In: Der neue Teutsche Merkur (1798) 2. Bd., 8. St., 305-311.
Gumpricht, ein dürftiger Jude in einem kleinen Städtchen, suchte bei allen seinen Nachbaren, reichen und armen, einen Gevatter für seinen neugebornen Sohn, dessen Beschneidungstag sehr nahe war. Umsonst; niemand wollte sich, wegen des nach allgemeiner Sitte damit verbundenen Geschenkes, zu dieser gottgefälligen Handlung verstehen.
Von Wehmuth gedrückt saß Gumpricht trostlos vor seiner Thüre, dem Unglücke nachdenkend, für seinen heute zu beschneidenden Sohn keinen Gevatter zu finden, und vollends keinen, der wohlthätig die Kosten seiner Mahlzeit und des Wochenbettes ertragen hälfe; als plötzlich ein abgerissener umherziehender Israelit von frommer und ehrbarer Miene vor ihm stand und nach der Ursache seines Kummers fragte.
Gumpricht erzählte ihm mit Thränen seine Noth. Ach wie gern, sagte der Fremde, übernähme ich das heilige Geschäft! Aber leider bin ich arm, wie du siehst! Übertrage es mir, ich bitte dich! Ich helfe dir Gottes Segen erflehen.
Und Gumpricht faßte Mut; der Beschneider wurde geholt, die Zeremonie vollbracht und das Mahl geendigt. Nun nahm der Gast seinen Wirth allein in das Zimmer. Weißt du auch wer der Gevatter deines Sohnes war? Fragte er ihn. Dieser zuckte erschrocken die Achsel; vor ihm stand der Todesengel; erblaßt zu seinen Füßen lag Gumpricht.
Stehe auf! Rief der gute Engel (der nie aus Lust, immer auf Gottes Geheiß Leben verlischt); Stehe auf! Fürchte nichts Leides! Dich zu prüfen und dir beizustehen bin ich gekommen; dein Schicksal, das deine steinherzigen Brüder nicht erweicht, hat mich gerührt, mich den Tod! Und nun höre! Euer bares klingendes Unwesen steht unter der Gewalt keines Engels; aber zu einem Gewerbe will ich dich einweihen, das dir bald Reichthümer wie Sand am Meere bringen soll. Du sollst von nun an die Gabe besitzen, mich, sonst unsichtbaren, an jedem Krankenbette zu sehen. Siehst du mich zu dessen Kopfe, dann stirbt der Kranke; bin ich zu dessen Füßen, so genest er. Darnach richte dich! Findest du mich unten, so stelle dich ängstlich, zucke bedenklich die Achsel und weissage Gefahr; verordne aber was dir einfällt, der Kranke stirbt nicht. Erblickst du mich oben, so verkündige den gewissen Tod, wenn auch alle Ärzte Heilung versprechen. Nun wandele alle deine geringe Habe in glänzendes Gold um, eile nach F…, und bezahle dich zum Doktor.
Dies gefiel dem Gumpricht. Noch eins, großer Engel, ehe du gehest! Rief er seinem Wohltäter zu; versprich mir auch, damit ich nicht zum Lügner werde, seine Stelle am Bette nie zu verändern. Denn siehe, wenn du heute zu des Kranken Füßen stehest, ich Genesung verheiße, und morgen du zum Kopfe hinwanderst, wie werde ich da bestehen?
Einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig! erwiderte dieser nicht ganz willig; meinen Standort verlasse ich nie, das sei versichert! – Fort war er.
Nach drei Wochen (so lange dauerte die Reise) war Gumpricht ein Doktor, und nach sechsen der berühmteste Arzt in der ganzen Gegend. Ihm genasen alle Kranke; denn die, welche sterben mußten, überließ er zeitig unter mancherlen Vorwand anderen Ärzten. Daher strömte alles ihm zu; sein Haus ward belagert vom Gemeinsten bis zum Vornehmsten; alle erbaten sich ihr Leben von Gumpricht, und ihm war der Ehre und des Reichthumes kein Ende. Den echten Künstlern war er ein Ärger und unbegreiflich, dem Volke eine wohltätige Gottheit, und er, unkundig aller Wissenschaft, selbst des Schreibens und Lesens, entschuldigte seine großen Taten, auf die gewöhnliche Weise der Dummen, durch angebornes Genie und praktisches Auge, das ihm der Himmel plötzlich verliehen.
Einst ließ ein reicher Bischof ihn rufen, der ein vieles und viel gelebt, den Tod, weil sich in ihm nicht recht viel leben läßt, gar sehr verabscheute, und gleichwohl an einer Krankheit darnieder lag, deren Greuelnamen zu unsern Zeiten jedes beschöfliche Ohr zergällt und den ich aus Achtung für den sinnreichsten Taxenmeister nicht aussprechen mag; an einer Krankheit, der selbst sein englischer Leibarzt, den er erst vor kurzem nebst einem Packe Putzscheeren und einem Herschelschen Fernglase aus London sich kommen ließ, nicht beikommen konnte. Einen Beutel Gold brachte der Bote gleich mit, und noch zehn wurden Gumprichten versprochen, wenn er dem frommen Manne auf die Beine hälfe.
Aber mit Schrecken fand er beim Eintritt in das Zimmer seinen wohltätigen Engel zum Kopfe des Bettes. Von Ruhm- und Gewinnsucht gefoltert, überdachte er was zu tun sey? Nun erinnerte er sich des Versprechens seines Freundes, seinen Standort nicht zu verlassen; sogleich wurden zwey Heiducken gerufen, welche die Bettstelle herumdrehen mußten, und da stand nun der Engel zu den Füßen des Kranken. Fürchterlich drohend verschwand dieser seinem Gesicht; aber der Priester genas.
Nicht lange nachher überraschte Gumprichten der Engel des Todes in seiner grimmigsten Gestalt. Ha! Elendes Menschengezücht! Rief er ihm zu, undankbares Geschöpf! Hinab mir dir auf der Stelle! – Gnade, Herr Engel! Stammelte dieser zitternd am ganze Leibe. – Nichts von Gnade! Hinab mir dir! War die wütige Antwort des Göttlichen. – Nicht um mein Leben, das ich mit Recht verwirkt, versetzt der Feige, nicht um dieses, um meine Seligkeit bitte ich dich! – Deine Seligkeit? Fragt jener verwundert; was habe ich mit dieser zu schaffen? – Tödte mich nicht, antwortet der Bebende, bevor ich mein Sterbegebet verrichtet! Verdammt bin ich sonst, wie du wohl weißt! Ich bitte dich im Namen meines Sohnes! – Gut! Sagt der schonende Gottesbote, eile und bete! Ach gütiger Engel erwidert der Verschlagene! Dein Zorn ist gerecht, aber ich fürchte er ist zu jähe; du wirst ihn nicht so lange zähmen bis ich das Gebe vollendet, und komme ich nicht bis zum Amen, so bin ich verloren! Versprich, o versprich deine Rache bis zu diesem letzten Worte aufzubewahren! – Ich verspreche es, spricht der Beleidigte ungeduldig; denn einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig; nun eile! – Ha! Wohl mir! Jauchzt der Listige; wohl mir, ich bin deiner los! Verschwunden ist mir die Lust zum Beten; wandelt sie einst mich an, so finde dich zum Amen ein, aber ja nicht früher! Denn einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig! – Knirschend vor Zorn entfloh der Langmüthige.
Gumpricht glaubte sich nun der Sterblichkeit gesichert. Mit seiner Wunderkunst hatte es freilich ein Ende, denn sein Meister erschien ihm nicht mehr; aber er begab sich zur Ruhe, und seine gehäuften Reichtümer verbürgten ihm das genußvollste Leben.
Einst machte er eine Lustreise zum benachbarten Freund durch einen Wald; da vernahm er aus dem Dickicht her ein ängstliches Geschrey nach Hilfe, unterbrochen von röchelnden Tönen eines Sterbenden. Er eilt hin, und ach! Wen findet er da? Seinen alten Vater halb nackt im Blute schwimmend. Ha! Bist du es, Entarteter? Schluchzte der Greis; der Ruf deiner Habe drang zu mir in fernem Lande, und mich ließest du im Elend verderben! Da durchbettelte ich mich von Ort zu Ort zu dir her, um mit meinem Anblick dein Felsenherz vielleicht zu erweichen. Aber hier überfielen mich Räuber und durchstachen mir die Brust. Für diese Welt bedarf ich nun, Gottlob, deiner Hilfe nicht mehr, aber wohl für jene. Mein Gedächtniß ist geschwunden; eile und sage mir das Sterbegebet Wort zu Wort vor, damit ich ruhig in den Schooß Abrahams wandele. Aber eile! Meine Seele schwebt auf den Lippen.
Und Gumpricht, betäubt von dem Anblick und den gerechten Vorwürfen seines Vaters, befriedigt seinen Wunsch auf das pünktlichste.
Kaum war das letzte Amen über seine Lefzen, als das sterbende Fantom sich in den fürchterlichen Rächer umwandelte. Ha, Nichtswürdiger! Schrie er ihm zu, nun sollst du mir nicht entwischen! Wisse, einem Engel, auch des Todes, ist seine Sage heilig: Du hast das Sterbegebet bis auf das Amen vollendet; hin und modere!
*)Niemand wird in diesen Fragmenten den allgemein verehrten, schafsinnigen Verfasser der Versuche über den Geschmack und den Schwindel verkennen, der auch im Scherze unterrichtend ist. Ich ergreife diese Gelegenheit mit Vergnügen, ihm für die belehrende Unterhaltung zu danken, die mir seine geistreichen Gespräche und eine Vorlesung über die Lustarten in jenem fröhlichen Mittwochszirkel, dem die Leser auch diese fortzusetzenden Fragmente verdanken, so vorzüglich gewährten.
N.T.M. Aug.1798
➥ Zur Biographie: Theodor Herzl
In: WMZ 23.10. 1919, S. 3-4
➥ Zur Biographie: Theodor Herzl
In: WMZ 26.10. 1919, S. 3-4.
Leipzig 1902.
Leipzig/Wien 1896.