos entlassen. Wieder hat er nur Feinde um sich. Sein einziger Wunsch in seiner namenlosen Enttäuschung ist, fortzukommen, er flieht, ohne die der Oberköchin zur Aufbewahrung anvertrauten Ersparnisse an sich zu nehmen. Karl ist wieder frei aber ärmer und verlassener als ein Hund. Es bleibt nichts anderes übrig: er schließt sich Robinson wieder an, der ihm Hilfe verhilft, aber Karl fällt dem zu einem gewissen Wohlstand gelangten Delamarche in die Hände, und die alte Feindschaft lodert wieder auf. Karls Lage ist unbeschreiblich: Es gibt blutige Schlägereien, er wird zum Knecht, zum Küchenjungen degradiert.

Hier bricht der fragmentarische Roman ab. Wir erfahren nichts mehr von den Leiden des mutigen Jungen. Dann aber, im letzten Kapitel, das Kafka Das Naturtheater von Oklahoma überschreibt, stoßen wir wieder auf Karls Fährte. Wir erfahren, daß er in diesem phantastischen Riesentheater eine Anstellung erhält. Das Schlußkapitel ist irgendwie heiterer gehalten, wir glauben annehmen zu dürfen, daß Karls Weg endlich aufwärts führt und wirklich, Max Brod deutet in seinem Nachwort darauf hin, daß es Kafkas Plan gewesen wäre, dieses Buch mit einer Verklärung abzuschließen: Karl Roßmann sollte sein Ziel erreichen, auf beiden Füßen stehen bleiben und hier, in diesem, ihn anfangs so feindlich anmutenden Lande endlich geruhigte Aufnahme und Einordnung finden.

Amerika übertrifft die früheren Werke Kafkas durch seine gesteigerte Bewegtheit. Es ist der Optimismus der Jugend, der hier hellere Farben spendet. Weil Karl Roßmann noch unbewußt vorwärts dringt und jener Hoffnungslosigkeit fern ist, in der sonst die Spannkraft des Kafkaschen Helden erlischt. Amerika ist wohl auch das phantasiereichste Buch des Dichters. Zuweilen gibt die Strenge nach unter der Glut des inneren Gesichtes: Kafka ist kaum über die Grenzen Böhmens hinausgekommen und vermag doch eine Vision Amerikas festzuhalten, als wäre er lange drüben gewesen. Seine Bilder wachsen ins Gigantische: Riesenhotel und Chaos der Straße, New Yorker Proletarierelend – und dann wieder die gewaltige Schilderung des Naturtheaters.

Nach dem Torso dieser Dichtung zu urteilen, hätte wie in dem jungen Karl Roßmann vielleicht auch in Kafka selber eine Verklärung stattgefunden, wenn nicht der Tod den Einundvierzigjährigen vorzeitig gefällt hätte. Aber wir haben immer nach der Lektüre eines Buches von Kafka das Gefühl, als brauchten wir Weihaben immer nach der Lektüre eines Buches auf, lest ein paar Zeilen darin und ihr wißt, wer Kafka gewesen ist! Jede Zeile zeugt von solcher Größe, daß die Spuren dieses Gestalters unverlöschbar sind. Es wird eine Zeit kommen, da man Kafka einstimmig unter die größten Epiker aller Zeiten zählen wird. Dann werden die Menschen, und vor allem wir Juden – wie er Einlaß begehrte in die Welt – Einlaß begehren in sein Werk. Und wir werden Einlaß finden, denn Kafkas Werk ruht auf einem sicher tragenden und breiten Pfeiler: auf seiner Güte.


[1] Der Novellenband Der Hungerkünstler und der Roman Der Prozeß erschienen im Verlag Die Schmiede, Berlin; alle übrigen Werke bei Kurt Wolff in München.