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[Text des Vortrags am Festabend der Bar Kochba am 22.1.1909 in Prag, Teil 1]

Als die Veranstalter dieses Abends mich fragten, über welches Thema ich sprechen will, sagte ich ohne Besinnen: Ueber den Abfall vom Judentum. Ich dachte, jetzt werde ich endlich sagen können, was ich auf dem Herzen habe, werde mich endlich über diese Dinge aussprechen können, die mir so viel Ekel, Verdruß, Beschämung bereitet haben. Je näher aber der Abend kam, desto deutlicher und ängstlicher kam es mir zu Bewußtsein, daß es sehr schwer ist, über den Abfall vom Judentum zu sprechen; das ist eine so persönliche Angelegenheit und in allen ihren Zusammenhängen so empfindlich, daß man eigentlich nur mit jemand darüber sprechen kann, mit dem man sehr intim ist. Wie soll ich da, in einer fremden Stadt, vor fremden Menschen darüber sprechen? Es besteht die Gefahr, daß in meine Rede ein entsetzlicher Ton von Vertraulichkeit kommt, den Sie vermutlich nicht wollen und den ich bestimmt nicht will. Zunächst werde ich also nicht sagen, was ich auf dem Herzen habe. Man kann ja auch das persönliche, augenblickliche und aktuelle bei dieser Frage vollständig beiseite lassen.

              Wichtig ist nur, ob der Abfall vom Judentum für das Judentum selbst etwas bedeutet, ob er ein Symptom für den Zustand des Judentums ist, oder nur ein Symptom für den Zustand einzelner Juden. Es ist natürlich beides der Fall. Aber dieser Abfall hat seine Gründe, die so wenig tief gehen und so an der Oberfläche sitzen, daß man sie aufzeigen muß. Ich habe einen Freund, der getauft ist – heutzutage hat jeder einen Freund, der getauft ist – und so oft wir beisammen sind und diese ruhmvolle Angelegenheit in seinem Leben gestreift wird, vermag ich es nicht zu verbergen, daß ich darüber noch immer nicht hinweggekommen bin; und dann lächelt er und sagt; „Wie kann man nur ein aufgeklärter und moderner Mensch sein und sich über die Taufe nicht hinwegsetzen!“  Ich aber muß ihm dann immer antworten: „Wie kann man ein aufgeklärter und moderner Mensch sein, und sich taufen lassen?“ Dieses Gespräch deckt einfach ein Mißverständnis auf. Der eine glaubt, er sei vollständig aufgeklärt und modern, wenn er sich taufen läßt, und der andere, weil er die Taufe perhorresziert.

              Es fragt sich eben, ist man modern, wenn man die Nützlichkeiten der Epoche spürt und ihnen folgt? Die Nützlichkeiten sind nicht immer die Notwendigkeiten; schon die Verwechslung ist fatal, wie sehr hereingefallen ist aber einer, der etwas für Nützlichkeiten hält, was dann gar nichts nützt.

              In welchen Schichten der Bevölkerung spielen sich nun diese Gespräche ab? Immer in der gesellschaftlichen Oberschicht, immer unter den wirtschaftlich Fortgeschrittenen. Taufen läßt sich jemand, der auf einem Punkte der inneren und äußerlich erkennbaren Kultur angelangt ist, wo er das Bedürfnis nach einem festen Boden in sich spürt. Diese Menschen fühlen: „Ich lebe in einer Kultur, aber ich fühle mich nicht eingewurzelt, ich – bin  ein Jude. Aber ich brauche einen festen Boden und suche Wurzeln zu schlagen.“ Das sucht nuin den Boden anderer Leute und wird zurückgewiesen; das will Wurzel schlagen und der Boden weigert sich die Wurzeln aufzunehmen. Das ist ein so beschämendes Gefühl, wie es nur ein Gärtner empfindet, der einen dürren und tückischen Boden bebaut, der ihm alle Keime vernichtet. Das Gefühl der Verlegenheit über etwas, was nicht gelingt, was immer daneben geht.

              Woher kommt nun der immer steigende Drang, vom Judentum abzufallen, und die Idee, man könne das Judentum loswerden, wie man aus einer Elektrischen aussteigen kann? Das kommt von dem Tage her, an dem wir eben emanzipiert wurden. Kaum hundert Jahre also ist es her, ungeheuer wenig in unserer Zeit, die so rasch vorwärtsstürmt, gegen unsere Jahrtausende lange Geschichte gehalten weniger als nichts. Wir sind eigentlich erst seit ein paar Stunden emanzipiert. Stellen Sie sich nun ein Volk vor, das nach einem Druck von 15 Jahrhunderten, voll unglaublicher Grausamkeit, das nun plötzlich entschnürt wird, plötzlich die Möglichkeit hat, in die Gesellschaft einzutreten. Es ist unmöglich, sich ein Volk vorzustellen, das nach diesem Druck noch existiert, geschweige denn ein Volk, das noch zu einer Kulturleistung fähig wäre. Stellen Sie sich aber ein Volk vor, das diesen Augenblick erlebt. Es ist nicht nur das größte Erlebnis dieses Volkes, es ist das größte Erlebnis, das man sich überhaupt ausdenken kann.

Vergegenwärtigen Sie sich die Stimmung der ganzen Zeit. Das Weltmotto war: Alle Menschen werden Brüder. Die Zeit, in der die Worte geschrieben wurde: Unser Schuldbuch sei vernichtet, diesen Kuß der ganzen Welt. Kosmopolit war das Wort der Mode. Unter den Klängen, unter diesen Hymnen schritt das Judentum aus dem Ghetto heraus. Die Juden haben zunächst wirklich daran geglaubt: Von jetzt ab werden alle Menschen dasselbe Recht haben. Für diese Befreiung glaubten sie sich nicht anders bedanken zu können, als indem sie alle ihre besonderen Merkmale verwischten, versteckten und aufgaben. Denken Sie sich einen Menschen, der jahrelang im Souterrain gewohnt hat, der meine Treppe gekehrt hat; und nun sage // ich eines Tages, der Mann ist ein Mensch wie ich, er hat dasselbe Recht wie ich; von heute an kommst du in meinen Salon. Sowie er hereinkommt, wird er sich in diesem Milieu unsicher, dumm und in mancher Beziehung lächerlich benehmen, er wird höchst ungeschickt sein. Entweder indem er einfach gesteht: ich kann mich nicht hineinfinden. Oder es beherrscht ihn der Wunsch: man soll mir’s nicht anmerken. Und das war die Situation der Leute, die aus den Gassen kamen, wo man es ihnen eben immer angemerkt hat. Sie haben Eigenschaften entwickelt, die der momentanen Verlegenheit entsprangen, und mit dem uns gegenüber gebräuchlichen Wohlwollen sagte man: das sind spezifisch jüdische Eigenschaften. Und wir selber glauben an dieses Wort und nehmen Reißaus mit einer Feigheit und einer Pünktlichkeit, wo wir jüdische Eigenschaften sehen, wie man nicht vor dem Satan flüchten kann. Dabei ist es für mich klar, aber vielleicht auch für Sie, und ich habe überhaupt nicht die Ambition Sie zu überzeugen, man kann überhaupt nicht überzeugen: Sie hören zu und dann geht jeder weg und denkt sich wieder das Seine, wie ich mir das meine denke. Für mich ist es einfach ergreifend, wie die Juden, den Liberalismus aufgenommen und ihren Söhnen und Enkeln übergeben haben. Sie haben es einfach in ihrem Zartgefühl vermeiden wollen, daß die ehemaligen Bedrücker an die peinliche Geschichte erinnert werden, daß sie einmal Bedrücker gewesen sind. Das ist wieder ein Beispiel für die „spezifisch jüdische“ Rachsucht. Wenn der Gegner, der uns fünfzehn Jahrhunderte geknechtet und getreten, auf allen Straßen gepeitscht und für fünfzig Gulden erschlagen hat, wenn der uns endlich losläßt, ist unser einziger Gedanke: ihn nur nicht daran erinnern!

Auf diesen Grundlagen basiert der Liberalismus, der heute Judenliberalismus geschimpft wird. Und die Juden haben sich für verpflichtet erachtet, diese Bedingung zu erfüllen und haben mit einer, beinahe möchte ich sagen „deutschen“ Treue daran festgehalten. Aber die Sache hat nicht gestimmt. Man kann nicht aus dem Judentum aussteigen wie aus einer Elektrischen. Und man kann nicht verlangen, daß ein Volk, daß Völker, die Jahrhunderte lang im Juden den Menschen zweiter Güte gesehen haben, vertragen, daß der Mann sich so benimmt, wie wenn der Mann gleich wäre. Das ist doch so natürlich. Denken Sie doch nur einmal an den Mann im Souterrain. Es ist all das eingetreten, was heute als Antisemitismus bezeichnet wird. (Doch darüber will nicht reden).

Und drei Geißeln haben uns überall entgegengehoben, drei Worte, unter denen jeder Jude in der Seele zusammenzuckt: Die Befreiung aus dem Ghetto, für die wir danken müssen, wie freigelassene Sklaven und dann: „ihr genießt Gastrecht“ – und das rief man immer gerade dann, wenn die Juden etwas bezeugt hatten, was ehrlicher, blutiger Patriotismus war; und endlich: „wir haben Euch die Kultur geschenkt.“ Hier sei eingeschaltet. Es gibt doch Juden, die etwas der Welt zu sagen haben, und so Wichtiges, daß sie es sagen müssen; und nun heißt es: du darfst reden, aber erst mußt du aufhören, Jude zu sein. Es gibt tausend Beispiele. Gustav Mahler hätte nie in die Oper kommen können, wenn er nicht den Umweg durch ein anderes Institut genommen hätte. Ich wollte das gar nicht lächerlich machen und meinte das gar nicht lustig. Daß Sie lachen, bringt mich auf die Geschichte Feilbogen. Sie war nur möglich, weil die Angehörigen unseres Volkes nach Rom gehen und dort nichts besseres zu sehen haben als den Hohepriester einer Religion, an die sie nicht glauben. Sie gehen in die Sixtina, mit der sie keine Zusammenhänge haben, aus Snobismus, weil sie glauben, daß es nobler ist, einen christlichen Priester zu sehen als einen jüdischen. Den Fall habe ich bis heute nicht verdaut, wie die ganze Judenheit geglaubt hat, sich wegen dieser Schweinerei entschuldigen zu müssen. Wir müssen uns nicht immer entschuldigen, wenn in einem Volk von acht Millionen einer eine Schweinerei macht.

*) Diese Rede wurde auch in der Zeitschrift Selbstwehr (Nr. 4/1910) abgedruckt (PHK).

 

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In: Jüdische Volksstimme, Brünn, 1.3.1909, S. 1-2

 

 

[Text des Vortrags am Festabend der Bar Kochba am 22.1.1909 in Prag, Teil 1]

Als die Veranstalter dieses Abends mich fragten, über welches Thema ich sprechen will, sagte ich ohne Besinnen: Ueber den Abfall vom Judentum. Ich dachte, jetzt werde ich endlich sagen können, was ich auf dem Herzen habe, werde mich endlich über diese Dinge aussprechen können, die mir so viel Ekel, Verdruß, Beschämung bereitet haben. Je näher aber der Abend kam, desto deutlicher und ängstlicher kam es mir zu Bewußtsein, daß es sehr schwer ist, über den Abfall vom Judentum zu sprechen; das ist eine so persönliche Angelegenheit und in allen ihren Zusammenhängen so empfindlich, daß man eigentlich nur mit jemand darüber sprechen kann, mit dem man sehr intim ist. Wie soll ich da, in einer fremden Stadt, vor fremden Menschen darüber sprechen? Es besteht die Gefahr, daß in meine Rede ein entsetzlicher Ton von Vertraulichkeit kommt, den Sie vermutlich nicht wollen und den ich bestimmt nicht will. Zunächst werde ich also nicht sagen, was ich auf dem Herzen habe. Man kann ja auch das persönliche, augenblickliche und aktuelle bei dieser Frage vollständig beiseite lassen.

              Wichtig ist nur, ob der Abfall vom Judentum für das Judentum selbst etwas bedeutet, ob er ein Symptom für den Zustand des Judentums ist, oder nur ein Symptom für den Zustand einzelner Juden. Es ist natürlich beides der Fall. Aber dieser Abfall hat seine Gründe, die so wenig tief gehen und so an der Oberfläche sitzen, daß man sie aufzeigen muß. Ich habe einen Freund, der getauft ist – heutzutage hat jeder einen Freund, der getauft ist – und so oft wir beisammen sind und diese ruhmvolle Angelegenheit in seinem Leben gestreift wird, vermag ich es nicht zu verbergen, daß ich darüber noch immer nicht hinweggekommen bin; und dann lächelt er und sagt; „Wie kann man nur ein aufgeklärter und moderner Mensch sein und sich über die Taufe nicht hinwegsetzen!“  Ich aber muß ihm dann immer antworten: „Wie kann man ein aufgeklärter und moderner Mensch sein, und sich taufen lassen?“ Dieses Gespräch deckt einfach ein Mißverständnis auf. Der eine glaubt, er sei vollständig aufgeklärt und modern, wenn er sich taufen läßt, und der andere, weil er die Taufe perhorresziert.

              Es fragt sich eben, ist man modern, wenn man die Nützlichkeiten der Epoche spürt und ihnen folgt? Die Nützlichkeiten sind nicht immer die Notwendigkeiten; schon die Verwechslung ist fatal, wie sehr hereingefallen ist aber einer, der etwas für Nützlichkeiten hält, was dann gar nichts nützt.

              In welchen Schichten der Bevölkerung spielen sich nun diese Gespräche ab? Immer in der gesellschaftlichen Oberschicht, immer unter den wirtschaftlich Fortgeschrittenen. Taufen läßt sich jemand, der auf einem Punkte der inneren und äußerlich erkennbaren Kultur angelangt ist, wo er das Bedürfnis nach einem festen Boden in sich spürt. Diese Menschen fühlen: „Ich lebe in einer Kultur, aber ich fühle mich nicht eingewurzelt, ich – bin  ein Jude. Aber ich brauche einen festen Boden und suche Wurzeln zu schlagen.“ Das sucht nuin den Boden anderer Leute und wird zurückgewiesen; das will Wurzel schlagen und der Boden weigert sich die Wurzeln aufzunehmen. Das ist ein so beschämendes Gefühl, wie es nur ein Gärtner empfindet, der einen dürren und tückischen Boden bebaut, der ihm alle Keime vernichtet. Das Gefühl der Verlegenheit über etwas, was nicht gelingt, was immer daneben geht.

              Woher kommt nun der immer steigende Drang, vom Judentum abzufallen, und die Idee, man könne das Judentum loswerden, wie man aus einer Elektrischen aussteigen kann? Das kommt von dem Tage her, an dem wir eben emanzipiert wurden. Kaum hundert Jahre also ist es her, ungeheuer wenig in unserer Zeit, die so rasch vorwärtsstürmt, gegen unsere Jahrtausende lange Geschichte gehalten weniger als nichts. Wir sind eigentlich erst seit ein paar Stunden emanzipiert. Stellen Sie sich nun ein Volk vor, das nach einem Druck von 15 Jahrhunderten, voll unglaublicher Grausamkeit, das nun plötzlich entschnürt wird, plötzlich die Möglichkeit hat, in die Gesellschaft einzutreten. Es ist unmöglich, sich ein Volk vorzustellen, das nach diesem Druck noch existiert, geschweige denn ein Volk, das noch zu einer Kulturleistung fähig wäre. Stellen Sie sich aber ein Volk vor, das diesen Augenblick erlebt. Es ist nicht nur das größte Erlebnis dieses Volkes, es ist das größte Erlebnis, das man sich überhaupt ausdenken kann.

Vergegenwärtigen Sie sich die Stimmung der ganzen Zeit. Das Weltmotto war: Alle Menschen werden Brüder. Die Zeit, in der die Worte geschrieben wurde: Unser Schuldbuch sei vernichtet, diesen Kuß der ganzen Welt. Kosmopolit war das Wort der Mode. Unter den Klängen, unter diesen Hymnen schritt das Judentum aus dem Ghetto heraus. Die Juden haben zunächst wirklich daran geglaubt: Von jetzt ab werden alle Menschen dasselbe Recht haben. Für diese Befreiung glaubten sie sich nicht anders bedanken zu können, als indem sie alle ihre besonderen Merkmale verwischten, versteckten und aufgaben. Denken Sie sich einen Menschen, der jahrelang im Souterrain gewohnt hat, der meine Treppe gekehrt hat; und nun sage // ich eines Tages, der Mann ist ein Mensch wie ich, er hat dasselbe Recht wie ich; von heute an kommst du in meinen Salon. Sowie er hereinkommt, wird er sich in diesem Milieu unsicher, dumm und in mancher Beziehung lächerlich benehmen, er wird höchst ungeschickt sein. Entweder indem er einfach gesteht: ich kann mich nicht hineinfinden. Oder es beherrscht ihn der Wunsch: man soll mir’s nicht anmerken. Und das war die Situation der Leute, die aus den Gassen kamen, wo man es ihnen eben immer angemerkt hat. Sie haben Eigenschaften entwickelt, die der momentanen Verlegenheit entsprangen, und mit dem uns gegenüber gebräuchlichen Wohlwollen sagte man: das sind spezifisch jüdische Eigenschaften. Und wir selber glauben an dieses Wort und nehmen Reißaus mit einer Feigheit und einer Pünktlichkeit, wo wir jüdische Eigenschaften sehen, wie man nicht vor dem Satan flüchten kann. Dabei ist es für mich klar, aber vielleicht auch für Sie, und ich habe überhaupt nicht die Ambition Sie zu überzeugen, man kann überhaupt nicht überzeugen: Sie hören zu und dann geht jeder weg und denkt sich wieder das Seine, wie ich mir das meine denke. Für mich ist es einfach ergreifend, wie die Juden, den Liberalismus aufgenommen und ihren Söhnen und Enkeln übergeben haben. Sie haben es einfach in ihrem Zartgefühl vermeiden wollen, daß die ehemaligen Bedrücker an die peinliche Geschichte erinnert werden, daß sie einmal Bedrücker gewesen sind. Das ist wieder ein Beispiel für die „spezifisch jüdische“ Rachsucht. Wenn der Gegner, der uns fünfzehn Jahrhunderte geknechtet und getreten, auf allen Straßen gepeitscht und für fünfzig Gulden erschlagen hat, wenn der uns endlich losläßt, ist unser einziger Gedanke: ihn nur nicht daran erinnern!

Auf diesen Grundlagen basiert der Liberalismus, der heute Judenliberalismus geschimpft wird. Und die Juden haben sich für verpflichtet erachtet, diese Bedingung zu erfüllen und haben mit einer, beinahe möchte ich sagen „deutschen“ Treue daran festgehalten. Aber die Sache hat nicht gestimmt. Man kann nicht aus dem Judentum aussteigen wie aus einer Elektrischen. Und man kann nicht verlangen, daß ein Volk, daß Völker, die Jahrhunderte lang im Juden den Menschen zweiter Güte gesehen haben, vertragen, daß der Mann sich so benimmt, wie wenn der Mann gleich wäre. Das ist doch so natürlich. Denken Sie doch nur einmal an den Mann im Souterrain. Es ist all das eingetreten, was heute als Antisemitismus bezeichnet wird. (Doch darüber will nicht reden).

Und drei Geißeln haben uns überall entgegengehoben, drei Worte, unter denen jeder Jude in der Seele zusammenzuckt: Die Befreiung aus dem Ghetto, für die wir danken müssen, wie freigelassene Sklaven und dann: „ihr genießt Gastrecht“ – und das rief man immer gerade dann, wenn die Juden etwas bezeugt hatten, was ehrlicher, blutiger Patriotismus war; und endlich: „wir haben Euch die Kultur geschenkt.“ Hier sei eingeschaltet. Es gibt doch Juden, die etwas der Welt zu sagen haben, und so Wichtiges, daß sie es sagen müssen; und nun heißt es: du darfst reden, aber erst mußt du aufhören, Jude zu sein. Es gibt tausend Beispiele. Gustav Mahler hätte nie in die Oper kommen können, wenn er nicht den Umweg durch ein anderes Institut genommen hätte. Ich wollte das gar nicht lächerlich machen und meinte das gar nicht lustig. Daß Sie lachen, bringt mich auf die Geschichte Feilbogen. Sie war nur möglich, weil die Angehörigen unseres Volkes nach Rom gehen und dort nichts besseres zu sehen haben als den Hohepriester einer Religion, an die sie nicht glauben. Sie gehen in die Sixtina, mit der sie keine Zusammenhänge haben, aus Snobismus, weil sie glauben, daß es nobler ist, einen christlichen Priester zu sehen als einen jüdischen. Den Fall habe ich bis heute nicht verdaut, wie die ganze Judenheit geglaubt hat, sich wegen dieser Schweinerei entschuldigen zu müssen. Wir müssen uns nicht immer entschuldigen, wenn in einem Volk von acht Millionen einer eine Schweinerei macht.

*) Diese Rede wurde auch in der Zeitschrift Selbstwehr (Nr. 4/1910) abgedruckt (PHK).

 

 

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In: Die Welt, 9, 3.3.1899, S. 14-15

Tran-skription

König David tanzte vor der Bundeslade einher. Er schlug die Harfe und sang die Psalmen dazu, die er zur Ehre Gottes gedichtet hatte. Er muss sehr schön getanzt haben, König David, sein Harfenspiel muss von besonderem Wohllaut gewesen sein, und seine Stimme mag wunderbar geklungen haben. Man spürt das alles aus jenen Psalmen heraus, welche heute noch übriggeblieben sind, wenn es sich nicht schon aus dem einzigen Umstand ergäbe, dass er all diese Productionen zur Ehre Gottes aufführte, was er sicherlich unterlassen hätte, falls er nicht so schön getanzt, gespielt und gesungen hätte, als er zu dichten verstanden. Er war der erste heitere König in Israel und der erste Jude, der durch künstlerische Begabung colossale Carriere machte. An ihm zuerst lernten die Juden jene unfassbare Macht kennen, welche von einer künstlerischen Persönlichkeit ausgeht. Wenn er als Jüngling die Harfe griff, entschwanden die düsteren Ahnungen aus dem Gemüthe des greisen Saul, wenn er sang oder seine jugendlichen Glieder im Tanze bewegte, ward der Trübsinn des alten Königs durch heitere Gewalten gebrochen. Sein Andenken bildete eine Tradition und organisch hätte sich daraus eine jüdische Schaubühne entwickeln können, wie sich die Schaubühne überall ent-//wickelte, wo Künstler als Gottesdiener auftraten und der Gottesdienst an die Künstler als Anreger und Schirmer appellierte. Allein es kamen nicht viele heitere Männer nach David, und als die lange, anderthalb Jahrtausende und darüber währende Unterbrechung des jüdischen Culturlebens eintrat, schlummerten dieses Gaben und wohl auch der Sinn für sie in der Wiege ein. Es war spät an der Zeit und im Abendlande, als sie wieder erwachten. 

            Unermeßlich waren die Eindrücke, welche auf die Juden einstürmten, als sie das Ghetto verlassen und theilnehmen durften an allen Arbeiten der Cultur. Wie von einem riesigen Wirbel mussten ihre Triebe sich erfasst fühlen, ihre Instincte und Talente. Ich glaube, es ist unmöglich, dass sie damals das richtige Bewusstsein ihrer Besonderheit, die wahre Abschätzung ihrer eigenen Werte haben konnten. Sie mussten ja, als die Parvenus einer geistigen und leiblichen Freiheit, alle anderen verehren, die immer ihre Herren gewesen, die jetzt ihre Lehrmeister waren, und sie waren damals leicht irre zu machen an den eigenen Fähigkeiten. Man sprach ihnen den inneren Beruf zur Kunst ab, noch sie sich recht erprobt hatten, und man fuhr fort, ihnen diesen Beruf abzusprechen, als sie schon Proben zu liefern begonnen. Aber da merkten sie bereits die Gehässigkeit und waren auch schon urtheilsfähiger. Freilich, ihre Besinnung erlangten sie erst nach und nach. Aber worauf sie sich etwa beziehen konnten, wie weit lag das alles zurück, wie weit war das, als als ein jüdischer König vor der Bundeslade tanzte, als Israel der Lehrmeister der Völker gewesen. Ihr Adel war gar zu alt, um sie jetzt noch vor dem Parvenu bewahren zu können. Er galt nichts, da er nach Jahrtausenden rechnete, wo die Welt nur mit Jahrhunderten zu hantieren gewohnt war. 

            Die orientalische Lust am Scheine trieb die Juden zum Theater. Hier, in dieser Welt der Vorstellungen, in diesem Carneval sinnreicher Verkleidungen, durften sie den Juden ablegen. Auf den Brettern durften sie vollends aus dem Ghetto herausschreiten und einziehen in alle Reiche, deren Grenzen ihnen bisher versperrt gewesen. Das Theater war eine sinnvolle Befreiung aus langer Abgeschlossenheit. Seine Heiterkeit weckte alle heiteren Gefühle in diesem greisen, umdüsterten Volke, seine Leidenschaft nahm alle die Vehemenzen auf, die in dieser glutäugigen, heißblütigen Rasse gefangen tobten. Sie nahmen die Harfen, so da hingen an den Weiden zu Babylon, und konnten wieder singen, wieder tanzen. Dawison heißt der erste jüdische Schauspieler, beziehungsreich mit Namen, welcher auf der deutschen Bühne großen Ruhm erworben. 

            Kaum mehr als ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen, und die Juden haben der deutschen, der französischen und englischen Bühne viel bedeutende Künstler gegeben. Tragische und komische Sänger und Sängerinnen. Ob sie das Theater wesentlich beeinflußt haben? Ich glaube nicht: gewiss nicht als Juden. Denn das Theater ist eine durchaus nationale Anstalt, und die Grundzüge seines Wesens sind durch unumstößliche Gesetze bestimmt. Sicher haben sie ihm Elemente zugebracht, die der Schauspielkunst gelegentlich ein tieferes, wohl auch ein grelleres Colorit verliehen. Sie haben nach der sinnlichen, wie nach der mystischen Seite hin, sehr stark gewirkt. Die Sinnenlust der Juden, die wir ganz ruhig eingestehen können, hat Liebesscenen dunkler gefärbt, große classische Tragödien bekamen durch sie einen wuchtigen Zug ins Dämonische. Ihr Temperament suchte alle aufwühlenden und hinreißenden Mächte, um sich völlig auszuleben, und brannte desto heller, je leidenschaftlichere Empfindungen der Gestaltung harrten. Sie haben sich grüblerisch in geheimnisvolle Seelen versenkt, haben Gedankenspuren bis in unheimliche Tiefen verfolgt, und sind auf den Pfaden des Humors in einigen, wirklich neuen Gangarten einhergeschritten. Ihren tatsächlichen Einfluss auf die Bühne, das, was heute nach kurzen sechzig Jahren jüdischer Schauspielerei als die „Verjudung des Theaters“ ebenso schmeichelhaft als fälschlich ausgerufen wird, möchte ich unerörtert lassen. Ich glaube, dass dieser Einfluss vorläufig noch gering ist. Nur den Wurzeln der jüdischen Begabung sei hier nachgespürt, soweit sie nicht dort haften, wo überhaupt menschliche Begabung keimt. 

            Was die Juden so sehr zum Theaterspielen befähigt, ist das Resultat eines unermesslich langen Außenstehens und Beobachtens. Der Atavismus, welchen die modernen Juden besitzen, ist die lange Kritik des Zuschauers. Sie sind Zuseher gewesen, bevor sie Theilnehmer sein durften am allgemeinen Weltleben, und sie haben mit den scharfen Augen des Unterdrückten beobachtet, mit der beständig gereizten, immer paraten Aufmerksamkeit des Misshandelten Kritik geübt. Diese Kritik hat sich durch die Beweglichkeit der Juden bis zur Productivität gesteigert. Selbst da, wo bereits wirkliche, künstlerische Gestaltungskraft waltet, kann man diese atavistische Kritik noch wie eine leise mitsummende Unterstimme heraushören. Man kann es wahrnehmen, wie sie in das innerste Wesen der darzustellenden Menschen sich eingebohrt hat, wie sie diese Menschen enthüllt, analysiert, und man merkt ihr immer – je nach den Figuren – die Liebe, die Verachtung oder den Spott des einstigen Zusehers an. Der jüdische Hohn, gefürchtet und original, wie einst im Alterthume die Ironie der Aegypter, hat auf der Bühne wirklich neues geschaffen. Dieser furchtbare Witz, der mit einer Grausamkeit und einem Ungestüm verfährt, als wolle er Vergeltung üben. Dieser Spott, der alle Schwächen und Lächerlichkeiten aus den heimischen Verstecken aufspürt, hat immer überrascht und überwältigt. In ihm sprudelt diese langverhaltene Kritik hervor, welche die Juden an allen Zuständen, an allen Völkern und an sich selbst am schärfsten geübt haben. Er ist unangreifbar, denn er ist stets bereit, sich selber aufzugeben, ja er scheint aus tiefen Traurigkeiten emporzukommen und nur, wie im Rausche des Augenblickes, befähigt, seine tausendfältigen Verwandlungen zu durchjagen. Die jüdische Phantasie ist sein Gegengewicht. Sie ist die große Erregerin jüdischer Schauspielerei. Diese Phantasie, die lange in finsteren Stücken geträumt, die gesättigt ist von den herrlichen Wundern der Vorzeit, angefeuert von dem unerreichbaren Glanze der Mitwelt, melancholisch durch ihre Sehnsucht nach lichten Höhen, auf welchen Juden nicht geduldet wurden, bildet und formt nun im jüdischen Schauspieler ihre Dichtungen. Sie macht ihn zum Kaiser, zum Helden, zum Weltmanne, sie gewährt ihm die Erfüllung aller Wünsche, nach denen die Menschlichkeit der Juden trachtet. Das Theaterspielen der Juden ist mehr noch als jede ihrer Kunstausübungen von Nachahmung frei. Es ist ihnen organisch, und die national-jüdischen Theater, die von Galizien bis nach Amerika überall entstehen, zeigen an, wie sehr diese Kunst aus einer wahrhaften Volksthümlichkeit bei ihnen entsteht. Was ihnen eigenthümlich bleibt, wo immer sie auch spielen, was immer sie auch verkörpern, ob sie tragisch oder lustig, ernst oder höhnisch auftreten, immer ist es der tausendjährige Schmerz des Judenthums, den sie agieren, Er haftet an ihren traurigen und an ihren fröhlichen Mienen, und ist kenntlich von Hamlet an bis zum Simon Dalles in der Klabriaspartie.

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In: Die Welt, 17.2.1899, S. 14-15

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Die Leute, welche zum Zwecke ihrer agitatorischen Statistik alle jüdischen Schauspieler und Autoren verbuchen und beständig über die Verjudung des Theaters Klage führen, werden nicht widersprechen können, wenn man den Juden einen beträchtlichen Antheil ab der heutigen Lebendigkeit des Bühnenwesens zuspricht. Eigentlich müssen diese Leute noch mehr davon wissen als wir Juden, da wir nicht so aufpassen. Die Schaubühne ist im Grunde eine Angelegenheit des Temperaments. Zuhören ist eine Temperamentsäußerung, wie Theaterspielen und Stückeschreiben. Inwieferne die Juden durch ihre Veranlagung und durch eigenthümliche Begabungen sich zum Theater activ und passiv hingezogen fühlen, möchte ich heute nicht erörtern. Es wäre vieles darüber zu sagen, und die Gelegenheit dazu findet sich wohl bald. Auch die Frage, wie viele oder wie wenig Verdienste sie sich um die Schauspielkunst erworben haben, lasse ich einstweilen unberührt. Ich will nur bekräftigen, was die Antisemiten behaupten: jawohl, die Juden gehen fleißiger und eifriger ins Theater als andere Leute; die Juden schreiben Stücke, componieren Opern, und einige von ihnen sind dadurch sogar berühmt geworden; sie sind Schauspieler, manchmal sogar große Schauspieler, Directoren, Dirigenten, kurz alles Mögliche. Das ist nun einmal nicht zu leugnen. Man muss sogar zugestehen, dass es den Juden beim Theater sogar besser ergangen ist als in anderen Berufszweigen. Ihre Abkunft und ihre Religion hat hier ihre Carriere selten behindert, sie konnten – immer alle sonst erforderlichen Qualitäten vorausgesetzt – zu den höchsten äußeren Ehren dieses Berufs gelangen. Beispiele braucht man nicht anzuführen. 

            Heute beginnt das schon schwieriger zu werden. Wenn man ein bisschen nachdenkt, muss es einem auffallen, dass in den letzten fünfzehn Jahren kein jüdischer Schauspieler so recht in die Höhe gekommen ist, wie früher. Die Autoren allerdings haben inzwischen bessere Tage gesehen, aber diese hängen ja zumeist von spontanen Volksbeschlüssen ab. Im internen Bühnenleben jedoch haben die Juden in der letzten Zeit mehr und mehr zu kämpfen. Die einfache Umfrage bei den Theateragenturen würde den Unterschied ergeben, um wie vieles leichter jüdische Schauspieler ehemals zu placieren waren. Man könnte bei dieser Gelegenheit erfahren, dass es zahlreiche Städte gibt, deren Theaterdirectoren das Engagement jüdischer Schauspieler von vornherein refusieren, theils mit Rücksicht auf die Gesinnung der Bevölkerung, theils auch wegen ihrer persönlichen Abneigung gegen die Juden. Ferner würde man hören, wie viele jüdische Schauspieler schon am Beginne ihrer Carriere auf Zureden des Agenten ihren Glauben wechseln, um soviel als möglich von den Folgen dieses Geburtsfehlers befreit zu sein. Der Antisemitismus beim Theater ist eben nicht mehr neu. Vielleicht ist er älter als die politisch organisierte Judenfeindschaft. Er datiert genau von da an, wo die Juden ihre ersten großen Bühnenerfolge hatten, als „die Verjudung des Theaters begann“, wie der Parteijargon sagen würde.

            Wie nirgendwo sonst herrscht beim Theater ein beweglicher, durch Neid, Ehrgeiz und Eitelkeit angefeuerter Wettbewerb der Talente. Dass man die Juden hinter den Coulissen so bitter hasst, ist vielleicht das größte Compliment, welches ihren Fähigkeiten gemacht werden kann. Aber der Antisemitismus beim Theater ist auch intensiv, erbittert und wüthend, wie nirgends sonstwo. Nicht allein, weil man dort leidenschaftlicher empfindet, sondern weil man ihn zu verheimlichen vielfacht genöthigt ist. Es spielen da allerlei Rücksichten mit, auf das Publicum, die Presse und andere wichtige Factoren. Die jüdischen Theater-Enthusiasten würden erschrecken, wenn man ihnen unter den Künstlern diejenigen nennen wollte, welche als Antisemiten excellieren. Und die jüdischen Banquiers, die sich darum reißen, beliebte Schauspieler zu bewirten und mit Geschenken überhäufen zu dürfen, die sich nicht genug thun können, ihre Lieblinge vom Theater auf das Freigebigste aus allerlei Nöthen zu erlösen, wären entsetzt, wenn sie ihre Schauspieler einmal untereinander könnten reden hören.

            Jetzt aber beginnen auch beim Theater die Zeiten, in welchen der Antisemitismus unverhohlener hervortritt. Man schickt sich auch hier an, die Juden ganz offenkundig und programmmäßig zu unterdrücken. Die Hintertreppen-Intrigue, die einstmals zu solchen Zwecken verwendet wurde, ist jetzt überflüssig geworden. Man kann aus dem Vollen schöpfen, man kann System in die Sache bringen. Dass der Anfang hierzu in Wien gemacht wurde, ist bekannt. Der wichtigste Programmpunkt des jüngsten Wiener Theaters ist die vollständige „Judenreinheit“. Aber aus geschäftlichen Rücksichten wird dieses Princip nicht ausgesprochen, vielmehr, wo es der Vortheil erheischt, unter der Hand, ganz im Vertrauen, geleugnet. Auch verlangt man von den Juden, die sich etwa zur schauspielerischen Mitarbeiterschaft anbieten, nur, dass sie sich taufen lassen. Den Autoren würde man auch gestatten, ungetauft vor die Rampen zu treten. Da ist denn ein Beschluss, welchen der Grazer Gemeinderath dieser Tage fasste, bemerkenswert. Dem neuen Pächter wurde aufgetragen, seine „arische Abstammung“ nachzuweisen, bevor er die Direction des Grazer Stadttheaters antrete. Wie sorgfältig die Grazer unter den Pachtbewerbern Musterung hielten, wie vorsichtig sie waren, zeigt, dass während der Sitzung Telegramme einliefern, in welchen der Gemeinderath verständigt wurde, dass der oder jener Petent Jude sei, worauf der der oder jener Petent sofort außer Betracht gestellt wurde. Die Ahnenprobe, welche die Stadt Graz von ihrem Theaterdirector fordert, hat natürlich einen etwas komischen Beigeschmack. Allein eine gewisse symptomatische Bedeutung kann man ihr nicht absprechen. Der Jude soll von jeglichem Antheile an irgendeiner Culturarbeit ausgeschlossen werden, auch der Sohn eines Juden, selbst der Enkel eines Juden, vielleicht auch der Neffe oder Vetter eines Juden. Man muss von reinster arischer Abkunft sein, wenn man ein Theater leiten will – in Graz vorläufig. Interessant bleibt es, dass der Antisemitismus in künstlerischen Angelegenheiten stark genug werden konnte, um die Frage // nach dem Talente völlig in den Hintergrund zu drängen. Man muss constatieren, dass es dem Juden absolut nichts nützt, Talent zu besitzen. Er kann ein Genie ersten Ranges sein und wird beim Theater nichts erreichen – in Graz vorläufig. Vorläufig allerdings nur in Graz. Die jüdischen Talente brauchen ja nicht nach Graz zu gehen, das ist wahr. Kommt es einmal auch in Wien so weit, dann können sie ja auch aus Wien auswandern. Je größer aber der Complex der Kunstsperre für die Juden wird, desto lebhafter wird dann die Frage für sie werden, wie sie sich aus diesem neuen Ghetto zu befreien haben. Man kann sie ausschließen von allen Gedankenarbeiten und von allem Kunstschaffen, aber weil man ihnen den Antrieb und die Fähigkeiten hierzu schließlich doch nicht nehmen kann, werden sie sich unmöglich in aufgezwungener Unthätigkeit bescheiden können. Wie dann die Expansivkraft ihrer Triebe sie aus den localen geistigen Fesseln einmal herausschleudern wird und wohin sie sich wenden werden, um ihre culturellen Instincte ausleben zu können, ist ein fesselnder Zukunftsgedanke. Vielleicht werden sie Graz im Gedächtnis behalten, wo das jüdische Talent bestraft wird bis ins vierte und fünfte Glied, als den Ort, der zuerst an Stelle des Befähigungsnachweises in künstlerischen Dingen die Ahnenprobe begehrte. 

➥ Zur Biographie: Felix Salten

In: Die Welt 9, 14.4.1899, S. 14-15

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➥ Zur Biographie: Salzberg Max

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 46 vom 18.11.1910, S. 1ff

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Es war an einem Donnerstag nach dem Markte. Die Bauern und die Händler, die sich den ganzen Tag zwischen den beladenen Wagen, Buden, Tieren und den mannigfaltigsten Waren rufend, schreiend, herumgetummelt hatten, zogen sich zurück. Mit ihnen verschwand auch der Lärm und nur der schwere, stickende Geruch, der aus den verödeten, schmutzigen Gassen aufstieg, verriet noch vom Leben und Treiben des Tages.

Es schlug Mitternacht; die trüben Petroleumlaternen wurden ausgelöscht und das Städtchen R. verschwand in der Dunkelheit. Die Knarren der Nachtwächter hallten in der Dunkelheit.

Nur bei David, dem Schneider, war noch Licht. Auf dem breiten Arbeitstisch, zwischen den Geräten, brannte die niedrige Blechlampe, die man noch häufig in Russisch-Polen sieht. Der bauchige Zylinder war stark eingeräuchert und oben ausgebrochen; darüber hing ein Stück gelbes Papier, das als Schirm diente.

Der greise Schneider saß gebückt über einer grauen Bauernkutte und nähte. Auf dem Kopfe trug er ein kleines Käppchen; seine in Eisendraht eingefaßte Brille, an einer Seite mit einem Bindfaden am Ohr befestigt, war bis zur Nasenspitze heruntergerutscht.

Es geschah oft genug, daß der alte David die Nacht von Donnerstag auf Freitag durcharbeitete. Doch diesmal schien er aus einem anderen Grunde zu wachen, denn langsam stach die Nadel in die graue Leinwand. Zuweilen legte er sogar die Arbeit in den Schoß, nahm das aufgeschlagene Psalmbuch, das neben ihm lag und überflog einige Seiten, mit den Augen diesmal über die Gläser hinwegschauend. Doch auch dabei blieb er nicht lange. Unwillkürlich, während seine Lippen langsam die heiligen Worte sprachen, richtete er seinen Blick nach dem kleinen Fenster und seine Gedanken wagten sich weit in die Dunkelheit hinaus. Sie irrten in unbekannte Gegenden, suchten und forschten, als verfolgten sie jemanden, bis ihn ein tiefer Seufzer aus seiner eigenen Brust aufweckte; dann setzte er das Nähen wieder fort.

Auch seine Frau, Lea, wachte. Sie saß auf der Bank neben dem Ofen und putzte eifrig die Messingleuchter, als ob sie heute gar nicht von sechs Uhr morgens bis zum Abend auf dem Markte gewesen wäre.

Eine Unruhe schien den ganzen Raum zu durchzittern. Die neue, weiße Gardine, welche die Stube in der Mitte teilte, das blitzernde Kupfergeschirr auf dem Regal vereinigten sich mit der Flamme der Lampe und füllten den Raum mit einem eigentümlichen, weichen, unbestimmten Lichte, in dem alles sein gewöhnliches Aussehen vertauscht in ein edleres, feierliches. Der Kater, der zusammengerollt auf dem Ofen schlief, fuhr zuweilen auf, sah sich um und sprang dann mit einem Satz auf den Boden; dort blieb er stehen, schaute nach der Tür und auf seinen Herrn, miaute und kletterte dann zurück auf seinen Platz. 1

So verstrich die halbe Nacht, ohne daß die beiden Alten ein Wort miteinander sprachen, und doch beschäftigte beide derselbe Gedanke. Beide bebten in derselben Ungeduld, beider Herzen begannen schneller zu schlagen, sobald sich das mindeste Geräusch hören ließ.

Sie erwarten ihren Jüngsten. Ein paar Tage vorher war ein Brief aus Berlin gekommen, in welchem Abraham mitteilte, daß er sein Studium beendet hätte und daß er zum Sonnabend nach R. kommen würde, um seine Eltern zu besuchen.

Der Apotheker, zu dem man den Brief hingetragen hatte, damit er die deutschen Wörter, die oben auf dem Briefbogen gedruckt waren, vorlese, sagte: Abraham sei ein Doktor, und dieses Wort machte die Armen Eltern schwindlig. Freilich, fügte der Apotheker noch das Wort „der Philosophie“ hinzu; sie verstanden ihn aber nicht, und was sollten sie auch damit. Ihr Kind ein Doktor! Mit Stolz sahen sie schon im Geiste, wie alle Kranken ihres Städtchens sich drängten; jeder will schneller an ihren Sohn herankommen und jeder segnet ihn laut und überschüttet auch sie mit tausend Wünschen.

David, der einst gehofft hatte, in seinen Sohn einen großen Rabbiner zu sehen, und der bisher noch immer einen Groll gegen ihn gehegt, weil er das Talmudstudium verlassen hatte, verzieh ihm jetzt und wartete ungeduldig, ihn endlich wieder in seine Arme schließen zu können. Endlich, bei Anbruch des Tages, hielt ein Wagen vor der Tür. Abraham war bei seinen Eltern.

Davids Gesicht verfinsterte sich, als er vernahm, daß Abraham kein Mediziner sei. Die Mitteilung zerstörte nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt aller Segenswünsche der Kranken zu sehen, sondern sie erweckte auch in ihm Zweifel und Sorgen. In der Nähe seines Kinder jedoch gelang es ihm, sie zeitweilig zu vergessen.

Die alte Lea war auch anfänglich betroffen, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn keine Kranken behandelte. Sie beruhigte sich jedoch bald. Sie sah ihr Kind in ihrem Hause und mehr brauchte sie nicht. Sie hörte ja wieder nach so langer Zeit den Namen „Mutter“, und begann ihr Atem zu stocken und ihre Lippen flüsterten leise: „Mein Kind, mein Kind!“ Und jedesmal, wenn dieses Wort an ihr Ohr klang, während er am breiten, weißgedeckten Tisch saß und in ein Buch vertieft war, schaute sie von der Küche aus so liebevoll, so innig auf ihn, bis Tränen in ihre Augen traten. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken: ihren Abraham. Die Zeit schien ihr ungewöhnlich schnell zu gehen. Früher pflegte sie manchmal das Schlagen der Uhr zu überhören, doch jetzt vernahm sie jedes Ticken und beklagte jede Minute, die verging, denn mit Angst sah sie den Dienstag sich nähern, an dem Abraham abfahren wollte.

David war durch seinen Gast nicht weniger beglückt, aber die Zweifel an der Zukunft seines Kindes verstörten ihm die Freude.

Abraham hatte sich mit ihm freilich deutlich darüber ausgesprochen; allein er hatte nicht alles begriffen. Gern hätte er manche Frage gestellt, aber er fürchtete, es könnte seinem Sohne wehtun, falls auch er solche Zweifel hegte. Abraham hatte erzählt, er sei an einer sehr bedeutenden Zeitschrift als Kunstkritiker angestellt und verdiene soviel, daß er auch seine Eltern unterstützen könne. Kunstkritiker sein, sagte er, hieße Bilder und andere Kunstwerke beurteilen.

Ueber dies alles grübelte David nach, während er, wie gewöhnlich an freien Tagen, vor einem Psalm= oder Mischnahbuch saß. Er beurteilt Bilder und andere Kunstwerke für die Zeitung! 2 Sein Geist blieb bei dem Wort „Bilder“ haften, dies begriff er. In R. gibt es auch Bilder zu verkaufen. Dieser Begriff ruft immer etwas Fremdes, Kaltes in ihm hervor. Er sah sie oft im Vorübergehen in dem Schaufenster des nichtjüdischen Buchhändlers. Darunter befanden sich aber auch solche, die von der christlichen Religionsgeschichte handelten, und er wandte den Blick ab, wenn er unwillkürlich dahingeschaut hatte. Und Abraham beurteilt Bilder! Mitleid mit seinem Kinde zerriß ihm das Herz. Dazu mußte er soviel lernen, soviel studieren! Und wie kann eine solche Beschäftigung wohl einträglich sein? Der Buchhändler handelt ja mit Bildern, besitzt so viele und ist dennoch so arm, daß er immer noch für den Rock schuldet, den er ihm gemacht hat.

Es war einer der heißen Frühherbsttage, an dem die schon entkräftete Natur eine Schwäche empfinden läßt, als könnte sie die glühenden Sonnenstrahlen nicht mehr ertragen. Man glaubt, daß die drückende Hitze nicht auf allem lastet, sondern daß die Sonne aus dem Innern alles Wesens herausglüht und allem einen müden, leidenden Ausdruck verleiht. Die lehmige Landstraße erscheint wie ein kupferner heißer Kessel, wie von innen erhitzt auch der gelbgebrannte Rasen, und aus dem kränklichen, schon blassen Grün der Bäume schauen die einzelnen gelben Blätter wie müde gequälte Augen.

In einem Bauernwagen, gebettet auf frischem Heu, fuhren die drei bis zum Njemen. Dann nahmen sie den Dampfer nach dem nächstliegenden Dorfe, wo Abraham die Eltern eines Freundes besuchen wollte.

Als sie auf dem Rückwege den Dampfer verließen, war die Sonne schon im Sinken. Schweigsam gingen sie heimwärts am Strom entlang, und da sie an einen Wald gelangten, der sich unmittelbar am Ufer erhob, ließen sie sich auf das Moos nieder, um ein wenig zu ruhen.

Kein Windhauch regte sich und doch erfüllte die Luft eine feuchte Kühle und erfrischte die ermattete Natur. Der Njemen floß ruhig dahin und schien bewegungslos, glatt wie ein Spiegel, nur in der Ferne hörte man ein schwaches Gemurmel. Und während er röter und glühender wurde, je näher er den Flammen im Westen kam, kroch eine schwache Dunkelheit langsam von Osten heran, die Glut immer dämpfend; sie vereinigte sich mit dem Dunkel, das zwischen den Bäumen hervorquoll, und breitete sich über den Boden aus, immer höher, immer dichter, die Stämme allmählich verschlingend. Die Berge in der Ferne wechselten ihre Purpurkappen in graue und traten schärfer am noch erleuchteten Himmel hervor.

Der friedliche Abschied des Tages weckte in dem alten Schneider ein bisher nicht gekanntes Gefühl. Zuerst hatte die ungewohnte Umgebung etwas Entfremdendes für ihn, als ob sie sich fern von seiner Empfindung halten wollte, und es war ihm zumute, wie einem Bettler in einem geschmückten Saal zwischen geputzten, ihm unbekannten Gästen. Doch allmählich kam alles in der Dämmerung seinem Gemüte näher und er fühlte auf einmal sein ganzes Wesen harmonisch mit der Natur vereint: alles war ihm lieb, alles war ihm teuer.

Die schweren Gedanken und Sorgen, die er wie eine zusammengeballte Last auf seinem Herzen fühlte, lösten sich auseinander. Sie schwebten nur noch vor seinem Geiste, aber sie quälten ihn nicht; er atmete leicht und frei. Ein Schauer durchströmte ihn und es war ihm feierlich zumute, wie am Jomkippurabend in der hellerleuchteten Synagoge.

Sein Geist blieb jedoch nicht lange bei der Wirklichkeit. Aus verworrenen Vorstellungen tauchte eine enge Dachstube auf, mit nackten Wänden; in der Mitte nur ein halb zerbrochener Tisch, darauf eine brennende Kerze. Sie beleuchtete das blasse, halb verhungerte Gesicht seines Abraham, das einem dicken, deutsch geschriebenen Buche zugewandt war.

Er erschrak über dieses Bild, fuhr auf und wandte sich schnell seinem Sohne zu, der sinnend zwischen ihm und seiner Frau saß. Sein Herz preßte sich zusammen, er fühlte, wie seine Augen heiß wurden, als müßte er weinen. Mit seiner zitternden, mageren Hand ergriff er die seines Kindes und drückte sie innig.

Abraham spürte die innere Erregung seines Vaters und empfand, daß dieser Moment geeignet sei, mit ihm über seinen Beruf zu sprechen.

„Vater,“ sagte er, „hast du mich in dieser Stunde lieber als sonst?“

„Ja, mein Kind, mein Herz ist übervoll.“

„Siehst du, Vater, so wirkt die Natur. In ihrer Nähe werden alle unsere Empfindungen groß und mächtig, daß wir hinauswachsen über uns selbst, sogar über unsere Leiden. Wir alle brauchen die Natur, wir alle empfinden sie, bewußt oder unbewußt.“

„Mein Kind, du hast mich mit deinem Besuch glücklich gemacht, aber wenn ich an deinen Beruf, an deine Zukunft denke … Nach so langem Studieren und Leiden wollte ich, daß du der Welt nützest, daß man dich nötig hätte.“

„Ich habe ja einen sehr guten Beruf, ich bin Kunstkritiker, wie ich es dir schon erzählt habe. Es ist wahr, daß nicht alle Menschen die Kunst brauchen, aber viele haben sie nötig wie die Natur selbst; sie ist ihrer Seele so wichtig, wie dem kranken Körper die Medizin. Vielleicht würdest du es verstehen, wenn ich dir ein solches Kunstwerk zeigen könnte. Fremd war dir auch die Natur und doch fühlst du jetzt, wie sie dich verändert und beglückt.“

David verstand auch jetzt nicht alles, was sein Sohn ihm sagte, doch heute empfand er eine Wahrheit, die er zwar nicht ganz begriff, von der aber sein Sohn überzeugt war.

Unterdessen war der Abend ganz herausgebrochen und löste alles in sich auf. Nur auf der Wasserfläche zitterte der Mond und bei dem matten Scheine las Abraham ein Zugeständnis und eine Beruhigung in den leuchtenden Blicken seines Vaters.

Ein leichter Wind rauschte durch die Bäume und brachte von ferne eine kräftige Stimme mit sich. Es war der Bauer, der mit dem Wagen sie abzuholen kam. (Isr. Familienbl.) 

➥ Zur Biographie: Max I. Salzberg

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 46 vom 18.11.1910, S. 1ff

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Es war an einem Donnerstag nach dem Markte. Die Bauern und die Händler, die sich den ganzen Tag zwischen den beladenen Wagen, Buden, Tieren und den mannigfaltigsten Waren rufend, schreiend, herumgetummelt hatten, zogen sich zurück. Mit ihnen verschwand auch der Lärm und nur der schwere, stickende Geruch, der aus den verödeten, schmutzigen Gassen aufstieg, verriet noch vom Leben und Treiben des Tages.

Es schlug Mitternacht; die trüben Petroleumlaternen wurden ausgelöscht und das Städtchen R. verschwand in der Dunkelheit. Die Knarren der Nachtwächter hallten in der Dunkelheit.

Nur bei David, dem Schneider, war noch Licht. Auf dem breiten Arbeitstisch, zwischen den Geräten, brannte die niedrige Blechlampe, die man noch häufig in Russisch-Polen sieht. Der bauchige Zylinder war stark eingeräuchert und oben ausgebrochen; darüber hing ein Stück gelbes Papier, das als Schirm diente.

Der greise Schneider saß gebückt über einer grauen Bauernkutte und nähte. Auf dem Kopfe trug er ein kleines Käppchen; seine in Eisendraht eingefaßte Brille, an einer Seite mit einem Bindfaden am Ohr befestigt, war bis zur Nasenspitze heruntergerutscht.

Es geschah oft genug, daß der alte David die Nacht von Donnerstag auf Freitag durcharbeitete. Doch diesmal schien er aus einem anderen Grunde zu wachen, denn langsam stach die Nadel in die graue Leinwand. Zuweilen legte er sogar die Arbeit in den Schoß, nahm das aufgeschlagene Psalmbuch, das neben ihm lag und überflog einige Seiten, mit den Augen diesmal über die Gläser hinwegschauend. Doch auch dabei blieb er nicht lange. Unwillkürlich, während seine Lippen langsam die heiligen Worte sprachen, richtete er seinen Blick nach dem kleinen Fenster und seine Gedanken wagten sich weit in die Dunkelheit hinaus. Sie irrten in unbekannte Gegenden, suchten und forschten, als verfolgten sie jemanden, bis ihn ein tiefer Seufzer aus seiner eigenen Brust aufweckte; dann setzte er das Nähen wieder fort.

Auch seine Frau, Lea, wachte. Sie saß auf der Bank neben dem Ofen und putzte eifrig die Messingleuchter, als ob sie heute gar nicht von sechs Uhr morgens bis zum Abend auf dem Markte gewesen wäre.

Eine Unruhe schien den ganzen Raum zu durchzittern. Die neue, weiße Gardine, welche die Stube in der Mitte teilte, das blitzernde Kupfergeschirr auf dem Regal vereinigten sich mit der Flamme der Lampe und füllten den Raum mit einem eigentümlichen, weichen, unbestimmten Lichte, in dem alles sein gewöhnliches Aussehen vertauscht in ein edleres, feierliches. Der Kater, der zusammengerollt auf dem Ofen schlief, fuhr zuweilen auf, sah sich um und sprang dann mit einem Satz auf den Boden; dort blieb er stehen, schaute nach der Tür und auf seinen Herrn, miaute und kletterte dann zurück auf seinen Platz.

So verstrich die halbe Nacht, ohne daß die beiden Alten ein Wort miteinander sprachen, und doch beschäftigte beide derselbe Gedanke. Beide bebten in derselben Ungeduld, beider Herzen begannen schneller zu schlagen, sobald sich das mindeste Geräusch hören ließ.

Sie erwarten ihren Jüngsten. Ein paar Tage vorher war ein Brief aus Berlin gekommen, in welchem Abraham mitteilte, daß er sein Studium beendet hätte und daß er zum Sonnabend nach R. kommen würde, um seine Eltern zu besuchen.

Der Apotheker, zu dem man den Brief hingetragen hatte, damit er die deutschen Wörter, die oben auf dem Briefbogen gedruckt waren, vorlese, sagte: Abraham sei ein Doktor, und dieses Wort machte die Armen Eltern schwindlig. Freilich, fügte der Apotheker noch das Wort „der Philosophie“ hinzu; sie verstanden ihn aber nicht, und was sollten sie auch damit. Ihr Kind ein Doktor! Mit Stolz sahen sie schon im Geiste, wie alle Kranken ihres Städtchens sich drängten; jeder will schneller an ihren Sohn herankommen und jeder segnet ihn laut und überschüttet auch sie mit tausend Wünschen.

David, der einst gehofft hatte, in seinen Sohn einen großen Rabbiner zu sehen, und der bisher noch immer einen Groll gegen ihn gehegt, weil er das Talmudstudium verlassen hatte, verzieh ihm jetzt und wartete ungeduldig, ihn endlich wieder in seine Arme schließen zu können.

Endlich, bei Anbruch des Tages, hielt ein Wagen vor der Tür. Abraham war bei seinen Eltern.

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Davids Gesicht verfinsterte sich, als er vernahm, daß Abraham kein Mediziner sei. Die Mitteilung zerstörte nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt aller Segenswünsche der Kranken zu sehen, sondern sie erweckte auch in ihm Zweifel und Sorgen. In der Nähe seines Kinder jedoch gelang es ihm, sie zeitweilig zu vergessen.

Die alte Lea war auch anfänglich betroffen, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn keine Kranken behandelte. Sie beruhigte sich jedoch bald. Sie sah ihr Kind in ihrem Hause und mehr brauchte sie nicht. Sie hörte ja wieder nach so langer Zeit den Namen „Mutter“, und begann ihr Atem zu stocken und ihre Lippen flüsterten leise: „Mein Kind, mein Kind!“ Und jedesmal, wenn dieses Wort an ihr Ohr klang, während er am breiten, weißgedeckten Tisch saß und in ein Buch vertieft war, schaute sie von der Küche aus so liebevoll, so innig auf ihn, bis Tränen in ihre Augen traten. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken: ihren Abraham. Die Zeit schien ihr ungewöhnlich schnell zu gehen. Früher pflegte sie manchmal das Schlagen der Uhr zu überhören, doch jetzt vernahm sie jedes Ticken und beklagte jede Minute, die verging, denn mit Angst sah sie den Dienstag sich nähern, an dem Abraham abfahren wollte.

David war durch seinen Gast nicht weniger beglückt, aber die Zweifel an der Zukunft seines Kindes verstörten ihm die Freude. Abraham hatte sich mit ihm freilich deutlich darüber ausgesprochen; allein er hatte nicht alles begriffen. Gern hätte er manche Frage gestellt, aber er fürchtete, es könnte seinem Sohne wehtun, falls auch er solche Zweifel hegte.

Abraham hatte erzählt, er sei an einer sehr bedeutenden Zeitschrift als Kunstkritiker angestellt und verdiene soviel, daß er auch seine Eltern unterstützen könne. Kunstkritiker sein, sagte er, hieße Bilder und andere Kunstwerke beurteilen.

Ueber dies alles grübelte David nach, während er, wie gewöhnlich an freien Tagen, vor einem Psalm= oder Mischnahbuch saß. Er beurteilt Bilder und andere Kunstwerke für die Zeitung! Sein Geist blieb bei dem Wort „Bilder“ haften, dies begriff er. In R. gibt es auch Bilder zu verkaufen. Dieser Begriff ruft immer etwas Fremdes, Kaltes in ihm hervor. Er sah sie oft im Vorübergehen in dem Schaufenster des nichtjüdischen Buchhändlers. Darunter befanden sich aber auch solche, die von der christlichen Religionsgeschichte handelten, und er wandte den Blick ab, wenn er unwillkürlich dahingeschaut hatte. Und Abraham beurteilt Bilder! Mitleid mit seinem Kinde zerriß ihm das Herz. Dazu mußte er soviel lernen, soviel studieren! Und wie kann eine solche Beschäftigung wohl einträglich sein? Der Buchhändler handelt ja mit Bildern, besitzt so viele und ist dennoch so arm, daß er immer noch für den Rock schuldet, den er ihm gemacht hat.

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Es war einer der heißen Frühherbsttage, an dem die schon entkräftete Natur eine Schwäche

empfinden läßt, als könnte sie die glühenden Sonnenstrahlen nicht mehr ertragen. Man glaubt, daß die drückende Hitze nicht auf allem lastet, sondern daß die Sonne aus dem Innern alles Wesens herausglüht und allem einen müden, leidenden Ausdruck verleiht. Die lehmige Landstraße erscheint wie ein kupferner heißer Kessel, wie von innen erhitzt auch der gelbgebrannte Rasen, und aus dem kränklichen, schon blassen Grün der Bäume schauen die einzelnen gelben Blätter wie müde gequälte Augen.

In einem Bauernwagen, gebettet auf frischem Heu, fuhren die drei bis zum Njemen. Dann nahmen sie den Dampfer nach dem nächstliegenden Dorfe, wo Abraham die Eltern eines Freundes besuchen wollte.

Als sie auf dem Rückwege den Dampfer verließen, war die Sonne schon im Sinken. Schweigsam gingen sie heimwärts am Strom entlang, und da sie an einen Wald gelangten, der sich unmittelbar am Ufer erhob, ließen sie sich auf das Moos nieder, um ein wenig zu ruhen.

Kein Windhauch regte sich und doch erfüllte die Luft eine feuchte Kühle und erfrischte die ermattete Natur. Der Njemen floß ruhig dahin und schien bewegungslos, glatt wie ein Spiegel, nur in der Ferne hörte man ein schwaches Gemurmel. Und während er röter und glühender wurde, je näher er den Flammen im Westen kam, kroch eine schwache Dunkelheit langsam von Osten heran, die Glut immer dämpfend; sie vereinigte sich mit dem Dunkel, das zwischen den Bäumen hervorquoll, und breitete sich über den Boden aus, immer höher, immer dichter, die Stämme allmählich verschlingend. Die Berge in der Ferne wechselten ihre Purpurkappen in graue und traten schärfer am noch erleuchteten Himmel hervor.

Der friedliche Abschied des Tages weckte in dem alten Schneider ein bisher nicht gekanntes Gefühl. Zuerst hatte die ungewohnte Umgebung etwas Entfremdendes für ihn, als ob sie sich fern von seiner Empfindung halten wollte, und es war ihm zumute, wie einem Bettler in einem geschmückten Saal zwischen geputzten, ihm unbekannten Gästen. Doch allmählich kam alles in der Dämmerung seinem Gemüte näher und er fühlte auf einmal sein ganzes Wesen harmonisch mit der Natur vereint: alles war ihm lieb, alles war ihm teuer.

Die schweren Gedanken und Sorgen, die er wie eine zusammengeballte Last auf seinem Herzen fühlte, lösten sich auseinander. Sie schwebten nur noch vor seinem Geiste, aber sie quälten ihn nicht; er atmete leicht und frei. Ein Schauer durchströmte ihn und es war ihm feierlich zumute, wie am Jomkippurabend in der hellerleuchteten Synagoge.

Sein Geist blieb jedoch nicht lange bei der Wirklichkeit. Aus verworrenen Vorstellungen tauchte eine enge Dachstube auf, mit nackten Wänden; in der Mitte nur ein halb zerbrochener Tisch, darauf eine brennende Kerze. Sie beleuchtete das blasse, halb verhungerte Gesicht seines Abraham, das einem dicken, deutsch geschriebenen Buche zugewandt war.

Er erschrak über dieses Bild, fuhr auf und wandte sich schnell seinem Sohne zu, der sinnend zwischen ihm und seiner Frau saß. Sein Herz preßte sich zusammen, er fühlte, wie seine Augen heiß wurden, als müßte er weinen. Mit seiner zitternden, mageren Hand ergriff er die seines Kindes und drückte sie innig.

Abraham spürte die innere Erregung seines Vaters und empfand, daß dieser Moment geeignet sei, mit ihm über seinen Beruf zu sprechen.

„Vater,“ sagte er, „hast du mich in dieser Stunde lieber als sonst?“
„Ja, mein Kind, mein Herz ist übervoll.“
„Siehst du, Vater, so wirkt die Natur. In ihrer Nähe werden alle unsere Empfindungen groß und

mächtig, daß wir hinauswachsen über uns selbst, sogar über unsere Leiden. Wir alle brauchen die Natur, wir alle empfinden sie, bewußt oder unbewußt.“

„Mein Kind, du hast mich mit deinem Besuch glücklich gemacht, aber wenn ich an deinen Beruf, an deine Zukunft denke … Nach so langem Studieren und Leiden wollte ich, daß du der Welt nützest, daß man dich nötig hätte.“

„Ich habe ja einen sehr guten Beruf, ich bin Kunstkritiker, wie ich es dir schon erzählt habe. Es ist wahr, daß nicht alle Menschen die Kunst brauchen, aber viele haben sie nötig wie die Natur selbst; sie ist ihrer Seele so wichtig, wie dem kranken Körper die Medizin. Vielleicht würdest du es verstehen, wenn ich dir ein solches Kunstwerk zeigen könnte. Fremd war dir auch die Natur und doch fühlst du jetzt, wie sie dich verändert und beglückt.“

David verstand auch jetzt nicht alles, was sein Sohn ihm sagte, doch heute empfand er eine Wahrheit, die er zwar nicht ganz begriff, von der aber sein Sohn überzeugt war.

Unterdessen war der Abend ganz herausgebrochen und löste alles in sich auf. Nur auf der Wasserfläche zitterte der Mond und bei dem matten Scheine las Abraham ein Zugeständnis und eine Beruhigung in den leuchtenden Blicken seines Vaters.

Ein leichter Wind rauschte durch die Bäume und brachte von ferne eine kräftige Stimme mit sich. Es war der Bauer, der mit dem Wagen sie abzuholen kam. (Isr. Familienbl.)

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