➥ Zur Biographie: Siegfried Schmitz

Aus: Wiener Morgenzeitung, Nr. 812, 3. Jahrgang

Wien, Sonntag, den 01. Mai 1921, S. 4–5.

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Tran-skription

Das Drama hat im jüdischen Denkkreise eigentlich niemals Raum finden können. Vielleicht deshalb, weil die kultische Verbindung nicht gegeben war. Die dramatische Form fand lange Zeit – wahrscheinlich schon von der frühesten Zeit des Exils an – eigentlich nur am Purim Anwendung, jenem Tage, da sich auch sonst die Geschlossenheit des jüdischen Lebenskreises löst. Es schein, daß der eigentlich nur dem lyrisch-explosiven Ausdruck geneigte Jude für den dramatischen Ausdruck überhaupt kein Verständnis hatte. Böswillige könnten behaupten, daß dieses dramatische Verständnis trotz der Gewandtheit, mit welcher Juden seit ein paar Generationen in der Gestaltung, Ausführung und dem Erlebnis der dramatischen Form als dramatische Autoren, Schauspieler und als Publikum tätig sind, bis heute dem Juden abgeht. Der Jude betrachtet bis heute Theater und Drama als eine „badchonische“ Angelegenheit. Symptomatisch dafür ist, daß einer der Vorläufer der Goldfadenschen Singspieldichter in jüdischer Sprache, Schlojme Badchen“ war, welcher eine Art Burleske, betitelt „Moses oder die Befreiung der Juden aus Aegypten“, verfaßte. 

Goldfaden, mit dessen 1877 erfolgter Theatergründung in Jassy die Entwicklung des modernen jüdischen Theaters beginnt, hat, wie David Pinski in seinen „Studien über das jüdische Drama“ mit tiefer Einsicht bemerkt, den Badchen, den Improvisator des Ghetto, zum Ausgangspunkt genommen und ihn in die ihm innewohnenden Unterhaltungselemente zerlegt, die er auf verschiedene Personen aufteilte. Schon dieser Ausgangspunkt für die moderne jüdische Bühne und die näheren Begleitumstände, welche mit ihrer Gründung verbunden waren, beeinflussen die Wertung des jüdischen Theaters beim Publikum. Goldfaden spielte in Rumänien Theater vorwiegend für die Kriegslieferanten, die sich dort während des russisch-türkischen Krieges zusammengefunden hatten, und wie richtig er sein Publikum einschätzte, beweist sein Ausspruch: „Ich spiele für Moische, nicht für Moses.“ Und es ist ebenso bezeichnend, daß die Entwicklung des neuen jüdischen Theaters eigentlich in Amerika erfolgt ist, wo Goldfadens Singspiel in die Niederungen der burlesken Operette und der Zote gelangte und wo eigentlich sozusagen der Anschluß an die europäische Dramatik und das europäische Theater gefunden wurde. Dem Publikum ist es wohl zuzuschreiben, daß zunächst in Amerika jene Umarbeitung europäischer dramatischer Dichtung erfolgte, welche Shakespeares, Hebbels und Molières gültigste Gestalten in ein jüdisches Milieu übertrug und aus „Romeo und Julia“ „Zwei Brüder Lurie“ machte und Hamlets Monolog „Sein oder Nichtsein“ in eine Betrachtung über die damaligen Zustände in Rußland umwandelte. Dies beweist am besten, daß das jüdische Theaterpublikum die absolute Gültigkeit dramatischer Gestaltung nicht versteht, daß es nicht die waltenden Mächte, welche die Gestalten des Dramas führen, anerkennt und begreift, da es eine ganz andere Auffassung vom Geschehen der Welt hat als die, welche das Drama hervorbrachte.  

Auf diese aus der Geschlossenheit der jüdischen Weltanschauung sich ergebende dramatische Verständnislosigkeit ist es auch zurückzuführen, daß vielfach noch bis heute das jüdische Theaterpublikum fordert, daß die Bühnenvorgänge gut ausgehen. Man kann nicht einwenden, daß die Zusammensetzung des Publikums in den ersten Jahrzehnten des jüdischen Theaters hier besondere Wirkung gehabt habe. Das sogenannte niedrige Publikum bietet ja überall den Gradmesser für das dramatische Verständnis. Erst als sich in Amerika eine jüdische Bühne entwickelt hat, als Gordins Theatertalent durch das Kompromiß zwischen europäischer Dramatik und jüdischem Milieu den Boden für die Aufnahmsfähigkeit beim ostjüdischen Publikum geebnet hatte, begann die eigentliche neujüdische dramatische Dichtung in Europa, welche durch die Namen Pinski, Kobrin, Libin, Asch, Perez, Hirschbein u. a. gekennzeichnet ist. Bei dieser neuen Dramatik ist noch immer das rein Milieuhafte mitbestimmend. Und es ist wieder bezeichnend, daß sie ihr Theater zunächst in Amerika fand. 

In Europa haben erst die letzten Jahre eine künstlerische Entwicklung des jüdischen Theaters angebahnt, welche der neuen jüdischen Dramatik und dem Drama überhaupt den richtigen Rahmen zu geben imstande ist. Das Theater, welches Amerika bis heute bietet, kann künstlerisch durchaus nicht allzu hoch gewertet werden. Der künstlerische Aufstieg der jüdischen Bühne ist mit der Wilnaer Theatertruppe eng verbunden. Dort wurde der Versuch gemacht, den Stil für ein jüdisches Theater zu finden, der es vom badchonischen Element wegführt und nicht bloß europäisch, sondern auch jüdisch macht. Lange Zeit fand solches Bestreben beim jüdischen Theaterpublikum geringes Verständnis. Abgesehen von der eingangs erwähnten, durch Anlage bedingten schweren Einstellung des Juden auf Drama und Theater, trug auch die possenhafte Vergröberung, die lange Zeit auf dem jüdischen Theater herrschte, das ihrige dazu bei, um die neuen Versuche ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Und der Jude, welcher bis heute Drama und Theater als Unterhaltungssache betrachtet, vermochte nicht, zum Neuen das richtige Verhältnis zu finden. Erst in den allerletzten Jahren, als die jüdische Intelligenz des Ostens sich auf Fortentwicklung des jüdischen Wesens einstellte, kam sie zum Teile dem neuen Streben des jüdischen Theaters näher.  

In dieses letzte Jahrzehnt fällt eine parallel gerichtete Tätigkeit in einem eigenartigen jüdischen Zentrum, in Wien. In diesem Kreuzungspunkt des jüdischen Ostens mit dem Westen ging gerade bei Juden, welche aus dem Westen stammten und irgendwie im jüdischen Drama und Theater einen Anknüpfungspunkt an die neue jüdische Entwicklung spürten, der Anstoß zu jüdischem Theater in spezifisch jüdischem Stil aus. Die ersten Versuche dieser Art sind mit den Namen Hugo Zuckermann, Egon Brecher und einiger anderer junger Menschen mit Streben nach Erfassung jüdischen Wesens verbunden. Sie fanden kein Publikum in Wien. Denn in dieser Stadt der Kreuzungen und Uebergänge konnte ein auf eindeutige jüdische Form gerichtetes Streben nirgends Widerhall finden. Inzwischen brachte der Krieg eine wesentliche Aenderung der jüdischen Physiognomie Wiens. Sie wurde bestimmter, eindeutiger. Wien, das unter den Verhältnissen, wie sie sich für die Judenheit gebildet haben, bestimmt ist, ein Zentrum für das neue Judentum zu werden, bekommt ein jüdisches Profil, das ihm bislang in der Sphäre einer Zeit, da der jüdische soziale Uebergang alle Formen des jüdisch-geistigen Unterganges hervorgebracht hatte, immer mehr geschwunden war. Und so konnte es kommen, daß in den letzten drei Jahren wieder Kräfte ans Werk gingen, um das jüdische Theater fortzuentwickeln. Es entstand die „Freie Jüdische Volksbühne“. Und ihr gelang es vor einigen Monaten, ein, wenn auch sehr bescheidenes, jedoch eigenes Theater zu erhalten. In diesem Theater wird jüdische dramatische Literatur gespielt, und es vollzog sich etwas Eigenartiges: Was so lange gesucht wird, was überall fast aussichtslos schien, das entwickelte sich hier mit unglaublicher Raschheit: Ein nicht nur künstlerisch ernstes, sondern auch mit jüdischem Stil, wenigstens mit Ansätzen eines solchen, gespieltes jüdisches Theater erstand. Es scheint, daß gerade in Wien die Entwicklungsmöglichkeit für jüdisches Theater mit wirklich eigener Note besteht. Dieser Kreuzungspunkt, welcher dem jüdischen Wesen bisher so viel Unsegen gebracht hat, scheint die Möglichkeiten in sich zu bergen, den neugerichteten Kräften im Judentum zum Durchbruch zu verhelfen. Wer je Aufführungen der „Jüdischen Volksbühne“ in Wien gesehen hat, die schon an Sorgfalt die der meisten Wiener Theater übertreffen, muß fühlen, daß sich hier Kräfte regen, welche zu neuen, nicht geahnten Möglichkeiten führen. 

Aber nicht nur für einen jüdischen Theaterstil sind in Wien Entfaltungsmöglichkeiten gegeben, sondern gerade hier besteht die Möglichkeit, dem jüdischen Theater ein Publikum zu schaffen, welches es braucht. Für das althergebrachte Theater hat der Jude nicht allzu viel Verständnis. Der Jude der starren Tradition kann es nicht haben. Wien ist aber jüdisch unbefangener, es ist heute Kreuzungspunkt der Juden, welche jüdisches Wesen in neuen Formen erfassen wollen, und derjenigen, welche die alten Formen mit neuem Leben zu erfüllen bestrebt sind. Daraus ergeben sich nicht nur die Grundlagen für neue Formen jüdischen Theaters, sondern auch für ein neues jüdisches Publikum, das für eben diese neuen Formen empfänglich ist und mit dessen Hilfe sie weitergebildet werden können. Das jüdische Theater im allgemeinen braucht ein Publikum. Es hat es noch nicht. In Wien kann ein jüdisches Theater, wenn es, wie die „Freie Jüdische Volksbühne“, so ungeahnte neue Perspektiven der Entwicklung jüdischen Wesens bietet, sich ein Publikum schaffen. Ja, es ist Pflicht aller, die die Entwicklung neuen jüdischen Wesens wollen, für solches Theater Publikum zu sein. Denn sie finden darin Angelpunkte für das, wonach sie streben. Und ein wirklich interessiertes Publikum wird den neuen Stil des jüdischen Theaters, der hier so glücklich angebahnt wurde, weiterführen zu neuen schöpferischen Möglichkeiten. 

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In: WMZ, 11.7. 1920, S. 4

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Tran-skription

Es ist möglich, daß die gültige Gestaltung einer im Fluß befindlichen Zeit durch den Roman an den Schwierigkeiten der Distanzierung scheitert; es ist auch möglich, daß dazu, um tatsächlich ein gültiges jüdisches Zeitbild zu geben, eine ganz außerordentliche Persönlichkeit gehört, welche mit naturwissenschaftlich-analytischer Begabung eine sozusagen gottgebundene seelische Intuitionskraft verbindet. Mag diese Charakteristik eines

jüdischen Dichters auch übertrieben erscheinen, Mendele Mocher Sforim scheint diese Persönlichkeit gewesen zu sein. Ihm ist es auch gelungen, ein Bild jüdischer Zeit gültig zu gestalten, indem er in seinen Romanen, welche eigentlich im Sinne der europäischen Ästhetik keine Romane find, geradezu unumstößlich das jüdische Leben, wie es sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im jüdischen Osten abspielte, künstlerisch geformt hat.

Dabei ist zu bemerken, daß Mendele Mocher Sforim diese Gestaltung eines jüdischen Zeitbildes schuf, als eigentlich die Wesenheiten, welche er darstellte, im Fluß der Ereignisse bereits ins Wanken geraten waren. So hat er in einer gewissen distanzierenden Projektion sein künstlerisches Werk — allerdings mit der zauberhaften Kraft einer Persönlichkeit — getürmt. All dies suchen wir bisher in den künstlerischen Darstellungen, welche sich mit dem jüdischen Bilde des Westens befassen, vergebens. Vielleicht liegt es daran, daß im jüdischen

Westen die Kulturkontinuität bereits unterbrochen ist und weil die Bemühungen, welche in den letzten zwei Jahrzehnten vom jüdischen Westen gemacht werden, um sozusagen den Anschluß an die jüdische Kulturkontinuität wiederzufinden, bisher etwas Wesenhaftes nicht gezeitigt haben. Daher haben bis jetzt — die vielen kleinen, von etwas Tendenz getragenen Romanproduktchen kommen nicht in Betracht — die Formungen jüdischen Zeitlebens in den Westländern, insbesonderheit in den jüdischen Metropolen Westeuropas, wie etwa die Werke Max Brods oder die Schöpfungen Schnitzlers, welche in das jüdische Gebiet hineinragen, die jüdische Gestaltung in Wassermanns erstem Roman, von den noch kleineren Geisterchen ganz zu schweigen, stets an einer Krankheit gelitten, die wohl am klarsten als Mangel an jüdischer Persönlichkeit und Mangel an distanzfähiger kultureller Einheitlichkeit zu diagnostizieren ist. Dadurch erhalten alle diese Erzeugnisse, selbst die Erzählungen des heute fast vergessenen, jedoch in seiner künstlerischen Reinheit und seinem starken Ethos die schriftstellernden Juden der letzten dreißig Jahre turmhoch überragenden J. J. David, wo sie an Jüdisches rühren, stets etwas Quälendes und Gequältes.

Umso größer daher die Überraschung, in einem jüngst erschienenen jüdischen Zeitroman von Sammy Gronemann*[1]) welcher das jüdische Leben Berlins in einem Spiegel fangen will, Ansätze zu sehen, welche gerade aus dieser quälenden Manier durch irgendetwas Befreiendes hinauszuführen geeignet sind. Der umfangreiche Roman, Tohuwabohu betitelt, deutet mit dieser Bezeichnung schon an, daß es dem Dichter gewissermaßen um die Erfassung des wirren Chaos geht, in welchem das jüdische Leben zwischen Berlin und einem russischen Judenstädtchen flutet, das wie alle die posenschen, westrussischen und westpolnischen Kleinstädtchen ebenso als jüdischer Vorort Berlins zu betrachten ist, wie etwa die mährischen Kleinstädtchen und die galizischen Judenorte als der jüdische Vorort Wiens im Sinne einer stetigen Speisung dieser Großstädte mit jüdischem Wesen aus diesen Vororten anzusehen sind.

Alle möglichen Typen, Getaufte, Baldgetaufte, Schinkenorthodoxe, Orthodoxe mit den neuesten Errungenschaften deutscher Technik, Schnorrer, Schwindler, liberale und feudale Juden, Zionisten und allerlei dem jüdischen Betrieb Deutschlands und seinem stetigen östlichen Zustrom entnommenes Gewese führt einen wirren Reigen auf. Es wird viel mit dem altbewährten Rezept der Schwarz-Weiß-Zeichnung gearbeitet, noch mehr debattiert und manches, was in wenigen Strichen das Schicksal eines Stückes Judenheit prägen würde, wird durch rhetorische Längen und ein wenig sentimentale Problematik verkleinert. Nichtsdestoweniger herrscht in diesem Tohuwabohu doch irgendein Geist, von dem trotz mancher bereits bekannten sozusagen neuwestjüdischen Witzschablone doch manches Anziehende zu verspüren ist. Es ist dsr Geist des Allesbegreifens, aus dem in gerader Linie die Humore fliehen, mit welchen dieses jüdische Chaos, das in Berlin herrscht, begriffen sein muß, soll nicht die Verzweiflung über diese Wirrnis lähmen. Im Hintergrund dieser Humore, die Sammy Gronemann, seit je ein trefflicher Stütze judischen Witzes, in den ein Gran Berlinertum gemischt ist, leuchten läßt, steht ein Bewußtsein: das der unzerstörbaren jüdischen Kraft. Dieser Sinn gibt dem Humor Gronemanns in seinem Buch etwas Befreiendes, was fortführt von den selbstzerfleischenden Quälereien dieser jüdischen Zeit im Westen, einer Zeit, die nicht Übergang zur seelischen Synthese ist wie im Osten, sondern Übergang zur jüdischen Denkanalyse.

Darum ist das Buch Gronemanns, mag es auch in der Konzeption trotz seines Umfanges etwas episodenhaft geraten sein, dennoch ein Werk, das verheißungsvoll ist; es läßt hoffen, daß Gronemann, dessen Humore irgendwie die Möglichkeit zeigen, zu distanzieren, jüdisch-künstlerisch wohl noch etwas zu sagen haben wird. Es ist nie zu spät…


[1] Orig.FN: Sammy Gronemann: „Tohuwabohu“, 1920, Welt-Verlag, Berlin.