➥ Zur Biographie: Joseph Roth

In: Der neue Tag, 28.9. 1919, S. 6

Link zum Text

Fünf Jahre lang waren wir eingezwängt in verlogene Begriffe. Das Vaterland war Kerker, die Pflicht eine Handschelle und Kerkermeister war die Phrase. Das Schlüsselloch war verstopft mit einem Leitartikel. Durch das Gitter unserer Stacheldrähte blickend, sahen wir

wieder nur Kerker. Es war eine Welt aus Vaterländern. Man war Staatsbürger, eingerückt,  Held, Häftling. Das Vaterland führte jeden im Munde und der Magistrat in Evidenz. Möglichkeiten waren zwar vorhanden. Es konnte geschehen, daß ein Wunsch, ein Wille stärker ward als das System. Aber der Rapport war die Barriere, deren Überwindung erst Erfüllung verhieß. Die Freiheit war in Urlaube eingeteilt und auf Urlaubscheine in Rationen

erhältlich. Es gab keine persönliche Freiheit. Es gab nur Gebührenurlaube und solche aus

dringenden Familiengründen. Bis die Revo­lution kam und sozusagen die Kerker sprengte.

Dennoch wollten wir im Kerker bleiben. Es hätte ja sein können, daß die Grenzen der

neuentstandenen und der alten Staaten Eintrittspforten mit Willkommgrüßen für nachbarliche Gäste werden. Die Grenze hätte in der Hauptsache den Zweck haben können, überschritten zu werden. Jetzt hat sie den, eingehalten zu werden. Möglichkeiten sind ja vorhanden. Es kann geschehen, daß ein Wunsch, ein Wille stärker wird, als das System. Man

kann Grenzen unter Umständen auch überschreiten. Aber nicht grundsätzlich. Es sind keine

Grenzen mehr. Es sind— Rapporte…

Unsere Generation hat die Notwendigkeiten des MMilitarismus ins Zivile übersetzt. Der Tag dauert immer noch von der „Tagwach“ bis zur

„Retraite“. Außerhalb dieser Grenzen des Tages gelten nur Erlaubnisscheine. Stärker als

alles Eisen, das im Kriege verschossen wurde, erwies sich die Materie, die unser Zeitalter be

herrscht: das Papier. Die Legitimation mit Fingerabdruck, (Das Lichtbild ist nur aus Gründen der Tradition und Bequemlichkeit üblich.) Von der Galeere der großen Zeit sind wir glücklich an den Strand des Alltags gesetzt. Aber wir schleppen immer noch die Kugel am Bein mit:  den Paß.

Unter hundert Menschen sind kaum fünf, die nicht einen Paß in der Brusttasche führten. Ein Stück Vaterland. Die Behörde, eine In­stitution zur Verbreitung von Wirrnis und

Schikane, will wissen, wer ich bin. Ich sträube mich dagegen. Alles in mir, was wert ist, Ebenbild Gottes zu heißen, lehnt sich gegen die Zumutung auf: alle Zufälligkeiten meiner Vergangenheit in der Brusttasche führen zu müssen. Ich bin ich. Unabhängig von Vaterstadt, Zuständigkeitsort, Aufenthalt. Nicht, was mich von den anderen unterscheidet, darf ich mit mir führen, sondern, was mich ihnen gleich macht. Daß ich im Jahre soundso, in der Stadt soundso geboren bin, macht mich erst lebensfähig. Ich bin nichts anderes als Paßbesitzer, vom Paß besessener Staatsbürger.

Früher war ich wenigstens Held. Ich trug das Gewand des Häftlings, aber in der Überzeugung, daß es der Rock des Kaisers und ein Ehrenkleid sei. Dieses nun mußte ich ablegen. Geblieben aber ist mir die Nummer jener Zelle, die ich fünf Jahre bewohnte: der Paß. Er macht mich nicht zum Helden. Er berechtigt mich nicht zu hohen Ansprüchen. Er hat nichts mit meinem irregeführten Idealismus zu tun. Er verrät nicht einmal meine Heimat. Er konstatiert nur jene Sorte von Heimat, die durch Polizei, Bezirkshauptmannschaft, Magistrat reprasentiert wird und keine Heimat ist, sondern ein papierener, stempelbesäter Begriff: Staatsbürgerschaft.

Der Paß beweist nicht, daß ich – ich bin. Er beweist, daß ich irgend ein Ich bin. Daß ich

Staatsbürger bin. Mein Staat ersuchte durch eine Inschrift auf meinem Paß alle Behörden, mich ohne Schwierigkeiten passieren zu lassen. Das Gegenteil ist die Wirkung. Man müßte

glauben, eine Gesandtschaft, also eine Behörde, durfte mit einiger Aussicht auf Erfolg eine

Grenzkontrollstelle, also auch eine Behörde, um eine Gefälligkeit bitten. Die Grenzkontrolle tut das Verkehrte von dem, worum sie ersucht wird. Ich zweifle an der Ehrlichkeit meines Staates. Jene Bitte ist eine Tücke, eine Hinterlist, um mich hineinzulegen. Wie konnte ich nur annehmen, daß ein Staat, der mich drei Tage lang auf ein Visum warten läßt, es mit mir gut meint? Sie stecken zusammen, alle beide: der Staat und die Grenzkontrolle. Sie wollen mich vernichten. Der Paß ist ein Uriasbrief.

Ich sträube mich mit Recht gegen meine Vernichtung. Ich Iehne mich auf. Ich will mir

meine Vergangenheit nicht vidieren lassen. Meine Physiognomie gehört ganz mir. Gott hat

sie mir geschenkt. Wie kommt man dazu, das Ebenbild Gottes durch einen Kautschukstempel zu verunzieren? Ist das nicht Gotteslästerung?

Aber die Behörde behauptet, daß der Paß nur zu meinem Guten da sei. Ich könnte nämlich nicht Schriftsteller, sondern eine Art Verbrecher sein. Der Paß überzeugt die Behörde, daß ich nur Schriftsteller bin. Also prädestiniert zum Schikaniert-werden. Alle, die mit mir die gleichen Anlagen für die Passion haben, sind also mit Pässen ausstaffiert und sozusagen anständige Menschen. Warum werden sie, gerade sie, also immer des Gegenteils verdächtigt?

Weil die andern – auch Pässe haben. Und zwar noch mehr Pässe. Hochstapler haben

fünf Pässe. Schmuggler zehn, politische Abenteurer zwanzig. Aber diese Pässe sind nicht Beschwer. Sie bedeuten im Gegenteil volle persönliche Freiheit. Ein Häftling, der zwanzig

Zellen zugleich bewohnt, sitzt in keiner.

Nur wir, die Harmlosen, sind die Opfer des Systems. Wir hatten Stacheldrähte aus

Eisen, nun haben wir solche aus Papier. Jene konnte man zerstören, diese zerstören nur uns.

Sie find scheinbar schwach, harmlos; man kann ihnen nichts nachsagen, nichts anhaben. Aber sie sind tückische Verräter unserer Vergangenheit und verbittern uns unsere Gegenwart.

So konnte eine Revolution zwar staatliche Selbständigkeiten schaffen. Aber teuer erkaufen mit persönlichen Freiheiten. Sie konnte uns von der Galeere befreien. Aber die Kugel am Bein schleppen wir mit durch unsere Tage, die erfüllt sind von Sehnsucht nach Ferne und Wunderland. Die Kugel am Bein, den Paß.

➥ Zur Biographie: Roth Josef

In: Joseph Roth Werke, Bd. 3: Das journalistische Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 543–547.

 ➥ Zur Biographie: Roth Joseph

Link zum Text
Transkription

Auszüge aus:

Jedermann ohne Pass. Schlußwort zum „Segen des ewigen Juden“. (1934)

An die Redaktion der Wahrheit!

Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir Gelegenheit geben, den verschiedenen und erfreulich zahlreichen Erwiderungen, die mein Artikel Der Segen des ewigen Juden hervorgerufen hat, mit einem abschließenden Wort zu begegnen. […]

Fast alle, die mir widersprachen, nahmen den mit publizistischer Absicht pointierten Titel meines Artikels für den Sinn meiner Ausführungen. Fast alle, die mir widersprachen, sind Anhänger der zionistischen Idee und glaubten, in meinen Ausführungen mehr oder weniger eine Stellungnahme gegen diese Idee zu sehen. Schließlich glaubten fast alle, die mir widersprachen, ich bezöge das, was ich von den deutschen Juden im besonderen gesagt habe, auf die Juden, die innerhalb anderer Nationen leben.

Man gestatte mir, auf diesen letzten Punkt zuerst einzugehen: Die Juden des Deutschen Reiches sind mit den Juden anderer Länder nicht zu vergleichen, nicht nur deshalb, weil das Deutsche Reich von heute, also das sogenannte Dritte Reich, sich durch eine ganz besondere menschenfresserische Art von Antisemitismus von anderen Ländern unterscheidet: sondern auch dadurch, daß sich seit eh und je die Deutschen von den andern Völkern durch eine ganz besondere Art der Roheit, Gemeinheit, Geschmacklosigkeit, der Un-Christlichkeit, der Anti-Christlichkeit unterschieden haben. Das deutsche Volk unter preußisch-lutherischer Führung hat immer den latenten Wunsch bewiesen, außerhalb der europäischen Christenheit zu stehen oder gar gegen sie aufzutreten. Es ist nicht zu leugnen, daß die letzten Hexenverbrennungen in Deutschland stattgefunden haben, nirgends sonst. Das Ghetto der deutschen Juden hat der französische Kaiser Napoleon aufgehoben. Und es ist kein Zufall, daß der einzige historische Elephant im Porzellanladen, nämlich Martin Luther, ein Deutscher war. Sein Nachfolger, sozusagen ein – im Porzellanladen, ist Adolf Hitler. Nicht die Juden – wie das bekannte Witzwort sagte –, sondern die Deutschen sind „nicht zu dertaufen“. Man frage nicht, warum. Es scheint Gottes Geheimnis zu sein. (Es gibt deren viele.)

Die deutschen Juden bekamen ihre bürgerliche und menschliche Gleichberechtigung nicht von den Deutschen, sondern von den Franzosen. Trotzdem haben die Juden Deutschlands, in wahrhafter Selbstverleugnung, Deutschland gegen die christlich-europäische Welt immer und mit allen Mitteln verteidigt: mit dem Schwert, mit der Feder, mit dem Pinsel, ja sogar mit der Chemie. Juden waren in Deutschland Ingenieure, Flieger, Wissenschaftler, Dichter, Regisseure, Schauspieler, Verleger, Journalisten. Juden haben in Deutschland nichtjüdische Genies und Talente gefördert. Juden haben Wagner populär gemacht. Juden haben Goethe zum Genie der Nation ernannt. Juden haben die deutschen Romantiker dem übrigen Europa verständlich gemacht. Juden haben die deutsche Presse großgemacht, die deutsche Wissenschaft bereichert, das deutsche Theater begnadet, ja sogar das deutsche Offizierskorps, in dem sie immer Parias waren, mit kriegerischen Talenten beschenkt. Der preußische Heros Bismarck selbst hat gesagt, ein Deutscher sei nur brauchbar, wenn er von Juden abstamme. Seit 1872 waren die nichtjüdischen Deutschen in der Mehrzahl: Feldwebel, Reisende, Schollendichter, Dilettanten, Generäle, die Kriege verlieren, tüchtige Ingenieure – im letzten Fall. Es gibt kein Volk in der Welt, das den Juden so viel zu verdanken hätte, wie das deutsche. Und deshalb dieser Dank! Bei Gott! Die Juden sind töricht, wenn sie jetzt bescheiden nur als Opfer auftreten, nicht als Fordernde. Kein tschechischer, polnischer, russischer Jude darf sich mit einem deutschen vergleichen. Keine der europäischen Nationen hat so viel von den Juden erhalten; ja, erhalten! Seit sechzig Jahren vertraten die deutschen Juden den deutschen Namen in der Welt. Ja, diese Tatsache war so stark im Bewußtsein der deutschen Intellektualität heimisch, daß man in jedem nichtjüdischen Talent einen Juden zu wittern begann. Man witterte Juden in den Brüdern Mann, in Eckener, in dem Regisseur Piscator, in Goebbels sogar. Und mit Recht: denn die Juden waren fruchtbar, gescheit, tüchtig, die nichtjüdischen Deutschen konnten seit sechzig Jahren nichts anderes als exerzieren. Gewiß, es hat Ausnahmen gegeben. Nichts kennzeichnender, als daß man beinahe jeden bedeutenden arischen Künstler in Deutschland des Judentums verdächtigte. Denn es war in diesem Lande der chemischen Barbaren jeder auffällig, der sich im Reiche des Geistes auszeichnete. Also mußte er ein Jude sein.

Was ich über die deutschen Juden geschrieben hatte, bezieht sich keineswegs auf die Juden anderer Nationen. Die Deutschen sind ein ganz besonderer Fall. Die deutschen Juden leider ebenfalls.

Ich bin weit davon entfernt, ein Gegner der zionistischen Idee zu sein. Ich bezeichnete sie lediglich deshalb als eine tragische, weil ich unter dem Gedanken leide, daß ein Volk, aus dessen Schoß der Allerweltsgedankegeboren ist, nunmehr gezwungen wird, eine kümmerliche Nation mit Vaterland zu werden. Ich anerkenne diese Notwendigkeit. Aber ich bedauere sie. Ich bedauere sie genau so, wie ich die anderen Nationen, die anderen Vaterländer, die anderen Schollen bedauere. Ich wünsche überhaupt keine Vaterländer. Ich möchte auf dieser Erde nichts anderes sehen als ein einziges Vaterland, das Land Gottes, unser aller Vater, in dem jedermann ohne Paß, ohne Namen herumwandern oder bleiben kann, wie es ihm beliebt oder seiner Natur entspricht. Ist es nun schon traurig genug, daß andere Völker Vaterländer bilden – um wie viel trauriger ist es nun – so meinte ich –, daß auch noch das Volk Israel, aus dessen Schoß der Heiland kam, ein Vaterlandbilden muß! Gewiß bin ich einsichtig genug, um diese Notwendigkeit zu erkennen. Aber sie ist – so hoffe ich – eine zeitliche Notwendigkeit. Eine ewige ist sie nicht! Man möge also, um den zeitlichen Notwendigkeiten zu genügen, den Juden ein Vaterland geben, wie es die anderen haben. Aber: reicht es auch für alle Juden? Reicht dieses Vaterland nicht, nach optimistischen Berechnungen, für kaum drei Millionen Juden? Und es gibt nicht nur deren sechzehn in der Welt. Sondern: innerhalb dieser sechzehn Millionen streben zwei Drittel durchaus nicht zu einem palästinensischen Vaterland, sondern zu einer (restringierten) Assimilation an die Nationen, innerhalb deren sie leben! Ist unter diesen Umständen der Zionismus eine wirkliche Lösung der jüdischen Frage? Im besten Falle werden drei Millionen Juden in Palästina Vaterland, Obdach, Heimat finden. Aber die anderen? Es gibt sechzehn Millionen Juden!

Es gibt keine andere Möglichkeit als die, daß die Juden, die nicht in ihren Ländern aufgehen, und jene, die nicht nach Palästina gehen und die dennoch Juden bleiben, die Träger des Gedankens vom allgemeinen Vaterland werden. Unser Vaterland ist die ganze Erde. Jesus Christus, der Sohn Gottes und der Juden, hat es gesagt. Es wäre die vornehmste Aufgabe der Juden, es zu wi[e]derholen. Ich glaube nicht, daß Gott ein Volk 6000 Jahre leben läßt, damit es schließlich wieder eine Nation werde, die von einem ordentlichen Universitätsprofessor der Jurisprudenz Gesetze erhalte, nachdem es auf dem Sinai Gesetze erhalten hat. Die Geschichte der Juden ist so merkwürdig, daß selbst einem Menschen, der nicht wie ich gerne geneigt ist, an das Wunder zu glauben, die besondere Aufgabe dieses Volkes selbstverständlich sein müßte. Die Juden haben die Physiognomie dieser Welt gestaltet: Moses, die Propheten, Jesus. Ein Irrsinn, nicht zuzugeben, daß es ein sonderbares Volk ist, für das die gewöhnlichen Gesetze der anderen nicht gültig sein können.

➥ Zur Biographie: Joseph Roth

In: Berlin: Die Schmiede 1927 (Digitalisat Univ. Bibliothek Frankfurt – Senckenberg/compact memory) S. 85-87

Link zum Text