Leipzig 1874.

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Leipzig 1870.

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 Zur Biographie: Sammy Gronemann

In: Die Stimme, 9. Jahrgang, Ausgabe 529 vom 06.03.1936, S. 5 / Ausgabe 530 vom 10.03.1936, S. 3

[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3053752]

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„Nicht so eilig, Herr Sanitätsrat — einen Moment müssen Sie mir schenken !“ 

Der alte Arzt, der in seiner hastigen Art aus der Haustür gefahren und in scharfem Winkel nach rechts abgebogen war, drehte sich unwirsch ob der Störung um. Aber als er in das mild lächelnde Antlitz des Rabbiners sah, kehrte er doch um. „Ich bin etwas eilig, Herr Rabbiner “, knurrte er nicht sehr freundlich , „meine Patienten warten — “.

„Ich will Sie nicht lange aufhalten “, sagte der Rabbiner lächelnd , dem Ungeduldigen die Hand schüttelnd . „Es scheint doch, Sie kommen von dem alten Chaim, zu dem ich gerade will.“

„Ablösung vor!“ knurrte der Alte. „Das hat gerade noch gefehlt — übernehmen Sie doch ganz die Behandlung !“ 

„Warum so zornig ?“ fragte der Rabbiner freundlich , an die brüske Manier des Arztes gewöhnt . „Meinen Sie, daßmein Besuch dem Kranken schaden kann ? — Wie geht es ihm?“

„Schaden ! — Was soll da viel schaden !— Achtzig Jahre ! — Aber eigensinnig wie ein Kind . — Kann der Mann nicht wenigstens anständig nach meinen Verordnungen leben oder sterben — aber nein — natürlich , Ihre Fakultät hat’s besser!“

„Was denn? Was denn? Ich verstehe kein Wort !“

„Hatte ich da ein paar Anordnungen wegen der Diät gegeben — die Pute — die Nichte — wie heißt sie — die Hurtig — muß ihm verraten, daß nicht alles nach den rituellen Rezepten des alten Moses bereitet ist — macht er den größten Skandal und weigert sich —“.

„Ja — ein wirklich frommer, gottesfürchtiger Mann, der alte Chaim. Gott erhalte ihn !“

„Wird ihn sehr bald erhalten, wenn er so fortfährt . Ich habe ihm auch das Fasten am Versöhnungstag verboten. Meinen Sie, er hat gegessen ? — Durchgefastet! Ist ihm übrigens ganz gut bekommen ! — Aber ein Patient hat zu parieren !“

„Und wie geht es ihm jetzt ?“

„Exitus —- kann jeden Moment eintreten — kann aber auch Tage lang auf sich warten lassen und länger. Ein zäher Braten!“ „Vertrauen wir auf Gott!“ sagte der Rabbiner. 

„Das ist Ihr Ressort !“ rief der alte Arzt. „Gehen Sie rauf , und verarzten Sie ihn nach himmlischen Methoden. Ich muß zu meinen Patienten , sonst werden die mir noch inzwischen gesund . Hab’ die Ehre !“ 

Der Rabbiner blickte ihm lächelnd nach, wie er in seinem komischen Trab davoneilte. Dann stieg er die Treppen zur Wohnung des alten Chaim hinauf. — Er betrat das Krankenzimmer auf den Zehenspitzen. Der alte Chaim lag , auf dem Kopf das schwarze Käppchen, halb sitzend im Bett. Die Augen hatte er geschlossen. An dem kleinen Tischchen neben dem Bett, das die Reste des Frühstücks trug , hantierte Fräulein Hurtig , die nicht mehr jugendliche Nichte des Alten. 

„Wie geht es unserem lieben Patienten ?“ fragte der Rabbiner , ihr die Hand schüttelnd.

„Unverändert , Herr Rabbiner “, sagte Fräulein Hurtig und nahm ihm Hut und Schirm aus der Hand . „Er hat wieder mit dem Arzt herumgestritten .“

„Nun, das ist ja ein gutes Zeichen“, sagte der Rabbiner, aus der hinteren Rocktasche ein schwarzes Käppchen holend und es sich aufsetzend . „So lange der Mensch sich ärgert — hat er noch Lebenskraft .”

„Recht haben Sie“, sagte der Alte, die Augen aufschlagend . „Aber was versteht so ein neumodischer Doktor! Mit Ihnen kann man sprechen — setzen Sie sich zu mir !

Der Rabbiner holte sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich dicht zu dem Kranken. Wohlgefällig weilten seine Augen auf den beiden Beuteln mit Gebetmantel und Gebetriemen, die zur Seite lagen und deren Anwesenheit bewies, daßder Kranke auch heute sein Morgengebet in vorgeschriebener Weise erledigt hatte. 

„Tina“, sagte der Alte. „Ich muß mit dem Rabbiner reden . Laß uns allein !“ Fräulein Hurtig zögerte.

„Ja, Onkel “, sagte sie. „Ich habe hier so ein schönes Stück Huhn. Der Doktor hat gesagt-”

„Der Doktor weiß viel!“ brummte der Alte. „Jetzt will ich reden und nicht essen! Na — stell ’s hin, mein Kind. — Nicht auf den Tisch –  es kann , Gott behüte , die Butter ’rankommen . — Hierher aufs Bett . — So — nun geh schon !“ 

Die Nichte verschwand , und es trat eine lange Stille ein. Der Kranke hatte wieder die Augen geschlossen . — Der Rabbiner sah ihn unschlüssig an. Allzuviel Zeit hatte er nicht — er mußte sich noch zur morgigen Trauung vorbereiten . Ganz wider seinen Willen aber kamen ihm auch Überlegungen, was er am Grabe des frommen alten Mannes sagen würde , der hier vor ihm lag . — Mit einer gewissen Ergriffenheit hörte er sich von diesem seinem letzten Besuche erzählen, wie bis zuletzt der alte Mann noch an die Beobachtung aller religiösen Pflichten gedacht hatte . War es nicht ein rührendes und erhebendes Beispiel für das jüngere Geschlecht, wie unser heimgegangener Bruder — 

„Nu, woran denken Sie?“ fragte auf einmal Chaim und schlug die Augen auf. Der Rabbiner fuhr zusammen. „Ich dachte — ich denke “, sagte er, sich zusammennehmend , „welch ein gesegnetes Leben Sie hinter sich haben , mein lieber Freund. Der Barmherzige wird Sie genesen lassen und Ihnen noch lange Jahre schenken — so hoffe ich und bete ich . Aber noch. — wahrlich ein Jude , der wie Sie mit solcher Zuversicht, solchem Vertrauen , solcher Reinheit vor das Antlitz des Allerhöchsten treten kann, ist zu beneiden und zu bewundern. Möge uns allen der Selige —“

Er hielt entsetzt inne . Aber der Alte hatte nichts gemerkt.

„Nu“, sagte er, „ich glaube selbst, ich bin ein ganz anständiger Mensch gewesen. Es ist mir auch gar nicht einmal so schlecht gegangen — nu — manchmal hab’ ich mich gequält . — Was Schlechtes hab’ ich nie tun wollen! Zu bereuen habe ich nichts !“ 

„Jeder von uns ist ein Sünder “, sagte der Rabbiner sanft . „Aber wenn schon der Sünder die Gnade erwarten kann — kehr um, einen Tag vor deinem Tode, heißt es und es wird dir vergeben — der himmlische Lohn — .“

„Einen Tag vor dem Tode ?“ Chaim sah den Rabbiner unruhig an. „Das ist genug? Also, wenn einer das ganze Lebern gesündigt hat und am letzten Tag wird er ein anständiger Mensch — nu, Kunststück — wenn er daliegt — ein alter Mensch — was soll er nicht sein anständig! Soll er mal probieren zu sündigen ! Kunststück ! — Dann soll er ebenso belohnt werden wie Einer , der sich das ganze Leben gequält hat und ist — nebbich — gewesen immer anständig ?“ 

Der Rabbiner sah verdutzt drein . „Was kümmern uns die Sünder ?“ sagt er. „Das mit der ewigen Liebe und Gnade, — das ist eine schwere Sache. — Aber die Gerechtigkeit des Barmherzigen —“

„Das ist ’ne Gerechtigkeit !“ Der alte Chaim schien unzufrieden . „Nu“, sagte er, nachdem er noch Etliches unverständlich vor sich hingebrummt hatte , „vielleicht versteh’ ich das nicht . Aber belohnt wird er auch nicht — wie der Fromme. Wofür soll er belohnt worden? Er wird nur nicht bestraft .“ 

Die Lösung , die er gefunden hatte , gewährte ihm offenbar große Befriedigung. 

„Richtig “, sagte der Rabbiner lächelnd und erstaunt über die einfache Lösung dieses schweren metaphysischen Problems. „So ist es. Die himmlische Belohnung wird den wahrhaft Frommen vorbehalten . Solchen Männern , wie Sie es waren , wie Sie es sind, lieber Freund !“

„Einen Tag vor dem Tode umkehren“, brummte der Alte, wieder in Zweifel verfallend. „Aber, sagen Sie, Herr Rabbiner — dafür sind Sie doch ’n gebildeter Mann, Sie kennen doch die Schriften. Es ist wirklich so? Die schlechten Menschen kommen ins Gehinnem, Hölle heißt das — also wenn sie nicht umgekehrt sind einen Tag vor dem Tode — und die Frommen kommen ins Ganeden, heißt das Paradies , und essen vom Fisch Leviathan und sitzen mit Abraham, Isaak und Jakob am goldenen Tisch ? Häh ?“ 

Er sah den Rabbiner ernsthaft an. Dem wurde etwas unbehaglich. 

„Wissen Sie, lieber Freund “, sagte er, „die Hauptsache ist doch jetzt, daß Sie gesund werden . Wir werden noch Zeit haben, uns über diese Frage auszusprechen.“ 

Der Alte schüttelte unzufrieden den Kopf. „Lassen Sie, Herr Rabbiner “, sagte er, „ich habe keine Zeit. Antworten Sie mir !“

Der Rabbiner räusperte sich. „Lieber Freund “, sagte er, „an ein ewiges Leben — an ein Leben im Jenseits — an ein Fortleben der Seele nach dem Zerfallen des Körpers glauben wir natürlich . Ob das mit dem Feuer in der Hölle nun so stimmt , so wörtlich , meine ich, oder mit dem Speisen des Leviathan —“ er hielt inne. Jetzt mit dem alten Chaim in eine Diskussion über diese Probleme einzutreten, war vielleicht nicht angebracht . Möge der alte Herr nur bei seinen kindlichen Vorstellungen bleiben!

„Eins ist sicher “, sagte er. „Es gibt eine himmlische Gerechtigkeit . Auf Erden geht es manchem Frevler gut und manchem Frommen schlecht . Es gibt eine Vergeltung im Jenseits. Dort erwartet den Gerechten sein himmlischer Lohn. Jedes gute Werk, das hier ein Mensch tut , wird ihm dort hundertfach vergolten .“ 

Der alte Chaim bewegte sich unruhig. „Was heißt das: hundertfach ?“ sagte er. „Das soll also heißen : Wenn ich einem Armen gegeben habe 50 Pfennig , soll ich wiederbekommen 50 Mark ? So sagen Sie?“ 

Der Rabbiner lächelte, „Lieber Freund “, begann er milde. „So einfach —“ 

„Lassen Sie“, der alte Chaim winkte ab und begann an den Fingern zu rechnen. „Das sind : 100 Prozent sind eine Mark ; zwei Mark sind schon 300 Prozent , dann sind zehn Mark 1900 Prozent und fünfzig Mark 9900 Prozent — neuntausendneunhundert Prozent — das ist doch —“

„Aber Herr Chaim, lieber Freund !“ Der Rabbiner sah sich unruhig nach der Tür um. „Was rechnen Sie da? Es ist doch —“ 

„Lassen Sie!“ Chaim winkte ungeduldig. „Es kommt doch natürlich darauf an“, sagte er, die Augen zusammenkneifend , „wann ich die fünfzig Pfennig gegeben habe. Wenn ich sie gegeben habe als junger Mensch, ist es anders, als wenn ich schon alt war . Es gehen doch die Zinsen ab — richtige Zinsen — nur zu fünf Prozent — und vielleicht sogar Zins von Zins! Aber doch — hundertfach — das ist zu viel — viel zu viel! Bin ich ein Wucherer ?“

Der Rabbiner sah verblüfft auf den Alten. „Was reden Sie da, lieber Freund “, begann er müde, „Sie und wuchern? Sie sind doch der anständigste Mensch von jeher gewesen !“ 

„Nu !“, rief der Alte, „und im Himmel soll ich anfangen zu wuchern ?“ 

Der Rabbiner lächelte . „So ist das nicht gemeint “, sagte er begütigend . „Sie müssen nicht alles so wörtlich nehmen . Das ist bildlich gemeint. Und unsere Valuta wird doch da oben bestimmt nicht gelten . Niemand kann sein Gold und sein Silber mit hinübernehmen. Dort wird nach himmlischem Gewicht. gemessen —“ 

„Soll sein eine andere Valuta “, brummte Chaim verdrossen . „Ich lasse mir keine solchen Zinsen zahlen. Und überhaupt —“ Er starrte den Rabbiner an und winkte ärgerlich ab, als dieser den Mund öffnete. 

Der Rabbiner schwieg entsagungsvoll. Es schien ihm, daß der Alte ins Phantasieren geriet . Sollte er nicht doch die Nichte rufen?

„Hören Sie mal“, sagte Chaim auf einmal ganz ruhig , „was ist das überhaupt für ’ne Geschichte . Habe ich Gutes getan, damit ich Lohn bekomme ? Überhaupt — wer ist ’n anständiger Mensch? Der, der gibt und weiß, er bekommt alles zurück und noch mit Zinsen, oder der, der gibt und wegschenkt und weiß, er bekommt nichts wieder ?“ 

„Natürlich der zweite “, sagte der Rabbiner verwirrt. 

„Nu, ja “, sagte Chaim, „das andere , das ist doch ein Geschäft und keine Wohltat. Das ist eine Spekulation. Eineganz gemeine Spekulation ist das.“ 

Der Rabbiner hob beschwichtigend die Hände. „Aber nicht doch, Herr Chaim. Was machen Sie sich für Gedanken“, sagte er lächelnd.

„Lassen Sie“, sagte Chaim. Er schien seine Gedanken angestrengt zu konzentrieren. „Ich glaube , daß es eine Vergeltung gibt , da drüben . Ich weiß, es gibt sie — dann bin ich doch gar kein anständiger Mensch gewesen, wie ich immer gedacht hatte . Ich habe doch immer gewußt, ich werde belohnt .“

Der Rabbiner seufzte . Es ist schwer, mit solche einem alten Rabulisten fertig zu wer¬ den, dachte er. 

„Was Sie getan haben , Herr Chaim“, sagte er etwas mißmutig , „das haben Sie doch nicht getan , um Lohn zu bekommen !“ 

„Woher wissen Sie?“ fragte Chaim. „Und wie kann ich das selbst wissen ? Wenn ich armen Leuten gegeben habe und habe täglich dreimal gebetet und habe nur gegessen, was man darf, keine verbotenen Sachen oder Butter mit Fleisch zusammen — ich habe doch gewußt, es wird belohnt . Ich bin aber ’n anständiger Mensch, sage ich Ihnen . Ich will keine Belohnung!“ 

Er wurde ganz aufgeregt.

„Beruhigen Sie sich doch, lieber Herr Chaim“, sagte der Rabbiner beschwichtigend. „Sie werden sehen, Sie werden Ihren himmlischen Lohn haben — ob Sie wollen oder nicht !“ 

„Ich will aber nicht !“ schrie Chaim und schlug mit den Händen auf die Decke, „ich will keinen Lohn. Ich will bleiben ’n anständiger Mensch!“ 

Die Erregung hatte ihn doch angestrengt. Er sank zurück und schloß die Augen. „Einen Tag vor dem Tode umkehren “, brummelte er. „Einen Tag vor dem Tode —“ Er tastete mit den Händen auf der Decke herum und bewegte unruhig den Kopf.

Der Rabbiner beugte sich bestürzt über ihn. „Suchen Sie etwas , lieber Herr Chaim ?“ Chaim flüsterte etwas. Der Rabbiner sah sich erstaunt um. Er hatte verstanden „Butter “. Er nahm verwirrt die Butterdose und setzte sie vor den Kranken. 

Der alte Chaim nickte zufrieden und murmelte unverständlich. Dem Rabbiner wurde es unheimlich, er ging zur Tür und winkte der Nichte, hereinzukommen. Als er sich umsah , sah er mit Erstaunen , wie der Alte mit zitternder Hand den Hühnerflügel , der vor ihm stand, ergriffen hatte , ihn eifrig in die Butterdose tauchte, darin herumschwenkte und dann das von Butter triefende Fleisch — an den Mund führte. Butter mit Fleisch , ein Greuel für den gesetzestreuen Juden. 

„Herr Chaim. was tun Sie?“ rief der Rabbiner entsetzt. „Gesündigt , ich habe gesündigt“ ächzte Chaim. „Einen Tag vor dem Tode. Ich will keine Belohnung!“ Er fiel zurück , aber ein zufriedenes, triumphierendes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Die Nichte stürzte auf ihn zu. Er öffnete noch einmal die Augen. „Die Butterdose “, flüsterte er. „Fortwerfen! Sie ist treife! Man darf sie nicht benutzen !“ Das waren die letzten Worte dös alten Chaim.

 Zur Biographie: Sammy Gronemann

In: Neue jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West, 4. Jahrgang, Ausgabe 11/12 vom 10./25.03.1920, S. 261ff

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[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2908689]

In seinem Kriegstagebuch „Zwischen Volk und Menschheit“ hat Dehmel die verhältnismässig kurze Zeit, welche er in Kowno beim Buch-Prüfungsamt des Stabes Ober-Ost verbracht hat (4. September bis 10. November 1916) ziemlich kurz behandelt. Von dem, was er dort vom jüdischen Volksleben beobachtet hat, spricht er fast gar flicht. Das liegt offensichtlich mehr an äusseren Umständen und daran, dass er bei der Redigierung der letzten Abschnitte seines Buches durch die grossen Umwälzungen in Deutschland innerlich so stark in Anspruch genommen und aufgewühlt war, dass ihm eine beschauliche Schilderung unmöglich wurde. Mir aber, der ich das Glück hatte, in jener Zeit mit ihm in Berührung zu kommen, hat sich naturgemäss vieles unverwischbar eingeprägt, was ihm bei der Niederschrift wenig bedeutsam erschien und was vielleicht auch für das allgemeine Publikum nicht allzu grosses Interesse besitzt. Einiges davon möchte ich wiedergeben.

Dehmel fuhr auf einige Tage nach Wilna, um diese Stadt kennen zu lernen und speziell auch das jüdische Leben dort. Ich riet ihm, es so einzurichten, dass er am Versöhnungstag dort den Gottesdienst in der alten Synagoge besuchen könne. Er kam im höchsten Masse angeregt und interessiert zurück. Über den Eindruck, den Wilna auf ihn gemacht hatte, sprach er geradezu überschwänglich. Er erklärte, dass Wilna auf ihn einen grösseren Eindruck gemacht habe, als selbst Rom. Vor allem hatte ihn das Treiben in den engen Gässchen um die Deutsche Strasse herum, das eigentliche Judenviertel, gefesselt. Der Höhepunkt aber war, wie ich es nicht anders erwartet hatte, der Gottesdienst in der alten Synagoge. Er hatte den wundervollen Herschmann vorbeten gehört und behauptete, das sei mit der höchste künstlerische Eindruck seines Lebens gewesen. Vor allem aber, sagte er, sei ihm im Tempel zu Wilna zum erstenmal der Begriff der „betenden Gemeinde“ aufgegangen, jetzt erst glaube er auch das Volk der Psalmen zu verstehen, jetzt wisse er, was es heisse, wenn der Ruf einer Menge zum Himmel emporsteigt. —

An einem Sabbatmittag geleiteten Hermann Struck und ich den Dichter zu dem primitiven aber vorzüglichen jüdischen Restaurant von Michelsohn, in dem wir ständig assen, um ihn mit den traditionellen Sabbatgerichten bekannt zu machen. Dehmel war an jenem Tage in grosser Erregung. Er hatte an diesem Sabbat vormittag einen besonders heftigen Zusammenstoss mit der Bürokratie gehabt und zog unterwegs gewaltig über die Machthaber her, welche dort durch schematische Verordnungen und in bornierter Überheblichkeit allerhand Unheil stifteten. Was er da auszusetzen hatte, kann in seinem Buch nachgelesen werden. Aber damals liess er sich mit einer Urwüchsigkeit und Offenheit, die kaum zu überbieten war, über diese Dinge aus und speziell auch über das Unverständnis, mit dem den jüdischen Wünschen und Eigenheiten gegenübergetreten wurde. Er erklärte schon damals, zornig den Stock aufs Pflaster stossend, dass seines Bleibens dort nicht lange sein und dass er vermutlich mit einem grossen Krach verschwinden würde. Bei Tisch kam etwas von dem Geist des Sabbatfriedens auch über ihn und beim Genuss des Schalet, des gefüllten Hälschens, der Kuggel, glätteten sich allgemach seine Zornesfalten und die beängstigende Röte seines Gesichts schwand. Er sass zwischen unserem Feldrabbiner Dr. Rosenack und Struck. Der Rabbiner gab allerhand hübsche Geschichten aus dem Midrasch zum besten. Ich machte gewissenhaft darauf aufmerksam, dass es nicht ganz sicher sei, ob der dort zulande übliche Schalet ganz identisch mit dem von Heinrich Heine besungenen Nationalgericht sei, da am Rhein sich eine besondere Tradition in der Schaletbereitung entwickelt habe, während Struck, der sich ganz als Impresario der jüdischen Küche fühlte, mit ängstlichen Hausfrauenblicken darüber wachte, dass seine bis ins kleinste am Tage vorher gegebenen Anordnungen befolgt würden,- hatte er doch sogar eine weisse Schürze für Frau Michelsohn und ein frisch geputztes Besteck durchgesetzt. Dehmel liess sich trotz meiner küchenphilologischen Bemerkungen den Schalet gut schmecken, den er offenbar ebenso zu würdigen verstand, wie es einige Zeit vorher Herbert Eulenberg getan hatte, und hörte still und warm interessiert die Sabbatgesänge und das Tischgebet an. –

Dehmel erwähnt in seinem Buch auch die Vortragsabende, die ein Kreis von intellektuellen Landsturmleuten — er setzt hinzu „meist Zionisten“ — in Kowno veranstaltete. Dieser Montagstammtisch, begründet von Hermann Struck, Hans Goslar und dem Theaterdirektor Werth, war eine prächtige Einrichtung, eine wahre Oase in der Wüste des Kommisses. Keiner der Teilnehmer wird die köstlichen Abende vergessen und die in Berlin wohnenden ehemaligen Stammtischgenossen treffen sich noch jetzt von Zeit zu Zeit unter dem Namen der „Ehemaligen Intellektuellen“, um Erinnerungen zu feiern. Von bekannteren Zionisten fanden sich da unter anderen neben Struck und mir, Hans Goslar, Arnold Zweig, Heinrich Auerbach, von anderen Teilnehmern erwähne ich Herbert Eulenberg, Professor Bergströsser, die Maler Magnus Zeller, Schmidt-Rudloff, die Redakteure Kühl, Buhl, Guschmann, Dengler usw., dann Josef Carlebach, Leo Deutschländer, die Ärzte Dr. Felix Rosenthal, Dr. Hamburger, ferner von Wilpert, Müller-Jagusch und viele andere Schriftsteller, Künstler und Akademiker. Die Genannten waren zwar nicht alle gleichzeitig da, (aber immer war die Tafelrunde überaus interessant zusammengesetzt.

Es wurde irgendein Vortrag gehalten und dann debattiert. Die Debatten wurden mit äusserstem Freimut geführt und endigten fast immer in einer Auseinandersetzung über die Nationalitätenfrage. So konnte es nicht fehlen, dass die zionistische Frage fast an jedem Abend lebhaft erörtert wurde. An einem Abend nahm Dehmel Gelegenheit, als wir wieder lebhaft den Zionismus besprachen, in die Debatte einzugreifen. Wenn ich nicht irre, war das an dem Tage, da Hans Goslar ein Referat über den Zionismus gehalten hatte. Dehmel nahm mich, der ich in der Diskussion gesprochen hatte, ins Kreuzverhör. Er wollte von mir absolut heraushaben, ob wir Zionisten denn im Endziel für einen unabhängigen eigenen Staat wären oder nicht. Es stellte sich heraus, dass nach seiner Anschauung wir Zionisten alle ihm nicht weit genug gingen. Er begriffe, sagte er, recht wohl, dass unser Programm zunächst eine öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte verlange, zum Endziel aber müssten wir uns einen absolut freien Staat nehmen; denn nur in einem solchen und durch einen solchen liessen sich unsere nationalen Ideale verwirklichen. An jenem Abend war er von der Grösse der zionistischen Idee durchdrungen und sprach eigentlich fanatischer, wie der rabiateste Zionist. —

Zum Schluss möchte ich eine Episode erwähnen, die an sich mit jüdischen Dingen vielleicht wenig zu tun hat, die aber besser als alles andere zeigt, wie Richard Dehmel die eigenartige Situation dort im Osten erfasst hatte, in der ein erbitterter Kampf zwischen Zivilisation und Kultur geführt wurde— wie er dort in das Verständnis der eigenartigen nationalen Kulturen, die dort zusammenstiessen, eingedrungen war. Im Hause des Oberleutnants Fr. , des „bezaubernden Kerlchens“, von dem er in seinem Buch spricht, wurde eines Tages eine ungeheuer lustige karnevalistische Feier zu Ehren Strucks veranstaltet. Ich war leider damals nicht zugegen, aber nach den Schilderungen der Teilnehmer, Dehmel, Eulenberg, Zeller und Struck, muss es eine herrliche Sache gewesen sein. Jeder hatte etwas beigesteuert. Zeller hatte eine parodistische Struckausstellung zusammengemalt (deren einzelne Stücke wohl noch vorhanden sind und die zum Schmücken ihres Heims sich schenken zu lassen ich unseren Mädchenklubs eigentlich nur bedingt empfehlen möchte) — Eulenberg hielt die Festrede, der Oberleutnant besorgte den musikalischen Teil — Dehmel hatte ein wunderhübsches Gedicht beigesteuert. Das hatte er auf ein Blatt geschrieben, das mit einer hübschen handgemalten Randleiste versehen war. Auf die Rückseite des Blattes schrieb Dehmel etwa folgendes: ,,Diese Randleiste hat ein litauischer Bauer gemalt, der weder lesen noch schreiben kann. Es ist anzunehmen, dass die deutsche „Kultur“ mit dieser „Barbarei“ bald aufgeräumt haben wird.“ Für uns alle, die wir in jenen Monaten mit Dehmel zusammen sein durften, bedeutet die Erinnerung ein unverlierbares Gut.

➥ Zur Biographie: Max Grünfeld

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Wien, H.51, 1906, S. 924-25 bzw. Nr. 52, S. 944-945, Nr. 53, S. 964-965

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Max Grünfeld: Schoen-Mirjam. Eine einfache Geschichte aus dem Leben des mährischen Ghettos.

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Wien, H.51, 1906, S. 924-25 bzw. Nr. 52, S. 944-945, Nr. 53, S. 964-965

Kurzfassung:

Ausgangspunkt ist ein Leichenzug aus der Gasse an den ‚guten Ort‘. Zu Grabe geleitet wird eine Frau, über die eine andere aus diesem Zug (Gitl) meint, sie sei eine „schöne Person, eine gute Person, ein bissel leichtsinnig“ gewesen, habe aber ihren Sohn, der unter den sechs Trägern des Sarges ist, sehr geliebt. Schoen-Mirjam war ihr Name. Nach erfolgtem Begräbnis wird das Leben dieser Mirjam rekapituliert.

Dieses wird nicht nur mit Akzent auf ihre frühe Schönheit (wie jene Lilien Sarons) erzählt, sondern auch mit dem Verweis auf „einen höheren Flug“ ihres Geistes, der sie über die „grauen Mauern“ des Ghettos weit hinausgebracht hatte (Ende Textteil 1). Teil 2 handelt vom Bildungshunger des jungen Mädchens, das sie in ein Spannungsverhältnis zum Vater Jaakow (Geist des Kindes werde vergiftet), der Lehrer im Cheder ist, bringt, sowie zu den anderen (weibl.) Heranwachsenden in der Gasse; verantwortlich dafür werden die deutschen Bücher gemacht: „Mit der ganzen Welt des Ghetto’s lag sie bald in einem offenen Kampfe“. Sie galt als nicht ehefähig, weil den Männern überlegen, aber ohne ökonom. Ressourcen u. zudem auch als hochmütig. Der 3. Teil berichtet schließlich von ihrem ‚Fall‘: der Verführung durch einen jungen Offizier, der nicht halten kann bzw. will, was er versprach u. einen Glaubenswechsel einfordert, worauf Mirjam nicht eingeht, was jedoch zugleich zum Ruin der Familie führte: ihr Vater ohne Schüler, die Mutter, die einen Milchhandel betrieb, vergrämt; im Zuge des Versöhnungsfestes ein Eklat, an dessen Folgen der Vater verstirbt, bald danach auch die Mutter. Mirjam, selbst Mutter eines Sohnes, wandelt sich zur Büßerin, gestützt auf jene (unverheiratete) Gitl, die ihr hilft, ihn großzuziehen. Der verschwundene Vater des jungen Jaakow hinterlegt monatl. Geld beim Rabbiner, die für seine Ausbildung u. Zukunft gedacht sind. Gitls Bruder (Ahron), ein armer Dorfgeher, verliebt sich bei einem Pessach-Seder in Mirjam, die schließlich in eine Ehe mündete. Dies nützt der Text zu abschließenden Reflexionen über die „vielgeprießene“ moderne Liebe, die Mirjam wenig eingetragen hätte, während die Ehe, „nach altem Gesetz“ dagegen Glück gebracht und ein doch noch erfülltes Leben ermöglicht habe, aus dem Ahron allerdings eines Winterabends jäh gerissen wurde. Mirjams nachfolgenden Jahre waren dem Sohn, dem Ghetto und seinen Sorgen gewidmet, wodurch ihr ‚Sündenfall‘ am Ende aufgerechnet war.

In: Die Wahrheit, 14.12. 1934, S. 5

 ➥ Zur Biographie: Max Grunwald

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