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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 22. Jahrgang, Ausgabe 8 vom 24.02.1882, S. 66f / Ausgabe 10 vom 10.03.1882, S. 82f

 

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Ausgabe 8 vom 24.02.1882, S. 66f

Die alten jüdischen Weisen lieben es in einem einzigen Satze ein ganzes Gedankensystem zu bieten, in gedrängter Kürze, mit wenigen, inhaltsschweren Worten große Gedankenkreise zu umschlingen. Wie der ruhige Wasserspiegel oft eine bodenlose Tiefe birgt, so liegt hinter den meisten ihrer Aussprüche ein endloses geistiges Gebiet. In der Seele dieser Männer mußte alles reifen. Ihre Sätze sind die Früchte eines ausgebildeten Gedankenganges. Die schwierigsten Denkoperationen überwältigt ihr geübter Geist. Mit einer seltenen Präcision analysirt ihr Denkproceß die verwandten Begriffe und Ideen, faßt im richtigen Schwerpunkt die verschiedenen Elemente eines geistigen Gebildes. Wie gut haben sie es verstanden, wo stille Ahnungen ein Erkenntnißgebiet voraussetzen, ihre Beobachtungsgabe zu verwerthen, in den Erfahrungen nach den Prämissen für einen Schlußsatz zu suchen. Ihnen war die rein objective Erkenntniß, die jetzt den Inhalt unserer Wissenschaften ausfüllt, noch zu sehr entlegen und die wenigen Grundzüge boten ihrem Verstande ungenügendes Materiale für eine kosmologische Idee. Da mußte noch die Phantasie forthelfen und wie dies regelmäßig in solchen Fällen eintritt, die subjektive Ueberzeugung die objective ersetzen. Sie glaubten, die sie nicht wußten. – Und ihr Glaube war unerschütterlich, weil ihre stillen Ahnungen sie erhaben stimmten, ihr Wesen in eine ideale und schöne Welt versetzten. Und wie tief drangen sie ein in das geheimnißvolle Wesen ihrer eigenen Natur! In jedem Pulsschlag ihres eigenen Herzens spähten sie nach den wunderbaren Schätzen der kleinen Welt, um sie der großen Welt zu überliefern. Ist etwa jeder einzelne Mensch nicht eine ganze Schatzkammer merkwürdiger Anlagen und Fähigkeiten? Wer nur den Schlüssel fände, die verschlossenen Pforten, die zum einzelnen Herzen führen, zu öffnen: „Wer nicht sündenscheu geworden – sagt Rabbi Chanina Ben Dosan – bevor er in der Weisheit Tiefe eingedrungen, dem frommt die Weisheit nicht.“ So sprach bereits vor fast zwei Jahrtausenden ein Mann, der von Wort- und Gedankencultur noch nichts wußte, der bloß im Stillen den ruhigen Gang seines Gefühlsstroms überwachte. Wer zuerst denken gelernt hat, bevor in ihm das Gefühl erwacht ist, – würde ein moderner Pädagoge sagen –, der hat gelernt auf das Gefühl vergessen.

So einfach dieser Satz dieses alten Weisen zu sein scheint, so könnte doch mancher unserer Schriftsteller umfangreiche Werke darüber schreiben und hätte uns am Ende nicht so viel gesagt, als in diesem Aussprache enthalten ist. Was Rabbi Chanina ben Dosa geahnt, das sollten unsere Pädagogen bereits wissen. Und wie Wenige wissen es noch!*

Da derartige Aussprüche das Endresultat einer langen Reihe von Betrachtungen sind, so bieten sie uns nur die Schlußsätze, zu welchen wir uns die Prämissen selbst suchen müssen, wenn wir den Gedanken erfassen, ihn seinem Inhalte nach recht verstehen wollen. Die subjective Erkenntniß war das fruchtbare Gebiet, auf dem die größten Geister der talmudischen Schule thätig waren. Und wer wird wohl bestreiten wollen, daß diese Männer in der Ethik Großes geleistet haben? Der Kirchenlehrer Clemens der Alexandriner (Protrept VI. §. 70) sagt bereits von Plato, daß er die Mathematik von den Egyptern, von den Babyloniern die Astronomie, von den Juden das Gesetz sich geholt habe. Die wissenschaftliche Pädagogik beschäftigt sich gerade in unsern Tagen vorzüglich mit der Erkenntniß der Individualität des Kindes. Um so wichtiger dürfte es sein, die alte Lebensweisheit ein wenig zu Tage zu fördern, da wir hier so manchen schönen Gedanken vorfinden, der uns auf neue Bahnen leiten kann.

Die Sophisten und an ihrer Spitze Protagoras, der Individualist, haben sich bereits von der kosmologischen Idee, für deren Erkenntniß ihnen die nöthige Grundlage fehlte, loszusagen begonnen, um sich um so eingehender mit dem Individuum, mit dem denkenden und wollenden Subjecte zu beschäftigen. Diese Geister verrannten sich jedoch so sehr in ihre eigene Subjectivität, daß sie dadurch das Ideal des einzelnen Menschen, die wahre Individualität, verloren. Selbst die folgen den großen Philosophe konnten nicht die allgemeine Auffassung der Individualität aufgeben und dem einzelnen Menschen seine vollen Rechte zugestehen. Selbst Aristoteles räumt dem Hausherrn das Recht ein, über die Sclaven despotisch, über das Weib nach Art der Archon- ten, über die Kinder in der Weise eines wohlwollenden Regenten zu herrschen. Polit. I. c. 4).

Frei von Vorurtheilen ist das wahre, unangekränkelte Judenthum. Grenzenlos ist das Maß von Liebe, das in der heiligen Schrift jedem Menschen ohne Ausnahme vorgeschrieben wird. Da wird das Naturrecht geheiligt, da gilt das Individuum ohne Unterschied. Auf dieser edlen Grundlage sehen wir in der ganzen jüdischen Literatur die Geister der idealen inneren Vollendung zustreben. In der ausgebildeten Individualität sucht das Judenthum die Größe und die Macht der Gesammtheit, in der Freiheit des Einzelnen die der Gesellschaft, in dem Willen des Einzelnen den des Menschen überhaupt. Wie im Brennpunkte alle Strahlen sich vereinigen und im reellen Bilde die lautere Wahrheit sich bespiegelt, so sammelt sich im jüdischen Ideale das Einzelne zur Gesammtheit, da findet sich in der Einheit das Mannigfaltige das Verschiedene, die Individualitäten. „Mache deinen Willen zu seinem Willen (des Ideales) damit er seinen Willen zu dem deinen mache; zerstöre deinen Willen seinem Willen gegenüber damit es den Willen Anderer dem deinen unterordne“ – sagt ein weiser jüdischer Lehrer. Welche Riesenfortschritte müßte das Erziehungswesen machen, welche gewaltige Umwälzungen müßte das geistige Leben unserer Völker hinter sich haben, ehe dieser großartige Gedanke des alten jüdischen Weisen das Gleichgewicht unter den Culturgeschichten herstellen könnte! Nur ein wahrhaft gebildeter Mensch, nur ein freies Gemüth, nur hochsinnige Seelen nur können ihre Lebensgeister, ihre Gedanken so meistern, daß sie ihre Ueberzeugung jeder besseren und edleren unterordnen. Wo der Weg vom Guten zum Besseren, vom Schönen zum Erhabenen führt, da wetteifern die menschlichen Kräfte, da wird um das höhere Ziel gerungen, da greift alles harmonisch in einander, da ist das Saitenspiel der verschiedenen Herzen richtig gestimmt. Wie verschieden auch der Pulsschlag des Einzelnen tönen mag, im großen Ganzen stimmen sie zusammen. Nur gut und frei erzogene Individualitäten kennen keine Gegensätze, keine Widersprüche. Da ist jeder groß und mächtig für sich, ein Mikrokosmos, eine Nachbarwelt in der großen Welt; „Du nennst dich einen Theil und stehst doch ganz vor mir“, wie Faust sagt.

(Fortsetzung folgt.)

 

 

Ausgabe 10 vom 10.03.1882, S. 82f 

II.

Xenophanes aus Kolophon, das Haupt der Eleatischen Schule (569 v. Chr.) soll bereits – wie der Sillograph Timon (bei Sext. Empir. hypotyp. Pyrrh. I. 224) behauptet – gesagt haben: „Wohin ich meinen Blick richte, löst sich mir Alles in eine Einheit auf.“ Welche Bedeutung wird nicht diesem einfachen Ausspruche beigelegt! Xenophanes ist der erste Metaphysiker geworden. Trotzdem läßt sich aus diesem Ausspruche nicht ersehen, wie er die Einheit aufgefaßt habe. Immerhin war dieser Gedanke in der Geschichte der griechischen Philosophie neu und hat auch derselben eine andere Richtung gegeben. Parmenides aus Elea, sein Nachfolger, hat diesen Gedanken von Neuem aufgenommen und begrifflich aufgefaßt: „Was gedacht wird ist, alles Andere ist nicht“; (Plot. Enn. V. 1, 8.) „und dieses Seiende ist ein einheitliches Ganzes“. (Simpl. zur Phys. Fol. 31 a, b). Somit war die ideale Auffassung der Wirklichkeit in die Geschichte der Philosophie eingeführt, und Plato hat durch seine Ideenlehre dieser Richtung einen sicheren Platz angewiesen.

Sowie wir das Gedachte als das Seiende hinstellen, als Einheit fixiren, erhält der Gedanke eine freie selbstständige Existenz; er wird ein Objekt. Eine solche Selbständigkeit hat Parmenides dem Weltgedanken eingeräumt und Plato hat diesen Gedanken seinem Inhalte nach gegliedert und die geistige Welt mit Ideen bevölkert, an deren Spitze seine oberste Idee, die des Guten steht. Jeder selbständige Gedanke ignorirt die Selbstständigkeit des denkenden Subjektes. Wenn das Subjekt, der Mensch, das denkt, was er selbst fühlt und empfindet, dann ist der Gedanke der Ausdruck seines inneren Wesens und besitzt keine selbständige Existenz. Nur solche Menschen denken frei, und sind frei. Jene oben genannten großen Philosophen und Denker haben sich auch in der That um so mehr von der lautern Sprache des Herzens, der reinsten Lebensquelle, aus der der Gedankenstrom fließt, entfernt, je mehr sie sich vom selbständigen Gedanken leiten ließen. Selbst die Neuplatoniker bemühen sich vergebens um die oberste Idee, die Einheit (hèn) in den Geist des alten Testaments hinein zu tragen, deren Echod, dieses Eine, in jedem einzelnen Wesen ein ideales Leben repräsentirt. Dieses Echod ist der subjective Weltgedanke, die Idee der Ideen, die unsichtbare Welt der passiven Natur, die werden will, um zu sein; es ist ein Gemeinsames der verschiedenen Individualitäten, das gemeinsame Ich der Menschheit, ein Begriff, in dessen Umfange die anderen Begriffe liegen.

Das alttestamentliche Echod hat nichts mit dem „Sein“, „Schein“ und „Nichtsein“, auch nicht mit dem „Nichts“ und dem „Ichts“ – wie Hegel das „Eine“ (hèn) und das „Nichts“ (medèn) übersetzt – gemein und läßt sich auch nicht mit dem „Einen“ (hèn) und dem „Vielen“ (panta) vereinigen. Das Echod des alten Testamentes leibt und lebt in jedem Herzen, es versinnlicht uns eine Stimme in unserem Innern, einen Ton, der jede Seele erhebt, der in jedem natürlichen Gefühlsstrome sich offenbart; dies Echod ist das ideale Ich der Menschheit. Im brennenden Dornbusch hat es sich in einer Feuersäule, die nicht versengt und verzehrt, sondern weckt und belebt, die erhaben stimmt, dem Moses als das gemeinsame Ich der Menschheit gezeigt (B. II. C. 3 V. 6) 

„Ich bin der Gott deines Vaters Abraham, der Gott Isaks und der Gott Jakobs, (daselbst V. 14). „Ich bin, der Ich war, der Ich sein werde“. Lesen wir das erste Gebot, so finden wir auch gleich an der Spitze dieses Ich. „Ich bin der Ewige dein Gott, der dich aus Egypten herausgeführt hat, aus dem Hause der Sklaven“. Regt sich nicht in jedem Herzen ein wunderbares Gefühl, eine Stimme unseres eigenen Ich’s, so oft das biblische Ich zu uns spricht? Das sind menschliche Gefühle, die erwachen, die wir denken und vergeistigen. Vergleichen wir solche Gefühle mit denen des Freundes, des Nebenmenschen und wir finden, daß sie sich ähnlich sind. Sind derartige Gefühle nicht Lebenserscheinungen, die in der menschlichen Brust verschlossen liegen, die mit jedem neuen Geschlechte neugeboren werden, die sich immer wieder verjüngen? Dieses Echod ist das wahre Ich, das ideale Ich der Menschheit, für das noch nicht alle unsere Völker reif sind. Noch liegt ein eisiger Panzer um die menschliche Brust, noch nicht hat die wahre Bildung den innern Kern der menschlichen bessern Natur befreit, noch sperren uralte Traditionen, die als Gedanke mit selbstständiger Existenz die freie innere Ueberzeugung tyrannisiren, den Gefühlsstrom des freien Lebens ab, noch dressirt der Gedankenmechanismus den freigeborenen Menschen. Die Individualität liegt verschlossen, und wo sich die Herzen nicht verstehen, da können die Geister sich nicht vereinigen. So muß das ideale Ich, dieses uralte Echod, das noch ist, was es war und was es sein wird, in die menschliche Natur sich zurückziehen und warten, bis die bessere Erziehung das verborgene, unsichtbare, ideale Wesen befreien wird.

(Fortsetzung folgt.)

 

 

* Herr Waldeck hat sich durch seine in Leipzig erschienenen Schriften: „Grundzüge der wissenschaftlichen Pädagogik“ „Dynamik des Geistes“, „Gedanken über den Idealismus der Arbeit“und andere Arbeiten einen sehr geach- teten Namen gemacht und wir hoffen in der Folge mehrere Aufsätze aus seiner Feder in unseren Blättern bringen zu können. – Die Redaction. 

 

In: Menorah, H. 6-7, 1928, S. 331-333 

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