In: Neue Freie Presse 21.5. 1921, S. 8

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Aus: Jüdische Zeitung, Nr. 44, XII. Jahrgang

Wien, Freitag, den 01. November 1918, S. 2.

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Tran-skription

Der Zerfall Oesterreichs schreitet immer weiter vor. Die meisten der auf österreichischem Boden gebildeten Nationalstaaten haben sich bereits konstituiert und die Nationalversammlungen haben die Regierung und Verwaltung ihres Gebietes übernommen. Wenn so in allen Nationen an Stelle der gänzlich versagenden Staatsgewalt eine neue Instanz tritt, so sind die Juden bisher ohne jede Interessenvertretung. Es ist daher notwendig, daß der jüdische Nationalrat so schnell als möglich seine Tätigkeit aufnimmt. Sowie für alle Völker muß auch für das jüdische Volk eine Volksregierung geschaffen werden, welche die oberste Gewalt in allen jüdischen Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt und ihre Legitimation in dem Vertrauen der breiten jüdischen Massen hat. Allerdings ist bei uns gegenüber anderen Völkern der Unterschied, daß es sich nicht um die Verwaltung eines Territoriums handelt und daß das jüdische Volk in allen Gebieten vertreten ist und überall nur eine Minderheit bildet.

Es ist bemerkenswert, in welcher Weise die neuen Nationalstaaten zur Judenfrage Stellung nehmen. Eine eindeutige Erklärung liegt bisher nur vom ukrainischen Nationalrat vor. Die Ukrainer haben die jüdische Nation vorbehaltlos anerkannt und ihr nationale und politische Minderheitsreichte zugesichert. Der ukrainische Nationalrat hat an die Jüdischnationalen bereits die Aufforderung gerichtet, ihre Vertreter in die ruthenische Regierung Ostgaliziens zu entsenden. In mehreren Versammlungen haben ruthenische Redner bereits Erklärungen dieses Inhalts abgegeben. Die ostgalizischen Vertreter des jüdischen Nationalrates werden bereits in der nächsten Zeit ihre Entscheidung treffen müssen. Die Ukrainer, die jahrelang selbst eine unterdrückte Minorität in Galizien waren, werden in ihrem Staate gewiß den nationalen Minoritäten Rechte gewähren. Sie folgen damit dem Vorbild des russischen Bruderstaates, der Ukraina, welche bekanntlich nach ihrer Konstituierung den Juden volle nationale Autonomie gewährte, sogar ein jüdisches Ministerium schuf und erst nach dem durch den Einmarsch der deutschen Truppen herbeigeführten Umschwung wieder entzog. Da das deutsche Intermezzo in der Ukraine bald beendet sein dürfte, so werden die Juden zweifellos auch dort ihre nationalen Rechte erhalten, da die Ukrainer selbst einsehen werden, daß die Erteilung der nationalen Autonomie an alle Minoritäten im Interesse des eigenen Staates liegt und auch für jedes neue Staatswesen der Prüfstein der Demokratie ist, was heute mehr bedeutet als eine bloße Prestigefrage.

Im tschechoslowakischen Staat bilden die Juden eine Minderheit, die aber keineswegs bedeutungslos ist. Es war immer der Ehrgeiz der Tschechen, daß ihr neues Staatswesen als eines der demokratischesten der Welt entstehe. Unser Prager Bruderblatt „Selbstwehr“ schreibt in seiner letzten Nummer:

„Wir glauben daran, daß die Tschechen in ihrem neuen Staate den anderen Völkern gegenüber Gerechtigkeit üben werden. Sie haben zuviel um ihre Selbständigkeit kämpfen müssen, sie wissen viel zu gut, daß ihr neuer Staat, der unter den Augen der ganzen zivilisierten Welt gegründet wird, das gleiche Recht für alle zur Voraussetzung hat, um dieses Recht nicht auch den Juden zuzubilligen.“

Wie wir an anderer Stelle berichten, hat der jüdische Nationalrat des tschechoslowakischen Staates dem tschechischen Nationalausschuß bereits ein Memorandum über die politischen und nationalen Forderungen der Juden überreicht. Die böhmischen Juden haben in ihrer Mehrheit bisher die deutschen Positionen in Böhmen gestärkt und ließen sich auch durch die Fußtritte der Deutschen nicht von dieser Politik abbringen. Wir haben die verderbliche Art dieser Politik stets gebrandmarkt und stets die Forderung aufgestellt, daß die Juden ausschließlich jüdische Politik treiben sollen und sich nicht in den Kampf der anderen Völker einzumischen haben. Wir haben schon damals darauf hingewiesen, daß die einzige wirklich ehrliche jüdische Politik, daher auch die einzige, zu der die anderen Völker Vertrauen haben können, die jüdischnationale ist. In diesem Augenblick, wo neue Nationalstaaten entstehen, gerät die Solidarität der Assimilanten ins Wanken. Denn was haben israelitische Deutschösterreicher, Tschechoslowaken, Polen, Ruthenen usw. noch für Gemeinsamkeit. Umso stärker erweist sich jetzt die Richtigkeit der jüdischnationalen Politik auch für das Judentum, da nur durch sie eine unverbrüchliche Einheit des Judentums der ganzen Welt geschaffen wird. Nur dann aber kann auch das jüdische Volk als politischer Faktor von einiger Bedeutung auftreten. Daß auch die anderen Nationen dieser Argumentation zugänglich sind, beweist die bereits in unserer letzten Nummer erwähnte Rede des Abgeordneten Klofatsch, welcher ausdrücklich sagte, daß die Tschechen sich dessen bewußt sein müssen, daß eine falsche Behandlung der Juden einen „empfindlichen Rückschlag“ auf die Position der Tschechen im Ausland haben könnte. Es ist nicht zu unterschätzen, wenn gerade von Seite der Tschechen, die doch über die besten Beziehungen im Ausland verfügen, der jüdische Einfluß in dieser Weise gewertet wird.

Der wichtigste von allen neuen entstehenden Staaten ist für das jüdische Volk zweifellos der polnische Staat, in dem drei Millionen Juden leben. Die Polen sind sich dessen bewußt, daß ihr Verhalten zur Judenfrage von entscheidender Bedeutung für ihre internationale Position sein wird. Sie glauben aber noch immer, die Welt täuschen zu können, indem sie schöne Proklamationen und Versprechungen über die „Gleichberechtigung der Juden“ machen, sogar dicke Bücher in allen möglichen Sprachen von Staats wegen herausgeben. In Wirklichkeit aber betreibt die neue polnische Regierung die alte Schlachzizenpolitik und zeigt sich jeder Forderung nach nationaler Autonomie für die Juden unzugänglich. Es wird gemeldet, daß die polnischen Juden ein Telegramm an den Präsidenten Wilson gerichtet haben, in dem sie ihn bitten, dahin zu wirken, daß das von den Polen in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht auch den Juden in Polen gewährleistet wird. Es ist zweifellos, daß bei den internationalen Verhandlungen auch die Fragen der nationalen Minoritäten geregelt werden müssen. Nach der Auffassung des Präsidenten Wilson, der sich bereits alle Staaten angeschlossen haben, kann es in nationalen Fragen keine einseitige „innere“ Politik eines Staates mehr geben. Alle nationalen Fragen gehören vor das Weltforum und alle Streitfälle zwischen der nationalen Mehrheit und Minderheit eines Staates gehören vor den internationalen Schiedsgerichtshof des Völkerbundes. Die Polen werden zu derselben Einsicht kommen müssen, welche der Abgeordnete Klofatsch für die Tschechen ausgesprochen hat.

Dasselbe gilt aber auch für den neuen deutschösterreichischen Staat. Auch der deutschösterreichische Staat wird auf seine Stellung im Ausland Rücksicht zu nehmen haben. Soweit ein jüdischer Einfluß hiebei in Betracht kommt, ist bisher allerdings nicht viel geschehen, um diesen Faktor zu gewinnen. Deutschösterreich und insbesondere das christlichsoziale Wien gilt in der ganzen Welt als eine Hochburg des Antisemitismus und die antisemitischen Redeexzesse im Parlament und bei den deutschen Volkstagen haben noch in der letzten Zeit dazu beigetragen, dieses ungünstige Bild im Ausland zu verstärken. Wenn jetzt Deutschösterreich als Nationalstaat konstituiert wird, so wird es im eigenen Interesse die nationale Minoritätenfrage lösen müssen und hiebei auch den Wünschen des jüdischen Volkes Rechnung tragen müssen. Es liegt im beiderseitigen Interesse, daß das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden auf nationaler Basis geregelt werde. Nur auf diesem Wege wird es möglich sein, die Reibungsflächen zu vermindern. Wir haben schon unlängst auf die Stellungnahme der „Reichspost“ hingewiesen. In ihrem Abendblatt vom 26. d. M. äußert sie sich wieder sehr zustimmend zu den Richtlinien des Bukowinaer Manifestes. Die deutschösterreichische Regierung, die in ihrer Note an Wilson mit so beredten Worten für den Schutz der deutschen Minoritäten eintritt, wird auch ihren Minoritäten dasselbe nicht versagen können und sie wird hoffentlich einsichtig genug sein, um der jüdischen Minorität den Appell an Wilson zu ersparen. Es kommt nur darauf an, daß alle Nationen einsehen, daß die Minoritätenfrage eine einheitliche ist und daß es nicht geht, auf der einen Seite zu fordern und auf der anderen nichts selbst gewähren zu wollen.

Alle neuen Staaten werden die Unterstützung des Auslandes, insbesondere Amerikas, nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung nötig haben. In dieser Hinsicht könnten die Juden zweifellos große Dienste leisten, besonders auch dem deutschösterreichischen Staat, der mit seiner Hauptstadt Wien wirtschaftlich bei der neuen Lage außerordentlich gefährdet ist. Aber nur die nationalen Juden verfügen über diese Beziehungen. Die Assimilanten, welche die fremde Nationalität annehmen, zerschneiden dadurch ihren Zusammenhang mit der auf der ganzen Welt wohnenden einheitlichen jüdischen Nation. Es wird für alle neuen Staaten von großer Bedeutung sein, daß sie rechtzeitig die Tragweite einer richtigen oder falschen Judenpolitik erkennen. Sache des jüdischen Nationalrates ist es, die Völker nicht darüber im unklaren zu lassen, was das jüdische Volk fordert.

➥ Zur Biographie: Anonym

In: Dr. Bloch’s oesterreichische Wochenschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums 42 (1892), S. 759-760.

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Tran-skription

Es gab mehrere stolze Leute in der Gasse, in der ich Lehrer war. Stolz war Awrom Geier auf seinen großen Schnurbart und seine rothe Nase, die ihm ein magyarisches Aussehen gaben; stolz war Mardche Schilak auf seine Töchter, die in einem Pester Pensionat waren und mit einem clavier nach Hause kamen, das man in der Gasse noch nie gesehen hatte; stolz war Scheie Kallop auf sein Renommé als bester Franzefuß-Spieler in der ganzen Gegend; einen stolzeren Menschen jedoch gab es weit und breit nicht, als Schie Leb. Der fühlte in der That, wie kein Zweiter, was und wer er sei.

Er betrieb einen großen Schafwoll- und Rindshauthandel und auf dem Tirnauer Markte machte er immer die Preise. Sein Geheimniß bestand darin, daß er billig kaufte und theuer verkaufte. Wer das nachmachen kann, soll unbedingt reich werden. Und so ist Schie Leb reich geworden und war stolz auf seinen Reichthum.

Gegen jenen alten Franzosen, der durch eine Pantomime die Elemente bezeichnete, mit denen der Reichthum verbunden sein muß, wenn er einen Vorzug beanspruchen will, indem er auf seine mit klingenden Napoleond`ors gefüllten Taschen schlug, dann die eine Hand an die linke Brustseite drückte und den Zeigefinger der anderen an die Stirne legte, womit er andeuten wollte, daß zum Gelde auch Herz und Verstand kommen muß – gegen diesen Franzosen war Schie Leb ein lebendiger Protest. Er klopfte nur auf den Geldbeutel.

„Alles nischt“ – er sprach das Deutsche nicht rein – „Alles nischt!“ war sein Sprichwort, wenn von Bildung oder Humanität die Rede war. Er glaubte nicht an die Macht der Intelligenz, nicht an die beseeligende Kraft des Wohlthuens. Keiner handelte nach ihm, klug, keiner war nach ihm, gut und edel. „Alles nischt.“ Und dieser Ausspruch Schie Leb`s ist in der ganzen Umgegend zum geflügelten Worte geworden, wie der ähnliche Ausspruch des Koheleth.

Schie Leb war jedoch kein Plagiator. Er kannte Kohelet nicht einmal dem Namen nach. Die Aerzte, Lehrer und Beamte waren stets das Stichblatt seines Witzes, und wenn er Abends auf der Steinbank vor seinem Hause saß, gingen sie, wenn sie diesen Weg machen mußten, auf der anderen Seite der Straße. Vor dem Rabbiner und den anderen Talmudgelehrten der Gasse hatte er einen förmlichen Abscheu. Er mied auch das Gotteshaus. „Alles nischt.“

Schie Leb lebte sich in seinen Geldstolz so hinein, daß er wirklich glaubte, Alles müsse sich ihm fügen. Schließlich sprach er gar nicht mehr, er brummte nur, wenn er irgend einen Wunsch hatte. Niemand wagte ihm zu widersprechen, und dadurch wurde er in seinem Dünkel noch mehr bestärkt, daß einzig und allein sein Geld Respect einflöße und bei den Menschen nichts weiter gilt als Geld, übrigens aber „Alles nischt.“

Merkwürdigerweise aber hatte Schie Leb doch Ehrgeiz. Zuerst für seine Person. Er wäre so gern Vorsteher der Gemeinde geworden. Als einmal die Neuwahlen in den Cultusvorstand stattfanden, lud er am Sabbath bevor fast die ganze Gemeinde auf ein Schalesch-Sudes ein, bei welchem die besten Weine in unerschöpflicher Menge credenzt wurden.

Aber im Wein steckt oft Wahrheit, und am nächsten Tage fiel Schie Leb bei der Wahl schmählich durch; er hatte keine zehn Stimmen.

Ein andermal verlockte ihn sein Ehrgeiz in den Vorstand der Ortsgemeinde zu kommen, zur Zeit dieser Wahlen. Er verwendete bedeutende Summen zur Agitation für sich. Izek Futtak, der einen Branntweinschank hatte, war sein Kortesch, die Bauern soffen wochenlang gratis Tag und Nacht; und er fiel bei dieser Wahl noch kläglicher durch, als bei der Wahl in den Cultusvorstand, obwohl zwei Juden gewählt wurden und zwar der jüdische Arzt und ein armer jüdischer Buchbinder. Das kränkte Schie Leb noch mehr. Es ward klar, daß auch im Branntwein Wahrheit steckt. 

Nach diesen beiden Niederlagen übertrug er seinen Ehrgeiz auf seine Söhne.

Sein Itzig zeigte Anlagen, Cavalier zu werden.

Es war die Ambition des stolzen Ochsenhauthändlers, daß sein Itzig mit den Edelleuten des Ortes und der Umgegend wie mit seinesgleichen verkehre.

Mit seinem zweiten Sohne Jossel hatte er noch kühnere Pläne. Der sollte Advocat werden und so mit dem Stuhlrichter und den Amtspersonen, vor welchen allein er Respect hatte, auf vertrautem Fuße stehen.

Er schickte beide Söhne, sobald sie es dahin brachten, den Rock in einem Jahre nicht auszuwachsen, nach Pest, um dort zu studiren. 

Er gab viel für sie aus. Sie forderten aber noch mehr. Sie lehrten den Alten, was ein Wechsel sei. Und sein Herz erweiterte sich, wenn er sah, daß ein lumpiges Stück Papier, worauf er seine drei Kreuze setzte – denn seinen Namen konnte er nicht fertigen – von diesem Momente an zu barem Gelde wurde. Gerade als ob ein Fürst es unterschrieben hätte. Ein gescheidter Mann, der das ausspeculirt hat, um die Menschen groß zu machen.

Die Söhne aber ließen den Alten sehr groß werden. Ihre Schwäche stand im schönsten Verhältnisse zur Schwäche ihres Vaters. Sie waren gegenseitig zufrieden.

Vor lauter Zufriedenheit ruinirten sie den Alten. Man merkte den Niedergang seines Vermögens und es wurde das geflügelte Wort ausgegeben.

„Was Schie Leb an Ochsenhäuten gewann, verlor er wieder an Ochsenhäuten.“

Itzig wurde ein Cavalier; er ritt, spielte, hielt Maitressen und war die „Wurzen“ aller verkrachten jungen Edelleute des ganzen Comitates.

Jossel war das Rechtsstudium zu trocken. Er fing an zu trinken. Er kam von Pest nach Hause und trat in das Geschäft des Vaters ein, war aber häufiger im Keller, als in den Magazinen zu finden.

Beide heirateten und von Beiden liefen die Frauen bald weg. –

Beide lebten sich in der Gesellschaft zu Tode, starben moralisch, wurden allgemein als Lumpen bezeichnet.

Und Schie Leb hatte alle Ursache, auch den Ehrgeiz in sein „Alles nischt“ einzubeziehen.

Noch hatte er so viel Geld, um in seinem Stolz auf dasselbe fortzuschreiten und jeden Anderen zu verhöhnen. Ja, er wurde noch hochmüthiger, um die Leute nicht merken zu lassen, daß es mit ihm abwärts gehe, zeigte sich noch haßerfüllter gegen Alle, die sich durch Bildung und humanes und religiöses Wirken hervorthaten, und geizte bei den öffentlichen Leistungen, die er pflichtgemäß abzutragen hatte.

Noch häufiger als früher führte er sein „Alles nischt“ im Munde. Er murmelte es für sich hin, auch wenn er ganz allein war und er wäre vor Vereinsamung gewiß dem Wahnsinne verfallen, wenn er nicht noch zur rechten Zeit aus diesem Jammerthal, wo „Alles nischt“ ist, die Reise in das unbekannte Jenseits hätte machen müssen, an das er nicht glaubte und so oft davon gesprochen wurde, auch sein „Alles nischt“ darüber sprach. –

Um Trost für die vielen Enttäuschungen zu suchen, nahm er in der letzten Zeit auch Zuflucht zur Flasche und wurde auf offener Straße von einem Schlaganfall getroffen, dem er auf der Stelle erlag.

Es blieb doch noch so viel zurück, daß sich die Kinder um die Erbschaft balgten und so viel Pietätsgefühl haben die Kinder doch noch bewahrt, daß sie, bevor sie mit einander zu processiren anfingen, von der Hinterlassenschaft eine hübsche Summe ausschieden, um Grabsteine für Vater und Mutter zu stellen, denn auch die Mutter, die schon um Jahre früher starb, hatte noch keinen Gedenkstein, weil Schie Leb consequent bei seinem „Alles nischt“ blieb. Und bald wäre Schie Leb nach dem Tode verherrlicht worden.

Denn in Itzig regte sich der Cavalier. Er wollte den Eltern Monumente errichten, wie sie auf dem Friedhofe noch nicht zu sehen waren, hohe Steine an der Kopfseite der Gräber und extra Seitensteine und in jedem hochtrabende Inschriften.

Da hätte man ja an einer Gerechtigkeit verzweifeln müssen!

Es ist aber anders gekommen. Gerade bei diesem so vornehm scheinenden Grabmal muß der Wanderer lachen. Und das kam so.

Die Steine wurden in Pest verfertigt und auf dem Friedhof zu Hause von des Hebräischen unkundigen Leuten gestellt. Sie verwechselten die Seitensteine, so daß diese auf Schie Leb`s Grab berichten, was für „Biederweib“ er gewesen. Und diese Grabsteine stehen heute noch so.

„Alles nischt?“ Nein, an seinem Grabe hallt es entgegen: Es ist etwas! daß Schie Leb noch nach dem Tode hinaus lächerlich sein mußte.

In: Dr. Bloch’s oesterreichische Wochenzeitschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums 4 (1892), S. 70-71

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Ich besuchte vor Jahren ein kleines Kaffehaus in der Umgegend der Börse wegen der billigen Tarife bei einer Menge fremder Blätter in demselben. Die Stammgäste dieses Lokales bilden ehemalige Börseaner, die in dem gefährlichen Strudel dieses so gleißnerischen Goldstromes untergegangen und sich doch von der Nähe der Stätte ihres einstigen Glückes nicht trennen können, wie Jeremias von den Trümmern Jerusalems, oder die jetzt von der Mildthätigkeit ihrer noch glücklich schwimmenden Collegen ihr Leben fristen. Denn wenn die so arg verleumdeten Börseaner auch für jeden Unglücklichen eine offene Hand haben, so herrscht unter ihnen für die Schiffbrüchigen ihrer einstigen Standesgenossen noch ein besonderes Solidaritätsgefühl, vielleicht, weil Jedem von ihnen dasselbe Schicksal vorschwebt und das Mitleid doch eigentlich nichts anderes ist, als das Sichversetzen in die Lage des Elenden.

Der genaue Beobachter kann bemerken, wie nach dem jedesmaligen Schluß der Börse jeder der Herren von seinem Leibarmen erwartet wird, dem er im Vorübergehen eine Spende reicht. Nicht selten sind dies Guldenzettel. –

Ein solcher Client eines Börsen-Patriziers schien mir auch ein Mann zu sein, dem ich fast täglich in dem in Rede stehenden Kaffehause am Lesetische in einer französischen oder englischen Zeitung vertieft, begegnete. Manchmal nahm er auch an den Debatten theil, die von den Gästen über die verschiedensten Materien geführt wurden und ich hatte Gelegenheit, sein reiches Wissen und sein richtiges Urtheil zu bewundern. Er war ungefähr ein Vierziger, sah immer bleich und verstört aus, aber ordentlich gekleidet, wie die Klasse der Gentleman-Proletarier.

Dann sah ich ihn wieder wochenlang nicht.

Eines Abends ging ich spät aus einer Vereinsversammlung in meine Wohnung in der oberen Donaustraße. Auf meinem Wege von der Augartenbrücke stieß ich auf einen menschlichen Körper. Ich erschrack, beugte mich zu ihm hinab und überzeugte mich, daß es nur ein Schwerbetrunkener war. Mit großer Mühe stellte ich ihn auf die Füße und erkannte in ihm meinen Tischgenossen aus dem Kaffehause. Aus Schonung seiner Ehre wollte ich ihn keinem Wachmanne übergeben, sondern führte ihn in meine Wohnung, wo ich ihm in einer Kammer, die mit altem Rumpelwerke gefüllt war, ein Lager bereitete, auf das er wie ein Klotz niederfiel. –

Es war gegen Mittag, als sich in der Kammer Etwas zu regen anfing. Als ich hineinsah, hatte mein Gast den Kopf unter der Decke hervorgestreckt und blickte mich verdutzt an, als könnte er sich nicht zurechtfinden. –

Endlich schien er sich doch über die Situation klar geworden zu sein, und seine bleichen Wangen färbten sich roth vor Scham.

Ich wies ihm an, wo er sich waschen und seine Kleider von dem Schmutz des Straßenpflasters reinigen könne. Nach einer halben Stunde trat er mit gesenkten Blicken vor mich hin und streckte mir die Rechte entgegen. Wie er jetzt gebürstet und gewaschen vor mir stand, sah er trotz seiner abgetragenen Kleidung wieder einem Gentleman ähnlich und ich schüttelte ihm, wie einem alten Bekannten die Hand,

„Verzeihen Sie, mein Herr“, sagte er, „die unangenehme Mühe, die ich Ihnen durch Ihre Güte bereitet habe„ – – –

„Nicht der Rede werth“, fiel ich ihm lachend ein, um ihm über die peinliche Entschuldigung hinwegzuhelfen. „Sie hatten wahrscheinlich gestern ein Malheur, das dem solidesten Manne zustossen kann, in Gesellschaft etwas zu tief in das Glas geguckt zu haben.“

„Leider trifft Ihre gütige Entschuldigung meiner Handlungsweise nicht zu. Es war gestern kein Ausnahmsfall.“

Ich sah ihn betroffen an und sagte: „Bei Ihrer Bildung und als Jude, der Sie doch sind, wie ich vermuthe?“

„Ich bin`s und bin`s doch wieder nicht; ich bin ein getaufter Jude.“

„Da haben Sie schnell eine nichtjüdische Sitte erlernt.“

„Von dem Zwiespalt mit mir, in den ich durch den Uebertritt gerieth, stammt mein ganzes Unglück. Dieser Schritt brennt mir auf der Seele, daß ich die Erinnerung an ihn am liebsten mit meinem Leben ersäufen möchte.“

Er war, während er sprach, meiner Einladung gefolgt und hatte sich neben mich auf einen Stuhl gesetzt. Er stützte den Kopf in die Hände und kraute mit den Fingerspitzen in den Haaren, wie Jemand, der seine Gedanken zu sammeln sucht.

„Ich bin wahnsinnig gewesen, Herr“, fing er plötzlich wieder erregt zu sprechen an, „wahnsinnig, denn ich könnte heute vermögend und glücklich sein, wenn ich nicht wahnsinnig gewesen wäre. Die Geschichte läßt sich kurz erzählen. Mein Vater war ein reicher Mann und ließ mich auf das Sorgfältigste erziehen und ausbilden. Es hätte gute Früchte tragen können, wenn ich nicht wahnsinnig gewesen wäre, mich in ein christliches Mädchen, zu verlieben, in ein armes christliches Mädchen, das nicht anders mein Weib werden wollte, als wenn ich mich taufen lasse.

Berauscht von der Sehnsucht, sie in meine Arme zu schließen, erfüllte ich ihre harte Bedingung, opferte für die Seligkeit ihres Besitzes meine Religion und schlug allen Zusammenhang mit meiner Familie in die Schanze.

Wäre ich von meinen reichen Eltern nicht verstossen worden, wir wären das glücklichste Paar unter der Sonne gewesen. Mein Verdienst reichte nicht aus, um ein Leben zu führen, wie es sich meine Frau an meiner Seite versprochen hatte und um dessentwillen sie sich eigentlich herabgelassen, einen Juden zu heiraten. Und da hatte die Christin bald Gelegenheit, ihren Mißmuth in dem niedrigen Geiste des Judenhasses zu zeigen, in welchem sie erzogen war.

Ich – ich hätte mich nur in ihrem Besitze auch dann glücklich gefühlt, wenn wir uns hätten miteinander durch das Leben betteln müssen; ich hätte die unablässig mich quälenden Gedanken des Verrathes, den ich an meiner Vergangenheit übte, mit Wollust bis zum Tode ertragen, wenn ich nur ihre Liebe besessen hätte. Sie aber, sie war von anderer Art. Die Neigung zu mir, die ich an dem Mädchen zu bemerken glaubte, schlug bei dem Weibe in das Gegenteil um. Sie haßte mich als Juden, sie warf mir bei jeder Gelegenheit den Juden vor, sie dichtete mir alle die Fehler an, die der Fanatismus des Judenhasses dem ganzen Stamm andichtet. –

Oft war es nicht zum Aushalten – aber ich trug es. Ich entschuldigte sie immer mit ihrer Erziehung, mit der Schwäche des Weibes, sich nicht beherrschen zu können. Und ich hatte mir ja mein Elend selbst zu danken; wenn ich Jemand anzuklagen hätte, dann wäre ich es – ich hätte es wissen sollen, daß der Judenhaß unüberwindlich ist, wenn der Jude auch das Muster aller Tugenden ist, wenn der Jude auch den Christen die erdenklichsten Opfer bringt, sich selbst für sie opfert.

Und am Ende sagte ich mir: Sie ist ja doch mein Weib. Ich hielt die Ehe mit ihr für heilig; sie betrachtete das Bündnis, das doch vor ihrem Altare, von ihrem Priester eingesegnet wurde, für ein Concubinat und Tag für Tag mußte ich die Klage anhören, sie sündige gegen ihren Gott, mit mir zu leben.

Ich ertrug Alles geduldig und stille und lange, so lange, bis der in mir aufgespeicherte Schmerz mich zur Verzweiflung trieb. Da verließ ich stille das Haus, schwemmte in einer Kneipe die erstickende Last hinunter und kehrte mit dem ersten Rausche in meinem Leben heim.

Nun, damit hatte ich erst recht Oel in`s Feuer gegossen. Was ich wegen dieses Rausches, zu dem sie mich wie zu einem Selbstmorde doch nur selbst getrieben hatte, ausstehen mußte, das war selbst für meine Geduld zu viel. Nun spielte sie sich auf die edle, arische Natur hinaus und ich, der Jude, war ein Trunkenbold vom Hause aus, denn alle Juden seien Säufer.

Mir graute vor dem Weibe – ich trank mir den zweiten Rausch; ich verzweifelte – und trank mir den dritten, den vierten, den fünften, kurz, ich betrank mich, so oft es über mich kam, daß ich mich nicht zu retten wußte. Ich war doch noch immer der Bessere von uns Beiden, denn ich wollte es aushalten, wie es auch ging.

Eines Tages packte sie aber unser einziges Kind und ging auf Nimmerwiedersehen. Ich liebte das Kind, während sie ihm nicht die geringste Neigung zeigte und es bei jeder kindlichen Unart „Juden-Bankert“ schalt. Ich verlangte mein Kind. Aber sie bewies vor Gericht, daß ich ein Trunkenbold sei und das Kind schlecht erziehen werde, und es wurde ihr zugesprochen.

Nun hatte ich noch den Schmerz um mein mir entrissenes Kind zu ersaufen und da ich mir mit meinen benebelten Sinnen auch in meinem kleinen Amte manche Unterlassung zu Schulden kommen ließ, wurde ich bald darauf entlassen und stand auf der Straße, ein armer verachteter Mann, verstossen von den Eltern, ohne Weib, ohne Kind, ohne Stellung, und – und – ohne Gott.

Später hörte ich, daß mein Weib von meinem früheren Chef soutenirt werde. Das war der letzte Schlag, der mir das Dasein eckel machte. Seitdem habe ich mein Leben gefristet, wie es eben ging, und wenn es meine Mittel erlauben – warum sollte ich läugnen? – suche ich meinem Herzen, meinem um seine Ideale betrogenen und von Erinnerungen gepeinigten Herzen auf diese Weise Ruhe zu schaffen, wie Sie dessen Zeuge gewesen sind.“

Er schwieg und barg sein Gesicht in die abgemagerten Hände; ich sah trotzdem, daß er weinte.

„Warum ich dieses elende Leben noch trage?“ sagte er aufschauend „o, nicht aus Feigheit; ich spekulire nur, wie ich sterbe, ohne unter den Symbolen begraben zu werden, unter denen ich mit meiner Frau getraut wurde. Im Tode will ich mit Juden vereint sein.“

Ob er diesen Wunsch erreicht hat?

Möglich.

Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.

Er kann in den Wellen der Donau den Tod gefunden haben und hinabgeschwemmt worden sein in die Tiefebene Ungarns, wo sein Leichnam als jüdischer agnoscirt, auf einem jüdischen Dorffriedhofe seine letzte Ruhe fand.